Das Anwesen der Familie Yamagata war in einer zerklüfteten Hügellandschaft hoch über den Bürotürmen und Wohnblöcken von Kyoto gelegen. Beim Anblick der massiven und doch eleganten Gebäude im Stil einer mittelalterlichen Festung musste Dan an Poesie denken, die zu Formen aus Holz und Stein geronnen war. Er wusste, dass das Anwesen durch die Erdbeben stark in Mitleidenschaft gezogen worden war, aber davon war nichts mehr zu sehen. Die Gebäude waren anhand der Originalpläne meisterlich restauriert worden.
Der größte Teil des Innenhofs wurde von einem penibel gepflegten Sandgarten eingenommen, zu dem es viele grüne Kontrapunkte gab: Gärten und Haine, und in der Ferne fiel der Blick durch hohe alte Bäume auf den See Biwa, der im Licht der Nachmittagssonne glitzerte.
Das Kipprotorflugzeug landete mit kreischenden Turbinen im Außenhof. Dan streifte den Mundschutz ab und löste den Sicherheitsgurt. Er war schon durch die Luke gestiegen, ehe der Pilot die Rotoren abzustellen vermochte. Durch den Staub, der durch die Landung aufgewirbelt worden war, sah Dan Nobuhiko Yamagata am Tor zum Innenhof warten. Er trug einen dunkelblauen, mit weißen Kranichen verzierten Kimono, das Wappenzeichen der Familie Yamagata.
Im ersten Moment glaubte Dan, dass er Saito Yamagata vor sich hatte — Nobuhikos Vater, der Dans Vorgesetzter gewesen war, als Randolph seinerzeit als Bauingenieur auf Japans erstem Kraftwerks-Satelliten gearbeitet hatte. Nobo war in jüngeren Jahren asketisch hager gewesen, doch nun waren sein Gesicht und der Körper deutlich runder geworden. Obwohl das bei seiner Größe nicht sonderlich ins Gewicht fiel, denn er war dreißig Zentimeter größer als sein Vater und überragte auch Dan noch um ein paar Zentimeter.
Die beiden Männer verneigten sich gleichzeitig und fassten sich dann an den Schultern.
»Nobo, es ist schön, dich wieder zu sehen.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, erwiderte Nobuhiko mit einem breiten Grinsen. »Seit deinem letzten Besuch ist schon allzu viel Zeit vergangen.« Seine Stimme war tief, sonor und autoritär.
»Du siehst gut aus«, sagte Dan, während Yamagata ihn durch die blühenden Gärten des Innenhofs zu dem Trakt des alten Stein- und Holzhauses führte, wo die Familie lebte.
»Ich weiß, dass ich zu dick bin«, sagte Nobo und klopfte sich auf den Bauch. »Ich sitze zu viel hinterm Schreibtisch und habe zu wenig Bewegung.«
Dan kommentierte das mit einem mitfühlenden Grunzen.
»Ich spiele mit dem Gedanken, wegen einer Nanotherapie nach Selene zu fliegen.«
»Ach, komm schon, Nobo«, sagte Dan. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht.«
»Die Ärzte nörgeln aber laufend an mir herum.«
»Das tun Ärzte immer. Sie lernen das schon im Studium. Und wenn du noch so gesund bist, sie haben immer etwas an dir auszusetzen.«
Sie gingen einen Weg aus Steinplatten entlang, der sich mitten durch den akkurat gerechten Sandgarten schlängelte. In einer Ecke des Gartens sah Dan das Olivenbäumchen, das er Nobos Vater vor vielen Jahren geschenkt hatte. Es war schön grün und wirkte gesund. Bevor der Klimaumschwung eingesetzt hatte, war der Baum im Frühsommer mit einer beheizten transparenten Kunststoffkuppel abgedeckt worden, um ihn vorm gelegentlichen Nachtfrost zu schützen. Nun waren auch die Winter so mild, dass der Baum das ganze Jahr über im Freien stehen konnte.
»Wie ist der Status deines Vaters?«, fragte Dan, als sie sich an der offenen Tür des Haupthauses die Schuhe auszogen. Zwei stumme Bedienstete standen in der Tür — beides Frauen, beide mit kamelienroten Gewändern bekleidet.
