Pelican Bar

Pancho hatte den ganzen Tag unsichtbar verbracht.

Am Abend zuvor war sie in die Pelican Bar gegangen. Nach einem langen und arbeitsreichen Tag, den sie mit Studien und Simulationen im Astro-Bürokomplex verbracht hatte, suchte sie ein wenig Entspannung.

Die Bar mit dem für hiesige Verhältnisse unpassenden Namen hatte ein Mann aus Florida eröffnet, den das Heimweh gepackt hatte. Er war in den Tagen nach Selene gekommen, als die Untergrund-Gemeinschaft noch als Mondbasis firmiert hatte. In seiner Eigenschaft als Quartiermeister der Basis hatte er sich Bluthochdruck zugezogen, der ihn so lange an der Rückkehr zur Erde hinderte, bis er den Blutdruck durch ein strenges Regime aus sportlicher Betätigung und medikamentöser Behandlung wieder unter Kontrolle gebracht hatte.

Er schluckte die Pillen, verzichtete dafür auf den Sport und machte die Bar in seiner Privatunterkunft als heimlichen Treffpunkt für seine Zechkumpane auf. Über die Jahre hatte er sich einen ordentlichen Bierbauch angetrunken. Seine Glatze glänzte unter den Deckenleuchten, und im teigigen, tätowierten Gesicht lag ein permanentes Grinsen, das seine Zahnlücken zur Geltung brachte. Er pflegte den Gästen zu erzählen, dass er seine wahre Berufung als Schankwirt gefunden habe: ›Ein Spender von guter Laune und gutem Rat‹, wie er sich ausdrückte.

Die Bar befand sich ein paar Ebenen unterhalb der Grand Plaza. Das aus dem Mondgestein gefräste Etablissement hatte die Ausmaße zweier normaler Wohnquartiere. Und es war ruhig. Es gab keine Musik, es sei denn, jemand setzte sich an den kaum benutzten Synthesizer, der im hintersten und dunkelsten Winkel des Raums verstaubte. Das einzige Hintergrundgeräusch war das Summen vieler Gespräche.

Und es wimmelte nur so von Pelikanen. Ein holografisches Video zeigte sie, wie sie wenige Zentimeter über die stillen Wasser des Golfs von Mexiko flogen, vor einem Hintergrund mit Hochhäusern und Strandhotels, die längst unter Wasser standen. Die Wände waren mit Fotos von Pelikanen förmlich tapeziert. Peikan-Statuen standen an beiden Enden der Bar, und Pelikan-Mobiles hingen von der glasierten Gesteinsdecke. Ein lebensgroßer Stoff-Pelikan stand am Tresencomputer — der Vogel war mit einem schrillen Touristen-Outfit bekleidet und schaute die Zecher durch eine funky Sonnenbrille an.

Pancho gefiel es in der Pelican Bar. Sie zog sie dem netten kleinen Bistro oben auf der Grand Plaza vor, die von Touristen und Geschäftsleuten frequentiert wurde. Im Pelican fühlte sie sich irgendwie zuhause; sie kam oft genug her, um als Stammgast durchzugehen und schmiss üblicherweise genauso viele Runden wie die anderen Gäste, die an der Bar saßen.

Sie begrüßte die anderen Stammgäste. Der Inhaber, der wie immer am Tresen stand, unterbrach ein intensives Gespräch mit einer verhascht wirkenden kleinen Rothaarigen und watschelte zu Pancho. Dann mixte er ihr Lieblingsgetränk, einen Margarita mit echter Limone aus Selenes hydroponischem Obstgarten.

Die Wand wurde von separeeartigen Sitzgelegenheiten gesäumt, aber Barhocker gab es nicht. Man trank im Stehen, und wenn man nicht mehr zu stehen vermochte, brachten die Kumpels einen heim. Regel des Hauses.

Pancho hatte sich zwischen die Leute an der Bar gezwängt. Sie stand zwischen einem Fremden und einem pensionierten Ingenieur, den sie nur vom Sehen kannte und dem seine Eltern den krassen Namen Isaac Walton angehängt hatten. Es hieß, er sei nur deshalb auf den Mond gekommen, um vor den ständigen Hänseleien zu fliehen.

