Mare Nubium

Die Zugmaschine rumpelte langsam durch die öde, leere Weite des Mare Nubium und entfernte sich dabei stetig vom Ringwall-Gebirge, das Alphonsus und den Standort von Selene markierte.

Kris Cardenas versuchte, die aufkeimende Panik zu unterdrücken. Sie spürte sie tief in sich rumoren und in der Kehle aufsteigen. Sie hatte Herzrasen und hörte das Blut in den Ohren rauschen.

»Wohin bringen Sie mich?«, fragte sie. Die Stimme wurde vom Helm des Raumanzugs gedämpft, in den man sie gesteckt hatte.

Keine Antwort vom Fahrer. Natürlich, sagte Cardenas sich. Sie haben das Funkgerät des Anzugs stillgelegt. Ein praktischer Hightech-Knebel.

Die beiden Handlanger, von denen sie in der Nacht zuvor abgefangen worden war, hatten sie in Humphries extravagantes Anwesen auf Selenes unterster Ebene gebracht. Martin Humphries hatte zwar nicht geruht, sie zu sehen, aber sie wusste auch so, wessen Domizil das war. Die Bediensteten waren sehr höflich gewesen. Sie hatten ihr zu essen und zu trinken angeboten und sie in einer komfortablen Gästesuite untergebracht, wo sie die Nacht verbracht hatte. Die Tür auf den Gang war natürlich verschlossen. Sie war eine Gefangene, auch wenn die Zelle noch so luxuriös war.

Merkwürdigerweise hatte sie dennoch gut geschlafen. Als sie jedoch am nächsten Morgen, nachdem eine Bedienstete ihr ein Frühstückstablett ins Wohnzimmer gebracht hatte, über ihre Situation nachdachte, gelangte Cardenas zu dem Schluss, dass Humphries sie umbringen würde. Er wird mich umbringen müssen, sagte sie sich. Er kann mich nicht einfach gehen und überall herumerzählen lassen, dass er Dan Randolph getötet hat.

Mit meiner Hilfe, fügte sie hinzu. Ich bin eine Mord-Komplizin. Eine blinde und sture Närrin, die nicht sah, was sie nicht sehen wollte. Nicht, bis es zu spät war.

Und nun werde ich auch ermordet. Aus welchem Grund sollten sie mich sonst so weit in die gottverlassene Wildnis hinausbringen?

Der Gedanke an den Tod machte ihr Angst — verstandesmäßig. Aber der Aufenthalt auf der Mondoberfläche, im tödlichen Vakuum mit der ganzen Strahlung, die aus dem All herabregnete, verursachte ihr darüber hinaus eine kreatürliche Angst. Die kleine Zugmaschine hatte weder eine Druckkabine noch ein Besatzungsmodul; man musste einen Raumanzug anlegen, um hier draußen auch nur eine Minute zu überleben.

Das ist eine tote Welt, sagte sie sich beim Blick durchs Helmvisier. Die graue Oberfläche war absolut tot, außer den Kettenspuren der anderen Zugmaschinen, die hier schon entlanggefahren waren. Weder Wind noch Wetter würden diese Spuren verwischen; sie würden Bestand haben, bis der Mond selbst zerbröselte. Hinter ihnen sank ein Staubschweif träge in der geringen Mondschwerkraft zu Boden.

Und vor ihnen gab es nichts außer der sanft gewellten Ebene aus Geröll. Sie war mit Kratern übersät, die teils die Größe eines Fingerhuts hatten und teils so groß waren, dass die Zugmaschine in ihnen versunken wäre. Überall waren Felsbrocken verstreut, als ob ein Riesenbaby sein Spielzeug achtlos weggeworfen hätte.

Der Horizont war beklemmend nah. Das setzte Cardenas noch mehr zu. Es wirkte unstimmig und bedrohlich. Im luftlosen Vakuum gab es keinen Dunst, der entfernte Landmarken weich zeichnete. Dieser jähe Horizont durchschnitt das Blickfeld wie die Abbruchkante einer Klippe.

Sie sah, dass das Ringwall-Gebirge von Alphonsus fast schon hinterm Horizont verschwunden war.

»Wohin fahren wir?«, fragte sie erneut, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war.

Frank Blyleven neben ihr war das Grinsen vergangen. Er fuhr die Zugmaschine und schwitzte im Raumanzug. Durch die Vereinbarung, die er mit Martin Humphries getroffen hatte, ermöglichte er Humphries nichts weniger als den Zugang zum Kommunikationsnetzwerk der Astro Corporation. Ein schöner Batzen Geld, ohne dass er ein Risiko eingehen musste. Und nun chauffierte er noch eine entführte Nobelpreisträgerin, um Gottes willen! Dafür würde Humphries noch was drauflegen müssen.

