Als ihr Pferd wieherte und mit den Hufen aufstampfte, ließ Kahlan ihre Hand an den Zügeln weiter nach oben gleiten, näher an die Trense, um zu verhindern, dass sich das Tier von der Stelle bewegte. Offenbar gefiel dem Pferd, was es da roch, ebenso wenig wie ihr selbst. Sie langte nach oben und strich dem Pferd sachte über die Unterseite seines Kinns, während sie hinter den Schwestern Ulicia und Cecilia wartete.
Ein schwacher, böiger Wind fuhr hoch oben in die Laubkronen der Pappeln und ließ die glänzenden Blätter im mittäglichen Licht silbrig schimmern. Fleckiges Sonnenlicht tanzte im Schatten der hohen Bäume über den grasbewachsenen Hügel, während weit droben einige wenige bauschig weiße Wolken den strahlend blauen Himmel sprenkelten. Dann schlug die Brise um, wehte plötzlich aus ihrem Rücken und brachte ein wenig Erleichterung, und das nicht nur von der drückenden Hitze. Kahlan gestattete sich einen etwas tieferen Atemzug.
Mit dem Finger entfernte sie Schweiß und Schmutz unter dem Metallring, der um ihren Hals lag. Sie wünschte sich, ein Bad nehmen oder wenigstens kurz in einen Bach oder See eintauchen zu können. Die sommerliche Hitze und der staubige Ritt hatten sich verschworen, ihr langes Haar in ein juckendes, verfilztes Durcheinander zu verwandeln. Allerdings war ihr klar, dass die Schwestern sich kein bisschen darum scherten, ob sie sich unbehaglich fühlte, und sie alles andere als erfreut reagieren würden, wenn sie um eine Gelegenheit bäte, sich, wie sie es gelegentlich taten, ein wenig frisch zu machen. Die Schwestern scherten sich nicht im Geringsten um Kahlans Bedürfnisse, und schon gar nicht um ihr Wohlbefinden. Sie war ihre Sklavin, weiter nichts; da war es völlig egal, ob der Ring, den sie um ihren Hals trug, scheuerte und ihre Haut wund rieb.
Während sie wartete, wanderten ihre Gedanken zu der Statue, die sie geopfert hatte, der kleinen Statuette, die sie in Lord Richard Rahls Palast hatte zurücklassen müssen. Obwohl sie keinerlei Erinnerung an ihre eigene Vergangenheit besaß, hatte sie sich diese Figur einer Frau mit langem, fließendem Haar und Gewand Zug für Zug eingeprägt. Ihre Seele, ihre ganze Körperhaltung mit ihrem durchgedrückten Rücken, den zu Fäusten geballten Händen und dem in den Nacken geworfenen Kopf, wie zum Trotz gegen irgendwelche unsichtbare Kräfte, die sie zu unterjochen suchten, war von stiller Erhabenheit.
Kahlan wusste nur zu gut, was für ein Gefühl es war, wenn unsichtbare Kräfte einen unterjochten.
Von der Stille der Hügelkuppe aus beobachteten sie, wie Schwester Armina sich einen Weg durch das offene Gelände unten bahnte. Sonst war niemand zu sehen. Das hohe, sachte in der Brise schwankende, sich wiegende Gras schien beinahe flüssig. Schließlich kam Schwester Armina auf ihrer kastanienbraunen Stute den Hang heraufgetrottet. Sie lenkte ihr Pferd herum und kam neben den anderen zum Stehen.
»Da sind sie nicht«, verkündete sie.
»Wie groß mag wohl ihr Vorsprung sein?«, fragte Schwester Ulicia. Schwester Armina hob einen Arm und zeigte. »Ich bin nicht viel weiter geritten als bis hinter diese Hügel dort. Ich wollte nicht riskieren, von einem der mit der Gabe Gesegneten bei Jagang erspäht zu werden. Aber nach meiner Einschätzung dürften die Nachzügler und Schlachtengänger höchstens vor ein bis zwei Tagen weitergezogen sein.«
Als die aus ihrem Rücken kommende Brise abflaute, hatte dies zur Folge, dass der Gestank erneut den Hügel heraufkroch. Kahlan rümpfte die Nase. Schwester Ulicia bemerkte es, enthielt sich aber eines Kommentars. Den Schwestern schien der Gestank überhaupt nichts auszumachen.
Abrupt wandte Schwester Ulicia sich ab und schob einen Stiefel in den Steigbügel. »Reiten wir los und werfen einen Blick hinter die Hügel jenseits der Stelle«, verkündete sie, während sie sich in ihren Sattel schwang.
Kahlan saß auf und folgte den drei anderen Frauen, als diese ihre Pferde den Hang hinabtraben ließen. Sie fand es seltsam, wie ungewöhnlich nervös die Frauen schienen. Normalerweise neigten sie bei allem, was sie taten, zu an Arroganz grenzender Unerschrockenheit, auf einmal aber benahmen sie sich überaus vorsichtig.
