Dan verfolgte aufmerksam, wie Kris Cardenas den Walzenregler mit einem manikürten Finger bediente und den Blick dabei aufs Display des Rastermikroskops geheftet hatte. Das Bild nahm Gestalt an: Erst war es noch verschwommen und zeichnete sich dann immer schärfer ab.
Das Bild war eine körnige Graustufendarstellung mit einem leichten Grünstich. Dan machte zwei Brennstofftanks mit Leitungen aus, die zu einer sphärischen Kammer führten. Von der andern Seite der Kugel ging ein schmaler gerader Kanal aus, der im glockenförmigen Unterteil einer Rakete mündete.
»Ist das die ganze Konstruktion?«, entfuhr es ihm.
Cardenas drehte sich mit einem strahlenden kalifornischen Lächeln zu ihm um. »Nicht schlecht für einen Monat Arbeit, nicht wahr?«
Dan erwiderte das Lächeln. »Kommt mir aber ziemlich klein vor, oder?«
Sie waren zu dieser nächtlichen Stunde allein im Labor. Die anderen Computerarbeitsplätze waren verlassen, die Räume dunkel, die Deckenlampen auf Nachtlicht heruntergeregelt. Nur in der Ecke, in der Dan und Cardenas auf Drehstühlen saßen, brannten die Lampen mit voller Helligkeit. Die massiven grauen Rohre des Rastermikroskops dräuten wie ein riesiger Roboter über ihnen. Erstaunlich, dass diese große Maschine die Fähigkeit besitzt, einzelne Atome abzubilden, sagte Dan sich.
»Auf die Größe kommt es nicht an«, sagte Cardenas. »Es ist das Muster, das zählt.«
»Toll«, sagte Dan. »Wenn ich ein Team von Bakterien zum Gürtel schicken wollte, hätte das Fusionstriebwerk genau die richtige Größe.«
»Werden Sie nicht albern, Dan.«
»Ich habe doch nur Spaß gemacht.«
Cardenas hatte allerdings keinen Sinn für seine Art von Humor. Sie tippte mit einem hellblau lackierten Fingernagel auf das Display des Mikroskops und sagte: »Wir haben diese Menge von Nanos so programmiert, dass sie die Konfiguration Ihres Fusionssystems verstehen: den Tank, die Reaktorkammer, den MHD-Kanal und die Raketendüse.«
»Und die Leitungen.«
»Ja, und die Leitungen. Wo sie das Muster nun kennen, müssen sie nur noch dahingehend programmiert werden, um die gleiche Konfiguration vollmaßstäblich zu bauen.«
Dan kratzte sich am Kinn. »Und das vollmaßstäbliche Gerät wird die erforderlichen Drücke und Temperaturen aushalten?«, fragte er.
»Es besteht überwiegend aus Diamant.«
Das war aber keine Antwort auf seine Frage, sagte Dan sich. Schon richtig, die virengroßen Nanomaschinen waren in der Lage, einzelne Atome aus Ruß zu isolieren und sie zu Strukturen zusammenzufügen, die die Härte und thermischen Eigenschaften von lupenreinem Diamant hatten.
»Aber wer wird den Job erledigen?«, fragte er Cardenas.
Sie presste die Lippen zu einem Strich zusammen. Offenbar machte ihr irgendetwas zu schaffen.
»Gibt's ein Problem?«, fragte Dan.
»Eigentlich nicht«, sagte Cardenas. »Aber…«
»Aber was? Ich muss es wissen, Kris. Ich riskiere alles bei dieser Sache.«
Sie hob in einer ›Aber-machen-Sie-mir-keinen-Vor-wurf‹-Geste die Hände und sagte: »Es ist Duncan. Er weigert sich, hierher zu kommen. Keins seiner Teammitglieder will die Erde verlassen.«
Dan wusste bereits, dass Duncan, Vertientes und der Rest des Teams es vorgezogen hatten, auf der Erde zu bleiben und elektronisch mit Cardenas und ihren Leuten zu kommunizieren.
»Sie sprechen doch jeden Tag mit ihm, oder?«
»Sicher tun wir das. Wir veranstalten sogar interaktive VR-Konferenzen, sofern man das überhaupt als interaktiv bezeichnen kann.«
»Was ist los?«, fragte Dan besorgt.
