Sie waren hinter ihr her.
Pancho Lane steckte noch immer im Raumanzug. Sie jagte schwerelos durchs Labormodul und erschreckte die japanischen Techniker bei ihrem Flug durch den zentralen Korridor, wobei sie sich alle paar Meter mit kräftigen Händen an der Labor-Ausrüstung abstieß. Hinter sich hörte sie die zornigen Rufe der Männer.
Wenn einer von diesen Hirnis auf den Trichter kommt, in den Anzug zu steigen und mich auf einer EVA (EVA = Extravehicular Acticity: Weltraumspaziergang — Antn. d. Übers.) abzufangen, bin ich erledigt, sagte sie sich.
Es hatte als Spiel angefangen, als Wettstreit. Welcher von den Piloten, die sich an Bord der Station befanden, hielt es am längsten im Vakuum aus? Es waren sechs ›Raketenjockeys‹ der Astro Corporation, die auf den Rücktransport nach Selene City warteten: vier Männer, Pancho und das neue Mädchen, Amanda Cunningham.
Pancho hatte sie natürlich angestachelt. Das war Teil des Plans. Sie hatten sich alle in der Bordküche versammelt und wären buchstäblich abgehoben, wenn sie sich nicht in den Fußschlaufen verankert hätten, die am Boden unterm Tisch und ums einzige Tischbein befestigt waren. Die Unterhaltung hatte sich schließlich nur noch ums Vakuum-Atmen gedreht: Wie lang vermag man im Weltraum den Atem anzuhalten, ohne gesundheitliche Schäden davonzutragen?
»Der Rekord liegt bei vier Minuten«, hatte einer der Männer gesagt. »Er wird von Harry Kirschbaum gehalten.«
»Harry Kirschbaum? Wer, zum Teufel, ist das? Ich habe noch nie von ihm gehört.«
»Er ist jung gestorben.«
Darüber hatten alle gelacht.
Amanda, die gerade erst von der Technischen Universität in London zum Team gestoßen war, hatte das engelsgleiche Gesicht eines Schulmädchens mit weichem blondem Lockenhaar und großen, unschuldigen blauen Augen — aber ihre Kurven raubten den Männern den Atem. »Bei einer Übung im Vakuum-Tank musste ich den Helm einmal verstellen«, sagte sie.
»Wie lang hat das gedauert?«
Sie zuckte die Achseln, und nicht einmal Pancho entging, wie ihr Overall sich über den Rundungen spannte. »Etwa zehn Sekunden. Vielleicht fünfzehn.«
Pancho mochte Amanda nicht. Sie hielt sie für eine kleine Schlampe, die sich mit einem britischen Oberklasse-Akzent schmückte. Nur ein Blick auf sie, und die Männer vergaßen Pancho. Das war schade, denn ein paar von den Typen waren wirklich nett.
Pancho war dünn und sehnig und hatte die langen schlanken Beine ihrer afrikanischen Vorfahren. Ihre Haut war nicht dunkler als eine schöne Bräune, die man sich unter der Sonne von Texas holte, aber sie hatte ein Allerweltsgesicht mit einem spitzen Kinn, das sie als Pferdegebiss bezeichnete und kleine, schielende braune Augen. Das Haar trug sie immer so kurz, dass das Gerücht kursiert hatte, sie sei lesbisch. Das stimmte nicht. Aber sie hatte die Kraft eines Manns in den langen, muskulösen Armen und Beinen und ließ sich in keiner Disziplin von einem Mann besiegen — es sei denn, sie legte es darauf an.
Das Zubringer-Fahrzeug, das sie nach Selene zurückbringen sollte, verspätete sich. Die Düse an einem der Triebwerke hatte einen Riss, und die Flugsicherung wollte auf keinen Fall riskieren, dass die sechs Astronauten in einem maroden Raumfahrzeug transportiert wurden. Sie würden das Vehikel in den Weiten des Alls reparieren, während sie dem Mond entgegen fielen.
