Raumstation Nueva Venezuela

Es war fast wie eine Heimkehr für Dan. Nueva Venezuela war nämlich eins der ersten Großprojekte für die aufstrebende Astro Manufacturing Corp. gewesen. Seinerzeit hatte Dan die Unternehmenszentrale von Texas nach La Guaira verlegt und die Tochter des späteren venezolanischen Präsidenten geheiratet.

Die Raumstation hatte die Ehe um einiges überdauert. Aber sie war auch schon alt und abgenutzt. Als die Fähre von Selene zum Andockmanöver ansetzte, sah Dan, dass das Metall der Außenhaut durch die langjährige Einwirkung der Strahlung und Mikrometeoriten matt und narbig geworden war. Hier und da glänzten Reparaturbleche, mit denen die Instandhaltungs-Trupps die alten Bleche ersetzt hatten. Modellpflege, sagte Dan sich mit einem Lächeln. Das kann die Station aber auch vertragen. Sie verwenden wahrscheinlich Cermet-Platten statt des Aluminiums, mit dem wir angefangen hatten. Sie sind leichter, widerstandsfähiger und vielleicht sogar billiger, wenn man die höhere Lebensdauer berücksichtigt.

Die Nueva Venezuela war eine Konfiguration aus drei konzentrischen, miteinander verbundenen Ringen. Der äußerste Ring drehte sich mit einer Geschwindigkeit, die den Insassen das Gefühl normaler Erdenschwere vermittelte. Die beiden anderen Ringe waren so platziert, dass in ihnen die Mars-Schwerkraft von einem Drittel G beziehungsweise die Mond-Gravitation von einem Sechstel G herrschte. In der Andock-Schleuse im Zentrum der Station herrschte Schwerelosigkeit. Die Technikfritzen bezeichneten das als Mikrogravitation, aber für Dan war es trotzdem Schwerelosigkeit.

Ein idealer Ort zum Bumsen, erinnerte Dan sich und lachte in sich hinein. Aber erst, nachdem man sich ausgekotzt hat. In den ersten Stunden der Schwerelosigkeit überkam nämlich fast jeden die Übelkeit.

Dan absolvierte zügig die Einreiseformalitäten und achtete darauf, keine ruckartigen Bewegungen zu machen, während der Zöllner sein einziges Gepäckstück durchsuchte. Er spürte einen Druck in den Nebenhöhlen, als die Körperflüssigkeiten sich unter dem Einfluss der Schwerelosigkeit verlagerten. Da läuft einem wenigstens nicht die Nase, sagte Dan sich. Aber man bekommt mit Sicherheit Kopfschmerzen, während die Säfte sich bei der Anpassung in den Nebenhöhlen sammeln.

Man musste hauptsächlich darauf achten, den Kopf so wenig wie möglich zu bewegen. Dan hatte schon gesehen, dass Leute sich in einem explosiven Schwall übergeben hatten, nur weil sie den Kopf gedreht oder genickt hatten.

Dann ließ der Inspektor Dan durch, und er ging durch den röhrenartigen Gang, der zum Rad mit der Mondschwerkraft ›hinunter‹ führte.

Er warf die Reisetasche in die winzige Kabine, die er für diesen Besuch gemietet hatte. Dann ging er den abschüssigen Gang entlang, der durch die ›Nabe‹ des Rads verlief und warf einen Blick auf die Nummern an den Türen.

Dr. Kristine Cardenas Name stand in schönen Buchstaben auf einem Stück Klebeband über der Kabinennummer. Dan klopfte an und öffnete die Tür.

Das Büro war klein und bot kaum genug Platz für den Tisch und die beiden Plastikstühle davor. Eine gut aussehende junge Frau saß am Schreibtisch. Sie hatte schulterlanges sandfarbenes Haar, kornblumenblaue Augen und die breiten Schultern einer Schwimmerin. Bekleidet war sie mit einer schlichten pastellgelben Springerkombi — oder vielleicht war es ursprünglich auch ein kräftigeres Gelb gewesen, das nach ein paarmal Waschen ausgeblichen war.