Nobuhiko verzog das Gesicht, als sie den mit Shoji-Trennwänden gesäumten Flur entlanggingen.
»Die Ärzte haben den Tumor entfernt und Vaters Körper von Metastasen befreit. Sie sind bereit, die Wiederbelebungs-Sequenz zu starten.«
»Das ist aber nicht ungefährlich«, sagte Dan.
Vor zehn Jahren hatte Saito Yamagata sich für klinisch tot erklären und in flüssigem Stickstoff einfrieren lassen, um im Kälteschlaf auf den Tag zu warten, da der Krebs besiegt und Saito wieder belebt werden würde.
»Er wäre nicht der Erste, der erfolgreich aufgetaut wird«, sagte Nobo und führte ihn in ein geräumiges Schlafzimmer. Die Wände waren mit Teakholz getäfelt, und der Boden bestand aus gebleichtem Kiefernholz. Das Mobiliar war spärlich: ein Bett im westlichen Stil, ein Schreibtisch in der anderen Ecke und zwei bequeme Liegesessel. Eine Wand bestand aus verschiebbaren Shoji-Trennwänden, hinter denen sich nach Dans Vermutung ein Schrank, eine Kommode und die Toilette verbargen. Dan sah, dass seine Reisetasche schon auf einem Klapphocker am Fußende des Betts stand.
»Trotzdem ist das Auftauen ein Glücksspiel«, sagte er.
Yamagata drehte sich zu ihm um, und Dan sah Saitos braune Augen, die die Selbstsicherheit und die Kraft ausstrahlten, die einem Menschen durch eine lange Abstammungslinie reicher und privilegierter Vorfahren vermittelt werden.
»Wir haben die Forschungen sehr aufmerksam verfolgt«, sagte Nobo mit einem dünnen Lächeln. »Und wir haben die Arbeiten natürlich zum größten Teil auch selbst finanziert. Es scheint jedenfalls möglich zu sein, Vater wieder zu beleben.«
»Das ist großartig!«, platzte Dan heraus. »Sai wird wieder unter uns weilen…«
Nobuhiko hob die Hand. »Es gibt aber noch zwei Probleme, Dan.«
»Welche denn?«
»Einmal gibt es starke politische Kräfte, die ihre Stimme gegen die Wiederbelebung kryogenisch konservierter Personen erheben.«
»Sie erheben die Stimme… im Namen von Peter, Paul und dem fünfbeinigen Grawunkel. Die Neue Moralität schlägt wieder mal zu.«
»Hier in Japan handelt es sich um einen Ableger der Neuen Dao-Bewegung. Sie bezeichnen sich selbst als Sonnenblumen.«
»Sind wohl eher Topfpflanzen«, grummelte Dan.
»Sie verfügen über beträchtliche politische Macht. Genug, um die Nanotechnik in Japan zu ächten, genauso wie die Vertreter der Neuen Moralität sie in den Vereinigten Staaten geächtet haben.«
»Und nun wenden sie sich gegen die Wiederbelebung von Leichen?«
Ein pikiertes Grinsen stahl sich in Yamagatas feierliches Gesicht. »Sehr taktvoll, Dan. Mein Vater ist nämlich auch eine Leiche.«
»Es tut mir Leid, wenn ich deine Gefühle verletzt habe«, sagte Dan mit einer Geste der Entschuldigung.
