Restaurant »Erdblick«

In dem Moment, wo Martin Humphries Kris Cardenas sah, erkannte er, dass sie von Schuldgefühlen geplagt wurde. Das würde er sich zunutze machen. Die Wissenschaftlerin sah so aus, als ob sie in letzter Zeit nicht gut geschlafen hätte; sie hatte dunkel geränderte Augen und einen verdrießlichen Gesichtsausdruck.

Er erhob sich, als der Empfangschef sie an den Tisch führte und lächelte, als der dunkel gekleidete Mann den Stuhl für Cardenas zurechtrückte. Cardenas erwiderte das Lächeln nicht.

»Das schönste Restaurant im Umkreis von vierhundert Millionen Kilometern«, sagte Humphries mit einer ausladenden Geste.

Das war ein alter Scherz in Selene. Das ›Erdblick‹ war das einzige Restaurant auf dem Mond, das diese Bezeichnung auch verdiente. Die beiden anderen ›Futterkrippen‹ waren bessere Imbissbuden. Vor zehn Jahren hatte die Yamagata Corporation in Selene ein erstklassiges Touristenhotel mit einem Fünf-Sterne-Restaurant eröffnet. Yamagata musste das Restaurant jedoch schließen, als der Tourismus wegen der Erderwärmung praktisch zum Erliegen kam. Nun schickten sie die paar Gäste ins ›Erdblick‹.

Immerhin war Cardenas angemessen gekleidet, wie Humphries feststellte. Sie trug ein ärmelloses moosgrünes Kleid, das mit geschmackvollen Goldapplikationen verziert war. Aber sie machte ein Gesicht, als hätte sie sich zu einer Beerdigung eingefunden anstatt zu einem gediegenen Dinner.

Ohne Umschweife beugte sie sich so weit über den Tisch, dass sie fast Körperkontakt mit Humphries bekam. »Sie müssen sie warnen«, flüsterte sie eindringlich.

»Dafür ist noch reichlich Zeit«, sagte er leichthin. »Entspannen Sie sich und genießen Sie das Essen.«

Das ›Erdblick‹ war in jeder Hinsicht ein ausgezeichnetes Restaurant. Das Personal war jung bis auf den steifen und formellen Empfangschef, der dem Etablissement ein gediegenes Flair vermittelte. Das Restaurant war vier Ebenen unter der Oberfläche aus dem Mondgestein gehauen worden und verdankte seinen Namen den breiten Panoramafenstern, die eine Aussicht von der Mondoberfläche simulierten. Man hatte fast den Eindruck, eine Aussicht auf den öden, minimalistisch schönen Boden des großen Alphonsus-Kraters zu haben. Die Erde stand immer am dunklen Himmel. Sie hing dort wie ein glühendes blau-weißes Juwel, das sich periodisch veränderte und doch immer präsent war.

Im Restaurant ›Erdblick‹ waren keine Roboter zu sehen, obwohl die Speise- und Weinkarte auf Monitoren angezeigt wurden, die in die Tischplatten integriert waren. Anstelle von Tischdecken standen die Gedecke auf Platzdecken aus einem glänzenden Wabenkern-Mondmetall, das so dünn und weich wie Seide war.

Humphries bestellte Wein bei ihrem Ober. Als der junge Mann sich vom Tisch abwandte, beugte Cardenas sich wieder nach vorn und flüsterte: »Sofort! Sagen Sie es ihnen sofort! Je eher sie es wissen, desto schneller können sie darauf reagieren.«

Er musterte sie. Anscheinend sind die Nanobots in ihrem Blutkreislauf nicht imstande, die Folgen des Schlafmangels zu kompensieren. Oder vielleicht hat sie auch Albträume. Sie hat einen ausgewachsenen Schuldkomplex entwickelt, das steht jedenfalls fest.

»Wir waren übereingekommen, Dr. Cardenas«, sagte er leise, »dass wir sie warnen würden, sobald sie die Peripherie des Gürtels erreichen. Das wird aber erst in anderthalb Tagen der Fall sein.«

»Ich will aber, dass Sie sie jetzt warnen«, insistierte sie. »Es ist mir egal, was wir vereinbart haben.«

»Ich befürchte, dazu bin ich nicht in der Lage«, sagte Humphries mit einem unmerklichen Kopfschütteln. »Wir müssen uns an den Plan halten.«

»Ich muss verrückt gewesen sein, dass ich dem überhaupt zugestimmt habe«, zischte Cardenas.

»Aber Sie haben zugestimmt«, sagte Humphries. »Langfristig werden Sie froh darüber sein.«

Es war so leicht gewesen, sie rumzukriegen. Humphries hielt es für eins seiner größten Talente, die Schwachstellen in der Persönlichkeit anderer Menschen zu finden und auf der Klaviatur dieser Schwächen zu spielen, um seine Ziele zu erreichen. Es hatte bei Dan Randolph mit seinem lächerlichen Kreuzzug zur Rettung der Erde funktioniert. Es hatte bei Dr. Cardenas mit ihrem brennenden Hass auf die Erde und die Leute funktioniert, die sie von ihrem Mann und ihrer Familie getrennt hatten.