»Es ist diese verdammte Drei-Sekunden-Verzögerung«, sagte Cardenas. »Es ist schon unmöglich, ein normales Gespräch zu führen, wenn zwischen Frage und Antwort drei Sekunden liegen — von richtiger Interaktion ganz zu schweigen.«
»Behindert Sie das wirklich bei der Arbeit?«
Sie machte ein Gesicht, das irgendwo zwischen einer Grimasse und einem Schmollmund lag. »Hinderlich ist es in diesem Sinn nicht. Aber es ist so verdammt lästig! Und zeitaufwendig. Manche Punkte müssen wir zwei- oder dreimal durchgehen, nur um uns zu vergewissern, dass wir sie auch richtig gehört haben. Das kostet Zeit und geht den Leuten auf die Nerven.«
Dan dachte darüber nach. »Vielleicht gelingt es mir, sie dazu zu bewegen, hierher zu kommen.«
»Keine Ahnung, wie oft ich das schon versucht habe. Duncan ist ein sturer Hund. Und seine Leute sträuben sich genauso. Sie haben eine Heidenangst vor Nanomaschinen.«
»Nein!«
»Doch. Sogar Professor Vertientes. Man sollte meinen, dass er es in seinem Alter besser wüsste.«
»Sie fürchten sich wirklich vor Nanomaschinen?«
»Das würden sie natürlich nicht zugeben«, sagte Cardenas. »Sie sagen, dass die Behörden ihnen vielleicht die Rückkehr zur Erde verweigerten, wenn sie davon erführen, dass sie mit Nanomaschinen gearbeitet hatten. Ich halte das aber für eine Ausrede; sie haben einfach nur Angst.«
»Vielleicht auch nicht«, sagte Dan. »Diese Erdbürokraten kommen manchmal schon auf seltsame Ideen, vor allem wenn es um Nanotechnik geht. Ich habe jedenfalls keinem auf die Nase gebunden, dass ich mich mit Nanomaschinen beschäftige.«
Sie wölbte die Brauen. »Aber es weiß doch jeder…«
»Jeder weiß, dass Sie und Ihre Leute eine Fusionsrakete mit Nanos bauen. Was die Öffentlichkeit betrifft, so komme ich nicht einmal in die Nähe von Nanomaschinen. Ich bin ein Industriekapitän und mache keine Drecksarbeit. Ich bin auch nie in Ihrem Labor gewesen.«
Cardenas nickte, nachdem sie die neue Lage verstanden hatte. »Deshalb schleichen Sie sich auch mitten in der Nacht hier rein.«
»Ich schleiche mich nirgends rein«, sagte Dan etepetete. »Ich bin gar nicht hier gewesen. Basta.«
»Natürlich«, sagte sie lachend.
»Kris«, sagte er ernst, »ich glaube, dass Duncan und die anderen aus gutem Grund Angst davor haben, hierher zu kommen und mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Ich befürchte, Sie werden auch weiterhin mit dieser Drei-Sekunden-Verzögerung leben müssen. Das ist ihr Sicherheitsnetz.«
Cardenas holte tief Luft. »Wenn's denn sein muss.«
»Sie haben in nur vier Wochen sehr viel erreicht«, stellte Dan fest.
»Das stimmt wohl. Es ist nur so… es wäre um so vieles leichter, wenn wir alle unter einem Dach zusammenarbeiten würden.«
»Ich habe Ihnen nie einen Rosengarten versprochen«, sagte Dan mit einem leisen Lächeln.
Sie setzte gerade zu einer Erwiderung an, als die Tür zum Korridor aufgestoßen wurde und das Licht von draußen ins abgedunkelte Labor fiel. Instinktiv duckte Dan sich hinters große Mikroskop wie ein Junge, der sich vor seiner Mutter versteckt.
Dann erkannte er die mächtige Gestalt des zotteligen, rotbärtigen Big George Ambrose.
»Bist du hier, Dan?«, rief George und ging zwischen den Computerarbeitsplätzen hindurch auf sie zu. »Ben sucht schon überall nach dir, weißte.«
Trotz seiner Größe bewegte George sich leichtfüßig und geschmeidig in der niedrigen Mondgravitation.
»Ich bin nicht da«, grummelte Dan.
»Schon klar. Aber wenn du hier wärst, müsste ich dir sagen, dass Pancho Lane vermisst wird.«
»Sie wird vermisst?«
»Sie ist nicht in ihrer Unterkunft«, sagte George beim Näherkommen. »Auch nicht in den Astro-Büros. Weder auf dem Raumhafen noch auf der Grand Plaza. Ich habe sie nirgends gefunden. Blyleven macht sich schon Sorgen wegen ihr.«
Frank Blyleven war Leiter der Astro-Sicherheitsabteilung. Dan warf einen Blick auf Cardenas und sagte dann zu George: »Sie ist vielleicht in der Unterkunft von jemand anders, weißt du.«
George wirkte erstaunt. »Pancho? Sie hat keinen Freund und geht auch nicht mit jedem ins Bett.«
»Ich würde mir jedenfalls keine Sorgen machen…«
»Sie ist heute auch nicht im Büro erschienen. Sie hat bisher keine einzige Stunde gefehlt, geschweige denn einen ganzen Tag.«
Das stimmte Dan nun doch besorgt. »Sie ist überhaupt nicht aufgetaucht?«
»Ich habe jeden gefragt. Den ganzen Tag hat niemand Pancho gesehen. Ich habe bis in die Nacht nach ihr gesucht. Sie ist spurlos verschwunden.«
»Hast du ihre Zimmergenossin gefragt?«
»Mandy Cunningham? Sie war zum Abendessen bei Humphries.«
»Dann müsste sie aber auch schon zurück sein.«
George grinste anzüglich. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Ich sollte mich wohl besser darum kümmern«, sagte Dan an Cardenas gewandt. »George hat Recht: Pancho hat seit ihrer Ankunft hier überall rumgeschnüffelt.«
»Dann unternimmt sie vielleicht einen kleinen Ausflug«, sagte Cardenas ungerührt.
»Vielleicht«, sagte Dan. Aber er glaubte nicht daran.