Also warteten die sechs in der Bordküche und unterhielten sich über Vakuum-Ahnen. Einer der Männer behauptete, er habe es eine ganze Minute lang im Vakuum durchgehalten.
»Das erklärt auch deinen niedrigen IQ«, sagte sein Kumpel.
»Niemand hat es bisher eine ganze Minute geschafft.«
»Sechzig Sekunden«, beharrte der Mann auf seiner Version.
»Das hätte die Lunge doch gar nicht ausgehalten.«
»Wenn ich's euch doch sage, eine Minute. Auf die Sekunde genau.«
»Ohne bleibende Schäden?«
Er zögerte und schaute plötzlich verschämt.
»Na?«
»Der linke Lungenflügel ist kollabiert«, sagte er mit einem bemüht lässigen Achselzucken.
Sie kicherten.
»Ich würde die sechzig Sekunden wahrscheinlich schaffen«, sagte Pancho.
»Du?«, fragte der Mann neben ihr verblüfft. »Aber Mandy, die hat den erforderlichen Brustumfang.«
Amanda lächelte scheu. Doch dann holte sie tief Luft und trat den Beweis an.
Pancho unterdrückte den Ärger über das Balzverhalten der Männer.
»Neunzig Sekunden? Unmöglich!«
»Wollt ihr darauf wetten?«, fragte Pancho.
»Niemand hält es für neunzig Sekunden im Vakuum aus. Es würde einem die Augen ausdrücken.«
Pancho bleckte grinsend die Zähne. »Welche Summe wollt ihr denn dagegen setzen?«
»Wie sollen wir den Gewinn eigentlich einstreichen, wenn du tot bist?«
»Oder dir einen bleibenden Hirnschaden zuziehst.«
»Sie hat eh schon einen Dachschaden, wenn sie glaubt, dass sie es neunzig Sekunden im Vakuum aushält.«
»Ich werde das Geld auf einem Konto deponieren, von dem ihr fünf es im Fall meines Todes oder einer Behinderung abheben könnt«, sagte Pancho ruhig.
»Ja, sicher.«
Sie deutete auf das Telefon, das neben dem Sandwichspender an der Wand hing und sagte: »Elektronische Überweisung. Der Vorgang dauert gerade einmal zwei Minuten.«
Sie schwiegen.
»Wie viel?«, fragte Pancho und musterte sie.
»Ein Wochenlohn«, stieß einer der Männer hervor.
»Ein Monatslohn«, sagte Pancho.
»Ein ganzer Monat?«
»Wieso nicht? Wenn du so verdammt sicher bist, dass ich es nicht schaffe, warum setzt du dann keinen Monatslohn? Ich werde fünf Monatsgehälter aufs Konto einzahlen, sodass jeder von euch abgesichert ist.«
»Einen Monatslohn.«
Schließlich hatten sie sich geeinigt. Pancho wusste, dass sie darauf spekulierten, dass sie nach zwanzig, dreißig Sekunden aufgeben würde, um sich nicht umzubringen und dass sie dann ihr Geld einsacken würden.
Sie würde ihnen einen Strich durch die Rechnung machen.
Also rief sie über das Telefon in der Küche ihre Bank in Lubbock an. Mit ein paar Tipps aufs Tastenfeld des Telefons hatte sie ein neues Konto eingerichtet und fünf Monatslöhne eingezahlt. Die anderen fünf Astronauten starrten auf den kleinen Bildschirm, um sich davon zu überzeugen, dass Pancho sie nichts übers Ohr haute.
Dann riefen sie der Reihe nach bei ihren Banken an und überwiesen einen Monatslohn auf Panchos neues Konto. Pancho lauschte dem Gedudel des Tonwahltelefons und legte sich eine Strategie für den Wettkampf zurecht.
Pancho schlug vor, dass sie die Luftschleuse am anderen Ende des Wartungsmoduls nahmen. »Wir wollen doch nicht, dass irgend so ein Wissenschaftsfritze Wind von der Sache bekommt und in seinem Übereifer den Sicherheitsalarm auslöst«, sagte sie.
