Martin Humphries erwachte durch das penetrante Schrillen des privaten Telefonanschlusses aus einem Traum von Amanda.
Der Traum hatte aber nicht von Sex gehandelt. Wenn er von Amanda träumte, spielte Sex seltsamerweise nie eine Rolle. Diesmal waren sie auf seiner Jacht und segelten über ein stilles azurblaues Meer. Sie standen am Bug und beobachteten Delphine, die vor der Bugwelle des Schiffs umhersprangen. Er fühlte sich unbehaglich auf dem Wasser und vermochte nicht einmal vor dieser idyllischen Kulisse die Angst vorm Ertrinken abzuschütteln.
Amanda stand an der Reling. Sie trug ein wunderschönes hellblaues Kleid, und die Brise zerzauste ihr das Haar. Sie schaute ihn mit traurigen Augen an.
»Ich werde bald gehen«, sagte sie betrübt.
»Du kannst mich nicht verlassen«, sagte Humphries zu ihr. »Ich werde dich nicht gehen lassen.«
»Ich will auch nicht gehen. Aber man zwingt mich dazu, Darling. Ich muss gehen. Ich habe keine Wahl.«
»Wer?«, fragte Humphries nachdrücklich. »Wer zwingt dich dazu?«
»Du weißt, wer es ist, Liebster«, sagte Amanda. »Du kennst ihn. Du hilfst ihm sogar.«
»Es ist Randolph! Er will dich mir wegnehmen!«
»Ja«, sagte Amanda und flehte ihn mit ihrem Blick an, ihr zu helfen, sie zu retten.
Und dann weckte das verdammte Telefon ihn auf.
Zornig setzte er sich im Bett auf. »Fon!«, rief er. »Auf den Bildschirm.«
Eine Reproduktion einer kubistischen Nackten von Picasso wich dem mürrischen Gesicht seines Sicherheitschefs.
»Es tut mir Leid, dass ich Sie wecke, Sir«, sagte der Mann, »aber Sie sagten, Sie wollten über jede Bewegung von Ms. Cunningham persönlich informiert werden.«
»Wohin, zum Teufel, geht sie um vier Uhr in der Früh?«, fragte Humphries mit einem Blick auf die Digitaluhr auf dem Nachttisch.
»Sie scheint in ihrem Zimmer zu schlafen, Sir, aber…«
»Wieso belästigen Sie mich dann überhaupt?« blaffte Humphries.
Der Sicherheitsmann schluckte sichtlich. »Sir, ihr Name ist soeben auf einer Passagierliste aufgetaucht.«
»Auf einer Passagierliste?«
»Yessir. Sie und drei weitere Personen fliegen in den Orbit zum Raumschiff Starpower.«
»Jetzt gleich? Heute noch?«
»Der Flug ist für acht Uhr geplant, Sir.«
In vier Stunden, sagte Humphries sich. »Und diese Passagierliste ist gerade eben in den Flugplan eingestellt worden?«
»Etwa vor einer Stunde, Sir.«
»Wieso wollen sie gerade zur Starpower I?«, fragte Humphries sich laut.