Der Wein kam. Humphries kostete ihn und ließ ihn zurückgehen. Mit dem Wein war eigentlich alles in Ordnung, doch Humphries hatte das Bedürfnis, sich dicke zu tun. Subtil. Cardenas hat wahrscheinlich keine Ahnung davon, was Sache ist — jedenfalls nicht auf der bewussten Ebene, sagte er sich. Aber im tiefsten Innern muss sie wissen, dass ich hier den Ton angebe. Ich treffe die Entscheidungen. Ich gewähre die Belohnungen und verhänge die Strafen.

Sie saß wortlos da, während der düpierte Ober den Wein fortbrachte und umgehend mit einer anderen Flasche erschien. Humphries verkostete den Wein. Er war nicht einmal so gut wie der erste, aber Humphries hatte sein Image gepflegt.

Sie bestellten das Essen. Cardenas stocherte nur lustlos auf dem Teller herum. Humphries ließ es sich schmecken. Fast genoss er sogar Cardenas' Unbehagen.

Nachdem der Ober das Dessert serviert und sich vom Tisch entfernt hatte, sagte Cardenas schließlich: »Gut, wenn Sie es ihnen nicht sagen wollen, dann werde ich es eben tun.«

»Das hatten wir aber nicht abgemacht«, sagte Humphries gepresst.

»Zum Teufel mit unserer Abmachung! Ich weiß gar nicht, wieso ich mich von Ihnen dazu habe überreden lassen.«

»Sie haben sich von mir dazu überreden lassen, weil ich imstande bin, Sie unter falschem Namen nach Kalifornien zurückzubringen und durch die Einwanderungsbehörde und den Zoll zu schleusen, um Ihnen ein Wiedersehen mit Ihren Kindern und Enkelkindern zu ermöglichen. Sie haben sogar die Möglichkeit, Ihren Ex-Mann zu besuchen.«

»Er hat wieder geheiratet«, sagte sie bitter. »Es hat keinen Sinn, sein Leben noch mehr zu komplizieren, als ich es ohnehin schon getan habe.«

Humphries lächelte beinahe. Sie ist wirklich voll auf dem Schuld-Trip, sagte er sich.

»Aber Ihre Enkelkinder«, lockte er. »Sie wollen sie doch sehen, nicht wahr? Wenn Sie es vorziehen, könnte ich es auch arrangieren, dass sie hierher kommen.«

»Ich habe sie schon gefragt, ob sie zu Besuch kommen wollen. Angefleht habe ich sie«, sagte Cardenas. »Aber sie wollten nicht. Sie befürchten, dass ihnen die Wiedereinreise auf die Erde verweigert wird. Dass sie hier im Exil leben müssten wie ich.«

»Ich kann einen Besuch arrangieren«, sagte Humphries. »Außerhalb der normalen Kanäle. Ich garantiere Ihnen, dass sie nach Hause zurückkehren dürfen.«

Er sah neue Hoffnung in ihren Augen aufflackern. »Sie könnten das wirklich tun?«

»Kein Problem.«

Sie saß schweigend da, während das Eis, das es als Dessert gab, langsam schmolz. Humphries löffelte seins und schaute sie erwartungsvoll an.

»Aber Sie wissen doch, wie gefährlich das ist«, platzte sie schließlich heraus. »Sie fliegen am Mars vorbei, um Gottes willen. Dort gibt es keine Rettung für sie.«

»Randolph ist doch kein Narr«, sagte er scharf. »Wenn die Systeme des Schiffs ausfallen, wird er umkehren und hierher zurückfliegen. Ruckzuck.«

»Ich weiß nicht…«

»Und seine Pilotin ist eine Expertin. Sie wird kein Risiko eingehen.«

Cardenas hörte ihm entweder nicht zu, oder sie hatte ihn überhaupt nicht gehört. »Wenn diese Nanos erst einmal aktiv werden«, sagte sie, »dann gibt es kein Halten mehr. Sie werden den Strahlungsschild auseinander nehmen, Atom für Atom, und dann…«

»Dazu werden sie gar keine Zeit haben«, sagte Humphries. »Sie vergessen nämlich, wie schnell die Starpower ist. Sie werden in ein paar Tagen wieder hier sein.«

»Trotzdem…« Cardenas schien alles andere als überzeugt.

»Schauen Sie, ich weiß, dass ich ein schmutziges Spiel mit Randolph treibe«, sagte Humphries betont cool. »Aber so läuft das eben in der Geschäftswelt. Ich will, dass seine Mission scheitert, um seine Firma billig aufzukaufen. Ich will ihn aber nicht umbringen! Ich bin schließlich kein Mörder.«

Noch nicht, sagte er sich. Aber ich werde zum Mörder werden. Und ich werde auch diese Frau zum Schweigen bringen müssen, bevor ihre Schuldgefühle sie dazu treiben, Randolph zu warnen.

Urplötzlich schoss der Gedanke an Amanda ihm durch den Kopf. Doch das bestärkte ihn nur in seiner Entschlossenheit. Er treibt mich dazu, sie zu töten. Randolph verdient es zu sterben. Er zwingt mich dazu, auch Amanda zu töten.

Er blickte über den Tisch auf Kris Cardenas, die wie ein Häufchen Elend dasaß. Wenn ich sie gehen lasse, wird sie Randolph warnen. Sie wird alles ruinieren. Das darf ich nicht zulassen.

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