Links von ihnen ragten die zerklüfteten, bläulich grauen Umrisse eines hohen Gebirges auf. Dessen Felsenhänge und Wände waren so eindrucksvoll steil, dass es nur ganz wenige Stellen gab, an denen Bäume Halt gefunden hatten. Einige der Gipfel ragten so hoch auf, dass ihre Spitzen trotz des Sommers mit einer Schneeschicht bedeckt waren. Nach ihrem Aufbruch vom Palast des Volkes hatten sie einen Pass gefunden, durch den sie es hatten überqueren können, und seitdem waren Kahlan und die Schwestern dem Gebirge Richtung Süden gefolgt. Auf der gesamten Reise hatten die Schwestern es, wann immer möglich, vermieden, in die Nähe von Menschen zu geraten.
»Beeilen wir uns«, entschied Schwester Ulicia. »Wir werden der Hauptstraße, drüben auf der anderen Seite, ein Stück weit folgen, bis wir ihnen nahe genug sind, um uns ihres derzeitigen Standorts und der von ihnen eingeschlagenen Richtung ganz sicher sein zu können.«
Sie trieben ihre Pferde zu einem leichten Galopp an und ritten schweigend die Hügel hinab, verließen diese und gelangten schließlich in die Außenbezirke der Stadt. Diese war ganz offensichtlich um die mäandernde Biegung eines Flusses und den Knotenpunkt mehrerer größerer Straßen herum errichtet worden, die vermutlich Handelsrouten waren. Die größere der beiden Balkenbrücken hatte man niedergebrannt. Als sie im Gänsemarsch die schmale zweite Brücke überquerten, fiel Kahlans Blick hinunter in die Fluten. Aufgedunsene, mit dem Gesicht nach unten treibende Körper hatten sich im Uferschilf verfangen. Noch bevor sie sie überhaupt gesehen hatte, war die Luft bereits von einem derart durchdringenden Todesgestank erfüllt gewesen, dass ihr jegliches Interesse an einem kurzen Bad vergangen war. Sie wollte nichts als fort von diesem Ort.
Als sie die ersten Gebäude passiert hatten, hielt Kahlan sich einen Schal vor Nase und Mund. Sie glaubte, sich wegen des fauligen Gestanks verwesenden Fleisches übergeben zu müssen. Es schien merkwürdig, dass er so durchdringend war.
Kurz darauf fand sie den Grund dafür heraus.
Sie passierten Nebenstraßen, in denen sich die Körper zu Hunderten stapelten. Dazwischen lagen ein paar tote Hunde sowie einige Maultiere, deren Beine gerade und steif emporragten. Die Art, wie die Leichen zusammengepfercht in den engen Gassen lagen, schien Kahlan ein Anzeichen dafür zu sein, dass man die Menschen, um ein Entrinnen unmöglich zu machen, auf engstem Raum zusammengetrieben und anschließend abgeschlachtet hatte. Die meisten toten Körper, von Mensch als auch Tier, waren von grässlichen, klaffenden Wunden entstellt. Aus einigen der Toten ragten noch abgebrochene Lanzen heraus, während andere offenbar mit Pfeilen getötet worden waren. Die meisten schienen jedoch einfach totgehackt worden zu sein. Und noch etwas fiel ihr an ihnen auf: Es waren ausnahmslos ältere Menschen.
Die Gebäude in diesem Teil der Stadt waren größtenteils niedergebrannt worden, nur an wenigen Stellen stieg noch sich kräuselnder Rauch über einigen der größeren Trümmerhaufen auf. Das schwarz verkohlte Gebälk erinnerte an die versengten Skelette irgendwelcher Ungeheuer. Die Brände schienen vor ein oder zwei Tagen erloschen zu sein.
Im Schritttempo lenkten sie ihre Pferde eine schmale gepflasterte Straße zwischen zweistöckigen, düster zu beiden Seiten aufragenden Gebäuden entlang und sahen sich in stummer Würdigung der Zerstörung um. Was von den Gebäuden noch stand, war geplündert worden. Türen waren entweder eingedrückt worden oder lagen nahebei auf der Straße. Kahlan sah nicht ein einziges unzerbrochenes Fenster. Über ein paar der winzigen, zur Straße hinausgehenden Baikonen hingen Vorhänge drapiert. Neben den hölzernen Trümmerteilen der Türrahmen und den Glassplittern waren die Straßen mit ganz alltäglichen Gegenständen übersät: beliebige Kleidungsstücke, dort ein blutverschmierter Stiefel, da Trümmer zerbrochenen Mobiliars, abgebrochene Waffen, zersplitterte Wagenteile. Kahlan sah eine Puppe mit gelbem Garn als Haar platt gedrückt mit dem Gesicht nach unten liegen, auf dem Rücken einen Hufabdruck. Sämtliche Gegenstände vermittelten den Anschein, als seien sie von vielen Händen aufgelesen, für wertlos befunden und anschließend wieder fortgeworfen worden.