Blyleven musste sich freilich eingestehen, dass Humphries ziemlich clever war. Stavenger lässt Dr. Cardenas suchen. In Ordnung. Wer hätte sie unauffälliger für eine Weile aus Selene herauszubringen vermocht als der Leiter des Astro-Sicherheitsdiensts? Niemand stellte Fragen, als er schon mit einem Raumanzug bekleidet in der Garage aufkreuzte und von einer weiteren Person begleitet wurde, die auch schon einen Raumanzug angelegt hatte.

»Ich muss die Funkantennen draußen in Nubium inspizieren«, sagte er der Wache, die die Zugmaschinen durchcheckte. »Wir werden etwa sechs Stunden wegbleiben.«

Natürlich, denn nachdem sie drei Stunden ziellos durch das mare gefahren waren, erhielt er einen Funkspruch von Humphries' Leuten. »Okay, bring sie zurück.«

Nun vermochte er wieder zu lächeln. Er legte seinen Helm gegen Cardenas', sodass sie ihn durch Schallübertragung zu hören vermochte.

»Wir fahren zurück«, sagte er. »Sie werden von einem Team empfangen. Sie benehmen sich, wenn wir wieder in der Garage sind.«

Kris Cardenas wurde von einem Gefühl der Dankbarkeit überwältigt. Wir fahren zurück. Bald sind wir wieder in der Sicherheit der Stadt.

Doch dann wurde sie sich bewusst, dass sie noch immer Humphries' Gefangene und alles andere als in Sicherheit war.


Wütend las Dan Georges Bericht auf dem Wandbildschirm der Messe des Schiffs.

»Ich hatte mich an der Durchsuchung von Humphries' Haus beteiligt. Es ist groß genug, um ein Dutzend Leute zu verstecken. Wir fanden weder Dr. Cardenas selbst noch eine Spur von ihr«, schloss George verdrießlich.

»Aber vielleicht ist sie doch noch am Leben«, sagte Dan und stieß ungeduldig die Luft aus, als er sich bewusst wurde, dass George die Antwort erst in zwanzig Minuten oder so hören würde.

Pancho saß neben ihm in der Messe. Sie schaute eher verwirrt als besorgt, als Georges Bild auf dem Wandmonitor verblasste.

»Wenn man ihre Leiche nicht gefunden hat«, sagte Dan zu ihr, »dann heißt das, dass sie wahrscheinlich noch am Leben ist.«

»Oder sie haben die Leiche draußen beseitigt«, sagte Pancho.

Dan nickte düster.

»Aber wieso sollte Humphries Dr. Cardenas überhaupt töten wollen?«, fragte Pancho.

»Weil sie etwas herausgefunden hat, das sie mir sagen wollte und von dem Humphries nicht wollte, dass ich es erfahre.«

»Was denn?«

»Woher soll ich das denn wissen?«, blaffte Dan.

Pancho grinste verlegen. »Ja, ich schätze, das war eine ziemlich dumme Frage.«

Dan rieb sich das Kinn und murmelte: »Humphries wusste, dass der Sicherheitsdienst kommen und sein Haus durchsuchen würde. Also hat er sie einfach woandershin gebracht, bis die Durchsuchung beendet war. Ich wette eine Tonne Diamanten, dass sie sich inzwischen wieder in seinem Haus befindet. Er wird sie in der Nähe haben wollen.«

»Wahrscheinlich«, pflichtete Pancho ihm bei.

»Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, jemanden in Humphries' Haus einzuschleusen, ohne dass er es bemerkt«, sagte Dan versonnen.

Pancho setzte sich gerade hin. »Es gibt eine Möglichkeit«, sagte sie mit einem verschmitzten Grinsen.


George deutete es als Zeichen des Respekts Doug Stavengers gegenüber Dr. Cardenas, dass er sich zu einem privaten Gespräch bereit erklärte.

»Unsichtbar?« Stavenger war perplex. »Ein Unsichtbarkeits-Umhang?«

»Ich weiß, das klingt verrückt«, sagte George, »aber Dan erzählte mir, dass…«

»Das ist nicht verrückt«, sagte Stavenger und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich fasse es nur nicht, dass Ike Walton jemandem davon erzählt hat.«

»Sie meinen, das gibt es wirklich? Einen Unsichtbarkeits-Umhang?«

Stavenger musterte den großen Australier einen Augenblick lang schweigend. »Den gibt es wirklich. Aber ich bezweifle, dass es ihn in Ihrer Größe gibt. Wir werden den schwatzhaften Mr. Walton wieder an die Arbeit schicken müssen.«


Das Schlimmste, sagte Dan sich wütend, ist die große Entfernung, die ein Gespräch in Echtzeit verhindert.