»Dieses Schiff wird um neun Uhr zu einem Testflug starten, Sir.«
»Das weiß ich«, knurrte Humphries. »Es ist ein unbemannter Langzeitflug.«
»Vielleicht wollen sie das Schiff in letzter Minute ausprüfen, bevor das Schiff den Orbit verlässt.«
»Sie wird von drei Personen begleitet, sagen Sie? Um wen handelt es sich?«
Der Sicherheitschef las die Namen vor. »P. Lane, Pilot; L. Fuchs, Missions-Wissenschaftler. Und C. N. Barnard, Bordarzt.«
»Ich kenne Lane«, sagte Humphries. »Wer sind die anderen zwei?«
»Fuchs ist ein Hochschulabsolvent vom Polytechnischen Institut Zürich. Er ist erst vor ein paar Tagen in Selene eingetroffen. Barnard ist anscheinend eine Art Mediziner.«
»Anscheinend?«
»Er ist ein Astro-Mitarbeiter«, sagte der Sicherheitschef mit gequälter Miene. »Wir haben keine Hintergrunddaten über Barnard, Sir. Auch kein Ausweisfoto. Alles, was wir Astros Daten zu entnehmen vermochten, waren Name und Position sowie die Fingerabdrücke und ein Netzhaut-Scan.«
»Dan Randolph«, knurrte Humphries. »Das ist ein Alias für Randolph.«
»Sir?«
»Gleichen Sie diese Fingerabdrücke und Netzhaut-Scans mit Dan Randolphs Datei ab.«
»Yessir.«
»Und schicken Sie zwei Männer zu Amanda Cunninghams Unterkunft. Die sollen sie dann zu mir bringen.«
»Wird sofort erledigt, Sir.«
Der Wandbildschirm wurde für einen Moment schwarz, und dann erschien wieder das Picasso-Bild. Humphries beachtete es nicht. Er sprang aus dem Bett und knurrte laut: »Dieser abgefuckte Randolph glaubt, er könne zum Gürtel abzischen und Amanda mitnehmen. Da hat er sich aber geschnitten!«
Dan war schon auf und hatte sich eine weiße Fliegerkombi angezogen — die Art von Overall, wie die Angehörigen des medizinischen Personals von Selene ihn trugen. ›C. N. Barnard‹ war eine der falschen Identitäten, die er in Astros Personaldateien gespeichert hatte. Das war eine bewährte Praxis aus den Tagen, als er noch seine ganze Kraft in den Aufbau des Unternehmens gesteckt hatte. Außerdem hatte er noch immer unter verschiedenen Decknamen ein paar Bankkonten mit moderatem Guthaben auf der Erde verstreut; nur für den Fall, dass er einmal für eine Weile untertauchen musste.
Er grinste, als er zum Tunnel aufbrach, der zum Raumhafen führte. Also werde ich für eine Weile verschwinden und mich aus dem Erde-Mond-System in den Asteroidengürtel verziehen. Die IAA wird im Dreieck springen, wenn sie herausfindet, dass wir an Bord der Starpower I sind. Und Humphries wird einen Rappel kriegen.
Astros Aktien müssten in die Höhe schießen, wenn wir die Schürfrechte an ein paar schönen, ergiebigen Asteroiden anmelden. Sollen die Anwälte sich mit den Details befassen, aber hochwertiges Erz im Wert von ein paar Milliarden Dollar wird die Warenterminbörsen in Tollhäuser verwandeln. Und öffentlichkeitswirksam ist es obendrein.
Das Grinsen verging ihm aber, als er den Tunneleingang erreichte. Ein Elektrowagen stand für den Transport zum Raumhafen bereit, aber es waren weder Pancho noch Amanda zu sehen. Bei allen Teufeln der Hölle, wütete Dan. Wir waren um Punkt Fünf hier verabredet. Weiber!
»Komm schon, Mandy«, drängte Pancho. »Dan wartet vielleicht schon auf uns.«
»Noch eine Minute«, sagte Amanda aus dem Bad. »Ich muss nur noch…«
Jemand klopfte heftig an die Tür.
»Verdammt!«, sagte Pancho.
Amanda kam aus dem Bad. »Ich bin fertig, Pancho. Tut mir Leid, dass du warten musstest.«
Pancho öffnete die Tür. Anstelle von Dan Randolph standen zwei Fremde draußen im Gang. Es handelte sich um Männer in identischen dunkelgrauen Geschäftsanzügen. Der eine hatte langes blondes Haar und einen schönen Vollbart, der andere war ein größerer Dunkelhaariger mit einem militärischen Bürstenhaarschnitt. Beide waren breitschultrig und verzogen keine Miene. Pancho hielt sie für Polizisten.
Scheiße!, sagte Pancho sich. Sie wissen, dass ich in den Flugplan gehackt habe.
Doch der Blonde sagte: »Amanda Cunningham? Bitte kommen Sie mit uns.«
Pancho wies mit dem Daumen über die Schulter. »Das ist sie. Und sie wird mit Ihnen nirgendwo hingehen. Wir kommen eh schon zu spät zur Arbeit.«
Sie drängten sich an Pancho vorbei und betraten den Raum. »Sie werden mit uns kommen müssen, Ms. Cunningham«, sagte der Blonde.
»Und wieso? Auf wessen Anordnung?«
»Mr. Humphries will Sie sprechen«, sagte der Stoppelkopf. Sein Partner schaute ihn mit gerunzelter Stirn an.