Waltons Gesicht wirkte irgendwie schief und asymmetrisch. Sogar das graumelierte Haar schien an einer Seite dichter zu sein als an der anderen. Der sonst fröhliche Zecher machte diesmal einen morbiden Eindruck, wie er beide Ellbogen auf den Tresen gestützt hatte und ins große, mit Reif überzogene Glas starrte.

»Hi, Ike«, sagte Pancho gutgelaunt. »Wieso machst du so ein langes Gesicht?«

»Jahrestag«, nuschelte Walton.

»Und wo ist deine Frau?«

Er warf Pancho einen trüben Blick zu. »Es ist nicht mein Hochzeitstag.«

»Was dann?«

Walton straffte sich etwas. Er hatte in etwa Panchos Größe und war sehnig und schlaksig. »Der Tag jährt sich zum achten Mal, als man mir den Selene-Leistungspreis verliehen hat.«

»Leistungspreis?«, fragte sie. »Was ist denn das?«

Der Wirt unterbrach ihre Unterhaltung. »He, Ike, glaubst du nicht, du hättest genug für heute?«

Walton nickte feierlich. »Ja. Du hast Recht.«

»Wieso gehst du dann nicht nach Hause zu deiner Frau«, schlug der Barkeeper vor. Pancho hörte aber, dass etwas mehr als nur Freundlichkeit in seiner Stimme mitschwang — Teufel, sagte sie sich, er klingt ja fast wie ein Bulle.

»Du hast Recht, Kumpel. Absolut. Ich werde nach Hause gehen. Was bin ich 'n dir schuldig?«

Der Wirt fuchtelte mit der fleischigen Hand. »Vergiss es. Du bist eingeladen.«

»Danke vielmals.« Er drehte sich zu Pancho um und fragte: »Willst du mich nach Hause begleiten?«

Sie schaute auf den Barkeeper, der noch immer ungewöhnlich grimmig wirkte. Dann zuckte sie die Achseln und sagte: »Klar, Ike. Ich werde dich nach Hause bringen.«

Er war doch nicht so wacklig auf den Beinen, wie Pancho vermutet hatte. Nachdem sie die Bar verlassen hatten, wirkte Walton eher deprimiert als betrunken. Trotzdem nickte er den Passanten zu oder grüßte sie.

»Was ist denn der Leistungspreis?«, fragte Pancho, während sie durch den Korridor gingen.

»Ist ein Geheimnis.«

»Aha.«

»Ich habe das Unmögliche für sie möglich gemacht, weißte, aber es kam zu spät, um noch von Nutzen zu sein, und weil sie nicht wollten, dass jeder davon erfährt, haben sie mir den Preis als Schweigegeld gegeben und sagten mir, ich dürfe keinem was davon erzählen.«

»Wovon?«, fragte Pancho verwirrt.

Zum ersten Mal an diesem Abend erschien ein Lächeln in Waltons Gesicht. »Von meinem Tarnmantel«, sagte er.

Wort für Wort zog Pancho ihm die Geschichte aus der Nase. Walton hatte mit Professor Zimmerman, dem Nanotech-Genie, zusammengearbeitet, als die alten UN-Friedenstruppen entsendet hatten, um die Mondbasis zu erobern.

»Stavenger stand unter Zeitdruck, spezielle Waffen zu entwickeln, mit denen wir die Invasion der UN-Soldaten abzuwehren vermocht hätten, ohne sie zu töten«, sagte Walton und wurde mit jedem Schritt nüchterner und grimmiger. »Zimmerman versprach Stavenger, eine Möglichkeit zu finden, um unsere Leute unsichtbar zu machen, aber die Bastarde haben ihn bei ihrem Angriff getötet. Ein Selbstmordattentäter ist in sein Labor eingedrungen und hat den alten Mann in Stücke gerissen.«

»Sich selbst auch?«, fragte Pancho.

»Ich sagte doch ›Selbstmord‹, oder? Auf jeden Fall ging der so genannte Krieg ziemlich schnell zu Ende, und wir erhielten die Unabhängigkeit. Damals änderten wir den Namen von Mondbasis in Selene.«

»Ich weiß.«

»Eine Zeit lang hatte ich nichts zu tun. Ich war Zimmermans Assistent, und nun war der alte Mann tot.«

Walton hatte Zimmermans Erbe angetreten und mit Feuereifer nach einer Möglichkeit gesucht, wie man Menschen unsichtbar machte. Und schließlich hatte er Erfolg gehabt.