»Ich suche Dr. Cardenas«, sagte Dan. »Sie erwartet mich. Ich bin Dan Randolph.«

Die junge Frau schaute lächelnd zu ihm auf und reichte ihm die Hand. »Ich bin Kris Cardenas.«

Dan blinzelte überrascht. »Sie… Sie sind doch viel zu jung, um die Dr. Cardenas zu sein.«

Sie lachte und bedeutete Dan, auf einem der Stühle vorm Schreibtisch Platz zu nehmen. »Ich versichere Ihnen, Mr. Randolph, dass ich wirklich die Dr. Cardenas bin«, sagte sie.

Dan schaute in diese strahlend blauen Augen. »Haben Sie sich auch Nanomaschinen spritzen lassen?«

Sie schürzte die Lippen und gestand: »Dieser Versuchung vermochte ich einfach nicht zu widerstehen. Außerdem — wie könnte man die Leistungsfähigkeit der Nanotechnik besser erproben als an sich selbst?«

»Wie Pasteur, der sich den Polio-Impfstoff selbst injiziert hat«, sagte Dan.

Sie schaute ihn von der Seite an. »Ihre Anleihe aus der Geschichte der Wissenschaft ist zwar etwas angestaubt, aber das Prinzip haben Sie begriffen.«

Dan lehnte sich auf dem Plastikstuhl zurück. Er knarrte etwas, nahm sein Gewicht aber auf. »Vielleicht sollte ich das auch einmal versuchen«, sagte er.

»Wenn Sie nicht vorhaben, auf die Erde zurückzukehren«, sagte Cardenas mit einer plötzlichen Schärfe in der Stimme.

Dan wechselte das Thema. »Dem Vernehmen nach arbeiten Sie am Marserkundungs-Programm.«

Sie nickte. »Das Budget wird radikal zusammengestrichen. Quasi bis an die Substanz und noch tiefer. Wenn es uns nicht gelingt, Nanos zu entwickeln, die in den Mars-Basen die Lebenserhaltungsfunktionen übernehmen, müssen sie aufgeben und zur Erde zurückkehren.«

»Und wenn sie Nanomaschinen benutzen, dürfen sie nicht mehr nach Hause zurück.«

»Aber nur, wenn sie die Nanomaschinen im eigenen Körper einsetzen«, sagte Cardenas mit erhobenem Zeigefinger, um die Aussage zu unterstreichen. »Die IAA hat gnädigerweise den Einsatz von Nanotechnik erlaubt, um die Ausrüstung zu warten und instand zu setzen.«

Dan hörte den Sarkasmus aus ihrer Stimme heraus. »Ich wette, die Neue Moralität war von dieser Entscheidung hell begeistert.«

»So groß ist ihr Einfluss nun auch wieder nicht. Zumindest noch nicht.«

»Ein guter Grund, nicht auf der Erde zu leben«, sagte Dan. »Wie ich zu sagen pflege, wenn es hart auf hart kommt, gehen die harten Kerle dorthin…«

»…wo es leichter ist«, beendete Cardenas den Satz für ihn. »Den Spruch kenne ich schon.«

»Ich glaube nicht, dass ich imstande wäre, der Erde für immer zu entsagen«, sagte Dan. »Ich meine… sie ist doch unsere Heimat.«

»Aber nicht für mich«, sagte Cardenas schroff. »Auch nicht für ein halbes Dutzend Marsforscher. Sie haben sich für die Verwendung von Nanomaschinen entschieden. Sie haben nicht die Absicht, zur Erde zurückzukehren.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Dan überrascht.

»Das wurde auch nicht an die große Glocke gehängt. Die Neue Moralität und ihre Jünger haben großen Einfluss bei den Medien.«

Dan betrachtete für einen Moment ihr Gesicht. Dr. Cardenas hatte einen jugendlichen und attraktiven Körper, und sie war Nobelpreisträgerin und die Beste ihres Fachs. Und doch wirkte sie verbittert.