»Nun warten Sie mal…«, sagte Pancho.
»Mischen Sie sich nicht ein«, sagte der Blonde scharf. »Unser Befehl lautet, Ms. Cunningham in Mr. Humphries' Residenz zu bringen. Den werden wir auch ausführen.«
»Ruf den Sicherheitsdienst, Mandy«, sagte Pancho. »Diese Typen arbeiten für Humphries.«
Amanda wollte ums Bett zum Telefon gehen, das auf dem Nachttisch zwischen den beiden Betten stand, aber der Blonde stellte sich ihr in den Weg.
»Wir wollen keine Gewalt anwenden«, sagte er zu Amanda, »aber wir haben einen Auftrag auszuführen und werden ihn auch ausführen.«
Sie starrte die beiden mit großen Augen und einer Mischung aus Verwirrung und Entsetzen an.
Der Blonde machte noch einen Schritt auf Amanda zu. »Komm schon mit, Süße. Wir wollen niemandem wehtun.«
Mandy wich stolpernd vor ihm zurück. Pancho sah, das beide Männer sich auf Amanda konzentrierten. Sie bückte sich und wickelte Elly vom Knöchel ab.
»Guck mal, du Pappnase«, sagte Pancho und schleuderte die metallic-blaue Schlange gegen den Blonden.
Er drehte sich um und sah den Krait in Mond-Zeitlupe auf sein Gesicht zufliegen. Instinktiv hob er den Arm, um sie abzuwehren.
»Was, zum Teufel…!«
Elly prallte vom Arm des Manns ab und fiel auf den Boden. Dann richtete sie sich auf und zischte zornig.
»Mein Gott, was ist denn das?«
Der mit dem Bürstenhaarschnitt wollte etwas unterm Jacket hervorziehen. Pancho versetzte ihm einen Handkantenschlag in den Nacken, und er ging zu Boden. Elly kroch auf ihn zu. Der Blonde starrte schreckensstarr auf die Schlange.
Pancho bedeutete Amanda, zu ihr zu kommen. Sie ging an dem Blonden, dem fast die Augen aus dem Kopf fielen, vorbei und stellte sich neben Pancho.
Der Typ auf dem Boden stützte sich auf einen Ellbogen und sah die Schlange kaum zehn Zentimeter vorm Gesicht. Sie fixierte ihn mit ihren Knopfaugen.
»Arrrggh«, stöhnte er.
Der Blonde zog eine kleine Pistole aus dem Schulterholster unterm Jacket. Pancho sah, dass seine Hand heftig zitterte.
»Auf Lärm reagiert sie allergisch«, sagte sie. »Sei still und beweg dich nicht.«
Der Blonde schaute sie an und richtete den Blick wieder auf die Schlange. Der Stoppelkopf schwitzte im Angesicht von Elly, die eifrig züngelte.
»T… tun Sie etwas«, flüsterte er heiser.
»Du wirfst die Knarre besser aufs Bett«, sagte Pancho zum Blonden. »Wenn du schießt und sie verfehlst, wird sie ihn mit Sicherheit beißen.«
Pancho bückte sich langsam und vorsichtig über Elly. Doch dann verlor der Stoppelkopf die Nerven. Er hieb nach der Schlange und versuchte aufzustehen. Elly schlug ihm die Giftzähne in die Hand.
Er schrie auf, dann sackte er bewusstlos zu Boden. Pancho bückte sich und hob Elly auf, wobei sie den Krait so fasste, dass er sich nicht zu drehen und sie auch noch zu beißen vermochte.
»Er wird in einer Stunde tot sein, wenn er kein Antiserum bekommt«, sagte Pancho.
Der Blonde starrte seinen Partner hilflos an.
»Bring ihn besser sofort ins Krankenhaus!«, riet ihm Pancho.
Dann nahm sie die Reisetasche, die neben der Waffe des Blonden auf dem Bett lag. Mit Elly in der Hand kramte sie in der Tasche, bis sie die Ampulle mit dem Antiserum fand und warf sie dem Blonden zu.