»Schon gut«, sagte Nobuhiko. »Das Dumme ist nur, dass diese Sonnenblumen versuchen, ein Gesetz durch den Diet zu bringen, das den Kälteschlaf überhaupt verbieten und den Versuch der Wiederbelebung eines gefrorenen Körpers unter Strafe stellen würde.«
»Wieso, um Gottes willen? Mit welcher Begründung?«
Nobuhiko zuckte die Achseln. »Sie fordern, dass die Mittel in den Wiederaufbau der zerstörten Städte investiert werden. Sie sind der Ansicht, dass reiche alte Leute nicht wieder zum Leben erweckt werden müssten und dass wir stattdessen gesunde junge Leute bräuchten, die beim Wiederaufbau Japans mit anpacken.«
»Dummes Geschwätz«, murmelte Dan. Dann hellte seine Miene sich plötzlich auf. »He, jetzt weiß ich, wie du ihnen ein Schnippchen schlagen kannst! Bring deinen Vater nach Selene. Dort wird man ihn wieder beleben. Im Bedarfsfall stehen sogar Nanomaschinen zur Verfügung.«
Nobo setzte sich mit hängenden Schultern aufs Bett. »Daran habe ich auch schon gedacht, Dan. Ich bin wirklich versucht, es zu tun, ehe die Regierung verfügt, dass tiefgekühlte Körper das Land verlassen.«
»Das können sie doch nicht tun.«
»Doch, das werden sie tun, bevor die nächste Sitzung des Diet noch vorbei ist.«
»Zur Hölle und zurück!«, rief Dan und hieb mit der Faust auf die Handfläche. »Ist denn die ganze Welt verrückt geworden?«
»Es gibt noch etwas«, sagte Nobo mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war. »Etwas noch Schlimmeres.«
»Was, um alles in der Welt, könnte denn noch schlimmer sein…?«
»Die Menschen, die wieder belebt wurden — ihr Bewusstsein ist verschwunden.«
»Verschwunden? Was soll das heißen?«
Nobuhiko breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Arme aus und sagte: »Eben verschwunden. Es ist zwar möglich, den Körper wieder zu beleben, aber durchs Einfrieren wird anscheinend das Speichersystem des Gehirns gelöscht. Die Personen, die wir wieder belebt haben, sind auf dem geistigen Stand von Neugeborenen. Sogar die Benutzung der Toilette muss man ihnen wieder beibringen.«
Dan ließ sich in einen gepolsterten Liegesessel sinken. »Du meinst, Sais Bewusstsein… seine Persönlichkeit… alles weg?«
»Genau das ist unsere Befürchtung. Anscheinend zerfallen die neuronalen Verbindungen im Gehirn, wenn der Körper eingefroren wird. Das Bewusstsein wird wie eine Computer-Festplatte quasi neu formatiert.«
»Verdammt«, murmelte Dan.
»Wir haben unsere Wissenschaftler natürlich auf das Problem angesetzt, aber eine Wiederbelebung meines Vaters hat keinen Sinn, solange wir nicht definitiv wissen — auf die eine oder andere Art —, wie sein Bewusstsein durchs Einfrieren in Mitleidenschaft gezogen wurde.«
Dan beugte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Schenkel. »In Ordnung. Ich weiß nun Bescheid. Aber bring Sais Körper trotzdem nach Selene. Sofort! Ehe diese religiösen Fanatiker seine Verlegung verhindern.«
Nobuhiko nickte düster. »Ich glaube, dass du Recht hast, Dan. Im Grunde war ich mir dessen seit einiger Zeit selbst schon bewusst, aber ich bin trotzdem froh, dass du mich noch einmal darin bestärkst.«
»Ich werde nächste Woche nach Selene zurückfliegen«, sagte Dan. »Wenn du möchtest, werde ich ihn mitnehmen.«
»Lieb von dir, aber das ist eine Familienangelegenheit. Ich werde mich selbst darum kümmern.«
Dan nickte. »In Ordnung. Aber wenn du Hilfe brauchst — egal worum es sich handelt —, lass es mich wissen.«
Nobuhiko lächelte wieder, und diesmal strahlte er zum ersten Mal echte Wärme aus. »Das werde ich tun, Dan. Das werde ich ganz bestimmt tun.«
»Gut.«
Nobuhiko rieb sich die Augen und schaute wieder zu Dan hoch. »Ich habe dir also mein Problem geschildert. Und nun erzähl du mir, wo dich der Schuh drückt. Was führt dich her?«
Dan grinste ihn an. »Ach, es ist nur eine Kleinigkeit. Ich brauche nur ein paar Milliarden Dollar.«
Nobo verzog für eine Weile keine Miene. »Ist das alles?«, fragte er dann.
»Ja. Zwei Milliarden müssten genügen.«
»Und was bekomme ich als Gegenleistung für eine solche Investition?«
»Ein paar Raketen«, erwiderte Dan mit einem Lachen.