»Wie dem auch sei«, sagte er, »ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben.«

Das entlockte ihr ein erfreutes Lächeln. »Ihre Nachricht klang ziemlich…« — sie suchte nach dem passenden Wort — »mysteriös. Ich fragte mich, weshalb Sie mich persönlich sprechen wollten und nicht am Telefon.«

Dan erwiderte das Lächeln. »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man die Dinge am besten persönlich bespricht. Der persönliche Kontakt ist durch nichts zu ersetzen, weder durch Telefon noch durch E-Mail und nicht einmal durch Video-Konferenzen.«

Cardenas Lächeln wich einem wissenden Ausdruck. »Es ist nämlich schwerer, einem ein ›Nein‹ ins Gesicht zu sagen.«

»Sie haben's erfasst«, sagte Dan und hob wie ein ertappter Sünder die Hände. »Ich brauche Ihre Hilfe und wollte Sie nicht aus der Ferne darum bitten.«

Sie schien sich etwas zu entspannen und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Was ist denn so wichtig, dass Sie extra hier rauf gekommen sind, um es mir zu sagen?«

»Hier runter. Ich komme von Selene.«

»Wo liegt Ihr Problem? Diese Mars-Angelegenheit hat mich so in Anspruch genommen, dass ich nicht mehr auf dem Laufenden bin.«

Dan holte tief Luft und sagte: »Wie Sie wissen, bin ich der Vorstandsvorsitzende von Astro Manufacturing

Cardenas nickte.

»Ich habe ein kleines Team zusammengestellt, das bereit ist, den Prototyp einer Fusionsrakete zu bauen — und zwar mit Nanomaschinen.«

»Eine Fusionsrakete?«

»Wir haben bereits kleine Modelle getestet. Das System funktioniert. Nun müssen wir einen lebensgroßen Prototyp bauen und erproben. Wir planen eine Mission zum Asteroiden-Gürtel und…«

»Es sind doch schon Raumschiffe mit einem gewöhnlichen Raketenantrieb zum Gürtel geflogen. Wozu brauchen Sie dann ein Fusionssystem?«

»Das waren unbemannte Raumfahrzeuge. Diese Mission wird aber eine vier—, vielleicht sogar sechsköpfige Besatzung transportieren.«

»Zum Asteroidengürtel? Wieso denn das?«

»Um nach den Metallen und Mineralien zu suchen, die die Menschen auf der Erde brauchen«, sagte Dan.

Cardenas' Gesicht verhärtete sich. »Was bezwecken Sie damit, Mr. Randolph?«, fragte sie kalt.

»Ich versuche die Erde zu retten. Ich weiß, das hört sich pathetisch an, aber wenn wir nicht…«

»Ich sehe keinen Grund, die Erde zu retten«, sagte Cardenas dezidiert.

Dan schaute sie mit offenem Mund an.

»Die Leute da unten haben sich diesen Treibhauseffekt-Schlamassel selbst eingebrockt. Sie wurden gewarnt, wollten aber nicht hören. Die Politiker, die Wirtschaftsführer, die Medien… sie haben erst dann reagiert, als es schon zu spät war.«

»Das ist so nicht ganz richtig«, sagte Dan leise und erinnerte sich daran, wie er selbst mit aller Macht versucht hatte, die Führer der Welt auf die Gefahr des drohenden Klimakollapses hinzuweisen, bevor es zu spät war.

»Aber es ist im Grundsatz richtig«, erwiderte Cardenas. »Und dann gibt es da noch die Neue Moralität und all diese ultraorthodoxen Religionsgemeinschaften und Sekten. Wieso wollen Sie die denn überhaupt retten?«

»Das sind immerhin Menschen«, platzte Dan heraus. »Menschliche Wesen.«

»Sollen sie doch im eigenen Saft schmoren«, sagte Cardenas mit ätzender Stimme. »Sie bekommen genau das, was sie verdient haben.«

»Aber…« Dan war total konsterniert. »Ich verstehe nicht.«

»Sie haben mich ins Exil geschickt.« Sie spie die Worte förmlich aus. »Weil ich mir Nanomaschinen injiziert habe, hat man mir die Rückkehr zur Erde untersagt. Wussten Sie, dass diese irdischen Fanatiker jeden Befürworter der Nanotechnik umbrachten?«

Dan schüttelte stumm den Kopf.

»Sie haben sogar die Mondbasis angegriffen, ehe sie als Selene die Unabhängigkeit erlangte. Ein Selbstmordattentäter hat sich sogar mit Professor Zimmermann in seinem eigenen Labor in die Luft gejagt. Und da erwarten Sie von mir, dass ich Ihnen helfe?«

»Aber das ist doch schon viele Jahre her«, nuschelte Dan unter dem Eindruck ihres Zornausbruchs.