»Aber wer will überhaupt unsichtbar sein?«, fragte Walton. »Doch nur jemand, der etwas Böses im Schilde führt«, sagte er, bevor Pancho zu antworten vermochte. »Spione. Mörder. Gangster. Diebe.«

Selenes Regierungsrat beschloss, Waltons Erfindung auf Eis zu legen. Sie so tief zu begraben, dass niemand auch nur von ihrer Existenz erfuhr.

Also verliehen sie mir den Ersten Preis, um mich ruhig zu stellen. Es handelt sich dabei eigentlich um eine Pension. Ich kann mir ein schönes Leben machen — solang ich in Selene bleibe und den Mund halte.

»Klingt doch nicht schlecht«, sagte Pancho, um ihn aufzumuntern.

Walton schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht, Pancho. Ich bin ein Genie, und keiner weiß es. Ich habe eine tolle Erfindung gemacht, und sie ist nutzlos. Ich darf nicht einmal darüber sprechen.«

»Gehst du denn kein Risiko ein, wenn du mit mir darüber sprichst?«, fragte Pancho.

Er schaute sie von der Seite an. »Ach, zum Teufel, Pancho. Ich musste endlich mal mit jemandem drüber reden. Sonst wäre ich noch geplatzt. Und ich kann dir doch vertrauen, nicht wahr? Du wirst meine Erfindung nicht stehlen, auf Tour gehen und jemanden umbringen, oder?«

»'türlich nicht«, beeilte Pancho sich zu sagen. Aber sie fand trotzdem, dass es ganz lustig wäre, sich hin und wieder unsichtbar zu machen.

»Willste es mal sehen?«, fragte Walton.

»Das Unsichtbarkeits-Dingens?«

»Ja.«

»Wie soll ich es aber sehen, wenn's unsichtbar ist?«

Walton stieß ein meckerndes Lachen aus. Er hieb Pancho auf den Rücken und sagte: »Das mag ich so an dir, Pancho, alte Freundin. Du bist OK — OK groß geschrieben.«

Walton bog in den nächsten Quergang ein und führte Pancho in die Ebene direkt unter der Grand Plaza, wo der Großteil von Selenes Lebenserhaltungsmaschinen untergebracht war. Sie reinigten die Luft, klärten das Wasser und transformierten den elektrischen Strom, der in den Solarfarmen erzeugt wurde. Pumpen summten. Die Luft knisterte. Die Decken dieser Kammern bestanden aus nacktem, unbehauenem Gestein. Pancho wusste, dass an der Oberseite entweder der gepflegte Rasen der Grand Plaza war oder der Regolith der Mondoberfläche. Und in einem Korridor nicht weit von hier befanden sich die Katakomben.

»Ist das Dingens denn nicht hinter Schloss und Riegel?«, fragte Pancho, während Walton sie an einer langen Reihe von Metallspinden vorbeiführte.

»Sie wissen nicht einmal, dass es überhaupt existiert. Sie glauben, dass ich es zerstört hätte, nachdem sie mir ihren lausigen Preis gegeben haben. Es ist das einzige Exemplar im ganzen weiten Sonnensystem.«

»Wahnsinn.«

Er nickte abwesend. »Und es ist auch kein ›Dingens‹, sondern ein Tarnanzug.«

»Tarnanzug?«, sagte Pancho.

»Er bedeckt einen wie ein Nassanzug von Kopf bis Fuß«, sagte er mit gedämpfter Stimme, als ob er befürchtete, dass jemand ihn belauschte. Pancho musste sich anstrengen, ihn vor der vielfältigen Geräuschkulisse der Maschinen überhaupt zu verstehen.

Pancho folgte Walton die lange Spindreihe entlang. Im Gang roch es nach Staub. Er schien sehr selten benutzt zu werden. Die Oberlichter standen so weit auseinander, dass sie sich alle paar Meter als Schattenriss abzeichneten. Walton blieb vor einem Spind mit einer Seriennummer stehen. Pancho sah, dass er ein elektronisches Sicherheitsschloss hatte.

»Läuft denn hier niemand Streife?«, fragte Pancho mit einem unbehaglichen Gefühl.

»Nee. Wozu auch? Es gibt Kameras am anderen Ende des Gangs, aber dieser alte Tunnel ist eine Sackgasse. Die Leute laden hier ihren Kram ab — persönliche Gegenstände, für die sie in den Unterkünften keinen Platz mehr haben.«

Walton gab den Sicherheitscode ins elektronische Schloss ein und zog die Metalltür auf. Sie quietschte leise, als ob sie sich beschweren wolle.