Er war schon ein paarmal durchs Besatzungsmodul gewandert: von der Brücke, wo Pancho und Amanda sich über Frauenthemen unterhielten, während sie die automatisierten Systeme des Schiffs überwachten bis zur Instrumentenbucht am anderen Ende des Durchgangs, wo Fuchs mit der Probe des supraleitenden Drahts zugange war.

Georges letzte Meldung hatte fast märchenhaft angemutet. »Stavenger hat dafür gesorgt, dass der Typ, der den Umhang angefertigt hat, ihn für mich ändert. Er ist drüben im Nanotech-Labor gerade damit beschäftigt. Er sagt, dass ich Humphries irgendwann morgen einen Besuch abstatten könne, falls nicht noch etwas dazwischenkommt.«

Rumpelstilzchen, sagte Dan sich, als er den Gang entlangging. Nein, das war doch der Typ, der Stroh zu Gold gesponnen hat. Wer trug gleich noch mal den Unsichtbarkeits-Umhang?

Pancho, sagte er sich. Von allen Taschenspielern im Sonnensystem war sie als Einzige so ausgebufft, einen Unsichtbarkeits-Umhang hervorzuzaubern. Nun, das Glück winkt dem, der es am Schopf ergreift, wie man so sagt. Pancho war schlau genug und schnell genug, die Chance zu nutzen, die sich ihr bot.

Schließlich stand er wieder in der Instrumentenbucht. Es gab nicht einmal mehr Platz für einen Stuhl.

Fuchs arbeitete im Stehen und starrte auf denselben Bildschirm, den er im Blick gehabt hatte, als Dan zuletzt bei ihm vorbeigeschaut hatte.

»Irgendwas Interessantes?«, fragte Dan ihn.

Fuchs zuckte zusammen, als ob er aus einem Traum erwachte. Aber dem besorgten Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte es sich vielleicht um einen Albtraum gehandelt, sagte Dan sich.

»Was ist denn, Lars?«

»Ich habe herausgefunden, was den Hot Spot in diesem Stück Draht verursacht hat«, sagte Fuchs mit bedeutungsschwangerer Stimme.

»Gut!«, sagte Dan.

»Nicht gut«, entgegnete Fuchs und schüttelte den Kopf.

»Was ist denn?«

Fuchs wies auf die Kurven, die sich über den Bildschirm zogen und sagte: »Der Anteil des Kupfers im Draht nimmt ab.«

»Was?«

»Der Draht ist nur supraleitend, wenn die Zusammensetzung konstant bleibt.«

»Und wenn er auf die Temperatur von flüssigem Stickstoff heruntergekühlt wird«, ergänzte Dan.

»Ja, natürlich. Aber bei diesem Stück Draht… nimmt der Kupfergehalt ab.«

»Nimmt ab? Wie meinst du das?«

»Schauen Sie sich die Kurven an!«, sagte Fuchs erregt und tippte mit den Knöcheln auf den Bildschirm. »In den letzten zwei Stunden ist der Kupferanteil um sechs Prozent reduziert worden.«

Dan war perplex. »Wie ist das denn möglich…«

»In dem Maß, wie der Kupferanteil abnimmt, wechselt der Draht vom supraleitenden in den Normalzustand und heizt sich auf. Am Hot Spot verdampft die Stickstoff-Kühlflüssigkeit, wodurch der Hot Spot immer größer wird. Zuerst war er nur mikroskopisch und wurde schließlich so groß, dass die Messfühler ihn entdeckten.«

Dan starrte ihn an.

»Ich vermag mir nur eine Instanz vorzustellen, die in der Lage wäre, selektiv Kupferatome aus dem Draht zu entfernen.«

»Nanomaschinen?«, flüsterte Dan.

Fuchs nickte bedächtig. »Dieses Stück Draht wurde mit Nanomaschinen versetzt, die Kupferatome entfernen und in die Stickstoff-Kühlflüssigkeit freisetzen. Selbst in diesem Moment lösen sie Kupferatome heraus und lassen sie in die Luft dieses Abteils entweichen.«

»Jesus…«, sagte Dan mit einem plötzlichen flauen Gefühl in der Magengrube. »Deshalb hat Humphries Cardenas also entführt. Sie ist die Nanotech-Expertin.«

»Wir sind infiziert«, sagte Fuchs tonlos.

»Aber du hast es noch rechtzeitig entdeckt«, entgegnete Dan. »Es ist nur dieses Stück Draht, das infiziert ist.«

»Das hoffe ich«, sagte Fuchs. »Denn sonst sind wir alle so gut wie tot.«

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