»Ich war dort, Mr. Randolph. Ich habe die verstümmelten Leichen gesehen. Und nachdem wir dann den Sieg errungen und sogar die alten Vereinten Nationen unsere Unabhängigkeit hatten anerkennen müssen, erließen diese heuchlerischen Ignoranten Gesetze, die jeden verbannten, der sich Nanomaschinen hatte injizieren lassen.«

»Das ist mir schon klar, aber…«

»Ich war verheiratet«, fuhr sie mit blitzenden blauen Augen fort. »Ich hatte zwei Töchter. Ich habe vier Enkel auf dem College, die ich nie in den Arm genommen habe! Ich habe sie nie gehalten, als sie Babys waren und nie mit ihnen an einem Tisch gesessen.«

Eine andere Frau wäre vielleicht in Tränen ausgebrochen, sagte sich Dan. Aber dazu war Cardenas zu wütend. Wie, zum Teufel, soll ich an sie rankommen?, fragte er sich.

Sie schien sich wieder zu beruhigen. Sie legte die Hände auf den Tisch und sagte in einem ruhigeren Ton: »Bitte entschuldigen Sie diesen Ausbruch. Aber ich wollte Ihnen nur begreiflich machen, weshalb ich nicht sonderlich daran interessiert bin, den Menschen auf der Erde zu helfen.«

»Wären Sie vielleicht daran interessiert, den Menschen in Selene zu helfen?«, fragte Dan.

Sie reckte das Kinn. »Was meinen Sie damit?«

»Mit einem Fusionsantrieb wäre die Hydratgewinnung auf den kohlenstoffhaltigen Asteroiden unter dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt möglich. Sogar die Abschöpfung von Wasserdampf von Kometen.«

Sie ließ sich das für einen Moment durch den Kopf gehen. »Ich könnte mir auch vorstellen, dass sogar die Abschöpfung von Fusionsbrennstoff vom Jupiter möglich wäre.«

Dan starrte sie an. »Sapperlot, daran hatte ich gar nicht gedacht. Die Jupiteratmosphäre muss mit Wasserstoff- und Heliumisotopen geschwängert sein.«

Cardenas lächelte zurückhaltend. »Ich vermute, Sie würden ein beträchtliches Vermögen damit verdienen.«

»Ich habe angeboten, die Mission zum Selbstkostenpreis durchzuführen.«

Sie runzelte die Stirn. »Zum Selbstkostenpreis?«

»Ich möchte den Menschen auf der Erde helfen«, sagte er nach anfänglichem Zögern. »Es gibt zehn Milliarden von ihnen, abzüglich der vielen Millionen, die in den Fluten, durch Epidemien und Hungersnöte schon ums Leben gekommen sind. Die Menschen sind nicht alle schlecht.«

Cardenas wandte den Blick für einen Moment von ihm ab. »Ja, damit haben Sie wohl Recht«, sagte sie dann.

»Ihre Enkelkinder sind auch dort unten.«

»Das ist ein Tiefschlag, Mr. Randolph.«

»Dan.«

»Es ist trotzdem ein Tiefschlag, und Sie wissen das auch.«

Er lächelte sie an. »Ich schrecke auch vor ein paar Tiefschlägen nicht zurück, wenn ich dadurch zum Ziel komme.«

Sie erwiderte das Lächeln nicht. Doch dann sagte sie: »Ich werde die Mars-Arbeiten an meine Studenten delegieren. Zumal es sich im Wesentlichen nur noch um Routinearbeiten handelt. Ich werde im Lauf der Woche nach Selene zurückkehren.«

»Danke. Sie tun das Richtige«, sagte Dan.

»Das wird sich noch herausstellen.«

Er erhob sich vom Stuhl. »Ich glaube, wir werden einfach abwarten müssen, wohin das alles führt.«

»Stimmt«, sagte sie.

Dan schüttelte ihr zum Abschied die Hand und verließ das Büro. Man muss sofort den Rückzug antreten, wenn man sein Ziel erreicht hat. Die andere Seite darf keine Gelegenheit bekommen, es sich vielleicht doch noch anders zu überlegen. Er hatte Cardenas' Zustimmung, wobei es keine Rolle spielte, dass sie nur widerwillig erfolgt war.

In Ordnung, ich habe das Team, das ich brauche. Duncan und seine Mannschaft können auf der Erde bleiben. Cardenas wird die Bauarbeiten leiten.

Nun muss ich mich mit Humphries auseinander setzen.

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