»Hier ist es«, sagte er leise.

Im Spind hing ein schlaffer tiefschwarzer Ganzkörperanzug.

»Ist er nicht ein Schmuckstück?«, fragte Walton und nahm den Anzug vorsichtig und liebevoll aus dem Schrank. Dann präsentierte er ihn Pancho am Kleiderbügel, damit sie ihn gebührend bewundere.

»Sieht beinahe aus wie ein Nassanzug«, sagte Pancho und fragte sich, wie er jemanden wohl unsichtbar machen solle. Er glitzerte dunkel im trüben Licht der Deckenbeleuchtung, als ob er mit Pailletten aus Onyx besetzt wäre.

»Der Anzug ist mit Nanokameras und Projektoren besetzt, die nur ein paar Molekülschichten dick sind. Ich kann dir sagen, ich wäre fast bekloppt geworden, bis ich die Dinger so weit hatte, dass sie funktionierten.«

»Uh-huh«, sagte Pancho und betastete einen Ärmel mit dem integrierten Handschuh. Das Gewebe fühlte sich weich und elastisch an, aber auch irgendwie körnig wie Sandpapier.

»Die Kameras nehmen dein Umfeld auf«, erläuterte Walton. »Und die Projektoren bilden es ab. Wenn jemand vor dir steht, sieht er, was sich hinter dir befindet. Und wenn jemand links von dir steht, sieht er, was sich rechts von dir befindet. Als ob man durch dich hindurchschauen würde. Du bist praktisch unsichtbar.«

»Und das funktioniert wirklich?«, fragte sie.

»Dafür sorgt ein in den Gürtel integriertes Steuergerät«, sagte Walton. »Die Batterien sind wahrscheinlich leer, aber das Aufladen ist kein Problem.« Er deutete auf ein paar Stromanschlüsse in der glasierten Felswand des Korridors an der gegenüberliegenden Seite der Spinde.

»Und das funktioniert?«, wiederholte sie.

Er lächelte wie ein stolzer Vater. »Willst du ihn einmal anprobieren?«

»Sicher«, sagte Pancho und erwiderte sein Grinsen.

Während Pancho sich in den hautengen Anzug zwängte, hängte Walton die beiden handtellergroßen Akkus ans Netz. Als sie die Handschuhe übergestreift und sich die Kapuze übergezogen hatte, schob er die vollgeladenen Akkus in die Taillenpartie des Anzugs.

»In Ordnung«, sagte Walton und musterte sie kritisch. »Nun zieh die Gesichtsmaske herunter und verbinde sie mit der Kapuze.«

Kleine Brillengläser verdeckten Panchos Augen. »Ich muss wie ein Terrorist aussehen, Ike«, murmelte sie, wobei das Gewebe der Maske auf den Lippen kitzelte.

»Gleich wirst du nach gar nichts mehr aussehen«, sagte er. »Öffne den Sicherheitsverschluss am Gürtel und drück auf den Schalter.«

Pancho ließ die kleine Plastikabdeckung aufschnappen und berührte den darunter verborgenen Schalter. »In Ordnung, und was nun?«, fragte sie.

»Warte fünfzehn Sekunden.«

Pancho wartete. »Na und?«

»Halt dir die Hand vors Gesicht«, sagte Walton mit einem schiefen Grinsen.

Pancho hob den Arm. Ein Schreck durchfuhr sie. »Ich sehe ihn nicht!«

»Natürlich nicht. Du bist doch unsichtbar.«

»Echt?«

»Siehst du dich denn?«

Pancho sah sich nicht. Arme, Beine, gestiefelte Füße: Sie spürte sie ganz normal, sah sie aber nicht.

»Hast du einen Ganzkörperspiegel im Spind?«, fragte sie aufgeregt.

»Wieso, zum Teufel, sollte ich einen Ganzkörperspiegel im Spind haben?«

»Ich will sehen, wie ich aussehe.«

»Verdammt, Pancho, du siehst nach überhaupt nichts aus. Du bist komplett unsichtbar.«

Pancho lachte überdreht. In diesem Moment beschloss sie, sich Ike's Tarnanzug auszuleihen. Natürlich ohne es ihm zu sagen.

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