Sie waren alle damit einverstanden. Also schwebten sie durch zwei Labormodule und das schäbig wirkende Wohnmodul, wo die Langzeit-Forscher untergebracht waren und erreichten schließlich die geräumige Wartungseinheit. Hier suchte Pancho sich einen Raumanzug aus dem halben Dutzend Standard-Modellen aus, die am Schott hingen. Wegen ihrer Körpergröße wählte sie den Anzug in der größten Ausführung. Sie streifte ihn sich schnell über, wobei die anderen ihr sogar dabei halfen, in die Stiefel zu schlüpfen und die Anzugssysteme ausprüften.
Pancho stülpte sich den Helm über den Kopf und arretierte mit einem Klicken den Halsring.
»In Ordnung«, sagte sie durchs offene Helmvisier. »Wer stoppt meine Zeit?«
»Ich mach das«, sagte einer der Männer und hob den Arm, an dem ein digitaler Chronograph prangte.
»Du gehst in die Schleuse«, sagte der Mann neben ihm, »pumpst die Luft ab und öffnest die Außenluke.«
»Und du beobachtest mich durch das Bullauge«, sagte Pancho und tippte mit behandschuhten Knöcheln an das dicke runde Fenster in der Innenluke der Luftschleuse.
»Alles klar. Wenn ich ›jetzt‹ sage, öffnest du das Visier.«
»Und ich stoppe die Zeit«, sagte der Mann mit der tollen Uhr.
Pancho nickte im Helm.
Amanda schaute besorgt. »Bist du auch ganz sicher, dass du das durchziehen willst? Du setzt dabei dein Leben aufs Spiel, Pancho.«
»Sie kann jetzt keinen Rückzieher mehr machen.«
»Es sei denn, sie will fünf Monatsgehälter abschreiben.«
»Im Ernst«, sagte Amanda. »Ich wäre bereit, von der Wette zurückzutreten. Schließlich…«
Pancho streckte die Hand aus und strich ihr übers blonde Lockenhaar. »Keine Sorge, Mandy.«
Dann trat sie durch die offene Luke der Luftschleuse, klappte das Visier herunter und winkte ihnen zu, während sie die Luke mit dem Stellrad schloss. Sie hörte, wie die Pumpen ratternd anliefen; das Geräusch erstarb aber schnell, als die Luft aus der metallwandigen Kammer gesogen wurde. Nachdem die Anzeigelampe an der Innenluke auf rot gewechselt hatte, betätigte Pancho den Schalter, mit dem die äußere Luke geöffnet wurde.
Im ersten Moment vergaß sie, weshalb sie überhaupt hier draußen war, als sie von der atemberaubenden Schönheit der Erde geblendet wurde, die unter ihr ausgebreitet lag. Sie war strahlend hell, mit leuchtend blauen Meeren und dicken Wolken, die so blendend weiß waren, dass einem bei ihrem Anblick fast die Augen schmerzten. Es war ein grandioses Bild, ein überwältigendes Panorama, bei dem ihr Herz jedes Mal höher schlug.
Du hast etwas zu erledigen, Mädchen, rief sie sich in Erinnerung.
Sie drehte sich zur Innenluke um und sah fünf Gesichter, die sich vor dem kleinen Bullauge drängten. Pancho wusste, dass keiner von ihnen auf die Idee gekommen war, ein Funkgerät mitzunehmen. Also wies sie mit dem behandschuhten Finger aufs Helmvisier. Sie alle nickten heftig, und der Mann mit der Hightech-Uhr hielt sie hoch, sodass Pancho sie zu sehen vermochte.
Die anderen traten vom Bullauge zurück, während der Mann konzentriert auf die Uhr schaute. Er hielt vier Finger hoch, dann drei…
Pancho begriff, dass er herunterzählte.
…zwei, eins. Er zeigte mit dem Finger auf Pancho, als ob er eine Pistole auf sie richtete und bedeutete ihr damit, dass sie das Visier jetzt lüften solle.
Stattdessen stürzte Pancho sich aus der Luke in den leeren Raum.