»Bring ihn sofort ins Krankenhaus! Sag ihnen, was passiert ist und gib ihnen das. Es ist das Antiserum.«
Dann schnappte sie sich die offene Reisetasche und lief zur Tür. Amanda folgte ihr auf dem Fuß und machte dann noch einmal kehrt, um ihr Gepäck zu holen. Während sie zusammen den Gang entlangliefen, schaute Pancho über die Schulter und sah, dass der Blonde seinen Partner in die andere Richtung zum Krankenhaus schleppte.
»Braves Mädchen, Elly«, sagte sie. Der Krait hatte sich wohlig um Panchos Handgelenk geschlungen.
Schließlich erreichten sie den Tunnel zum Raumhafen, wo Dan Randolph zornig auf- und abstiefelte.
»Wo, zum Teufel, habt ihr bloß gesteckt? Wir haben keine Zeit mehr.«
»Ich werde es Ihnen erzählen, Boss«, sagte Pancho, als sie den Wagen bestiegen.
»Es ist Martin«, sagte Amanda mit leiser Stimme.
»Humphries?«, fragte Dan.
»Er will Mandy, und ich glaube, er weiß, dass wir sie hier wegbringen wollen.«
»Was, zum Teufel, ist passiert?«, fragte Dan.
Pancho erzählte es ihm, während der automatisierte Wagen durch den Tunnel zum Raumhafen rollte.
Martin Humphries saß am Schreibtisch und schaute kalt auf das ängstliche Gesicht des blonden Sicherheitsagenten. Der Mann schwitzte und fuhr sich mit der Fingerspitze nervös durch den Bart.
»Dann habt ihr sie also entkommen lassen«, sagte Humphries, nachdem der Mann ihm den Hergang zum dritten Mal geschildert hatte.
»Mein Partner war in Lebensgefahr«, sagte der Blonde mit brüchiger Stimme. »Diese gottverdammte Schlange hatte ihn gebissen.«
»Und Sie haben Ms. Cunningham entkommen lassen«, wiederholte Humphries eisig.
»Sie haben weder mir noch dem Sicherheitsdienst oder sonst jemandem Bescheid gesagt, der sie an der Flucht zu hindern vermocht hätte.«
»Dafür sage ich Ihnen jetzt Bescheid«, sagte der Blonde ungehalten. »Sie werden gleich zur Starpower fliegen. Sie können das Kontrollzentrum anrufen und veranlassen, dass die Mission abgebrochen wird.«
»Kann ich das?«
»Zeit genug hätten Sie noch.«
Humphries unterbrach die Verbindung. Hirnloser Trottel, sagte er sich. Da erteile ich ihm einen leichten Auftrag, und er vermasselt ihn.
»Die Mission abbrechen«, sagte er laut. Dann schüttelte er den Kopf. Ich sollte beim Kontrollzentrum anrufen und ihnen sagen, dass Dan Randolph mein Raumschiff und die Frau, die ich liebe, entführt. Das wäre ein gefundenes Fressen für die Skandal-Provider. Ich würde zum Gespött der ganzen Welt.
Er lehnte sich auf dem Schalensitz zurück, doch diesmal wollte der beruhigende Effekt der weichen Massagepolster sich nicht einstellen. Amanda brennt mit Randolph durch. Er ist wahrscheinlich schon die ganze Zeit scharf auf sie gewesen und hat nur darauf gewartet, sie mir wegzunehmen. Gut, dann sind sie nun zusammen. Sie zieht ihn mir vor. Dann soll sie auch mit ihm sterben.
Er hatte Zahnschmerzen. Erstaunt merkte Humphries, dass er die Zähne so fest zusammengebissen hatte, dass er davon Schmerzen bekam. Nacken und Schultern hatten sich vor lauter Anspannung schmerzhaft versteift. Die Fäuste waren so fest geballt, dass er spürte, wie die Fingernägel sich in die Handflächen gruben.
Amanda ist mit ihm abgehauen. Ich werde Astro übernehmen, aber sie habe ich für immer verloren. Sie werden zusammen sterben. Das ist aber nicht meine Schuld. Ich habe niemanden umbringen wollen. Sie haben es selbst zu verantworten. Sie bringt sich selbst um.
Er hätte weinen mögen. Stattdessen warf er einen Blick auf die Liste der Astro-Großaktionäre, die auf dem Computer-Bildschirm abgebildet wurde. Dann stieß er die rechte Faust in den Monitor, sodass er in einem Schauer aus Funken und Plastiksplittern explodierte.