Doch erst ein tapferer Blick in die Gebäude, die sie passierten, offenbarte Kahlan das eigentliche Grauen, und das bestand nicht bloß in den Leichen der ermordeten Stadtbewohner. Es gab Leichen von Menschen, die offenbar einfach so, nur zum Spaß oder aus purer Brutalität, hingemetzelt worden waren. Anders als die Leichen, die sich in den Seitenstraßen stapelten, waren dies keine älteren Menschen. Dem Aussehen nach könnten es Leute gewesen sein, die versucht hatten, ihre Geschäfte oder Heime zu schützen. Durch ein zersplittertes Schaufenster sah sie einen Mann, bekleidet mit jener Art Schürze, wie Flickschuster sie trugen, den man an seinen Handgelenken an die Wand genagelt hatte. Mitten aus seiner Brust ragten Dutzende Pfeile, was ihm das Aussehen eines grotesken Nadelkissens verlieh. Mund und beide Augen waren von jeweils einem Pfeil durchbohrt. Der Mann war nicht nur zum Scheibenschießen missbraucht, sondern Opfer eines abartigen Humors geworden. In anderen dunklen Gebäuden sah Kahlan Frauen, die nur zu offenkundig vergewaltigt worden waren. Ein einzelner, noch über den Arm gestülpter Ärmel, das war alles, was einer am Boden liegenden Frau geblieben war, um ihre Blöße zu bedecken. Ihre Brüste waren verstümmelt. An einer anderen Stelle lag ein erkennbar noch nicht zur erwachsenen Frau herangereiftes Mädchen, alle viere von sich gestreckt, auf einem Tisch, das Kleid bis zur Hüfte hochgeschoben. Die Kehle war ihr bis zur Wirbelsäule durchtrennt worden, ihre Beine waren gespreizt, und als letzten Akt der Erniedrigung hatte man einen Besenstiel in ihr stecken lassen. Ein Gefühl der Abgestumpftheit bemächtigte sich Kahlans, als sich ihr ein grausiger Anblick nach dem anderen bot, ein jeder von solch gespenstischer Barbarei, dass sie sich einfach nicht vorstellen konnte, was für ein Schlag Männer zu solchen Gräueltaten fähig war. Kahlan war noch nie so froh gewesen, einen Ort hinter sich zu lassen, wie jetzt, da sie sich endlich aus der Stadt hinausbegaben und eine nach Südosten führende Straße nahmen. Die Straße erwies sich jedoch nicht als die erhoffte Möglichkeit, den Gräueln der Stadt zu entrinnen. Entlang der Strecke waren die Gräben immer wieder mit den Leichen unbewaffneter junger Männer oder älterer Jugendlicher gefüllt, die vermutlich hingerichtet worden waren - sei es als Denkzettel für andere oder einfach nur aus Lust am Töten, wegen eines Fluchtversuchs oder weil sie gegen den Gedanken der Sklaverei aufbegehrt hatten.
Kahlan schwindelte und ihr war heiß. Sie befürchtete, sich übergeben zu müssen. Die Art, wie sie im Sattel schwankte, trug zusätzlich zu ihrem Unwohlsein bei. Der Gestank von Tod und verbranntem Fleisch verfolgte sie, als sie bei strahlendem Sonnenschein durch die Hügel auf der anderen Seite der Stadt ritten. Der Geruch war so durchdringend und allgegenwärtig, dass sie das Gefühl hatte, er habe sich in ihren Kleidern festgesetzt und trete sogar mit dem Schweiß aus ihren Poren.
Sie bezweifelte, jemals wieder schlafen zu können, ohne von Albträumen verfolgt zu werden.
Kahlan wusste nicht, wie der Name der Stadt gelautet hatte, jetzt jedenfalls existierte sie nicht mehr. Nicht ein Mensch dort hatte noch gelebt. Was immer irgendwie von Wert war, war entweder zerstört oder zur Beute worden. Die Zahl der Leichen, so immens sie auch war, sagte ihr, dass viele Stadtbewohner - hauptsächlich die Frauen, jedenfalls solche im geeigneten Alter - als Sklaven verschleppt worden waren. Nachdem sie gesehen hatte, was den Frauen widerfahren war, die man tot in der Stadt zurückgelassen hatte, konnte sie sich lebhaft ausmalen, was die verschleppten Frauen erwartete.
So weit die Augen reichten, waren sowohl die sich weitende Ebene als auch die Hügel zu beiden Seiten von Menschenmassen zertrampelt worden, deren Zahl mehrere Hunderttausend ganz sicher weit überstieg. Die Grasnarbe war nicht einfach nur unter zahllosen Stiefeln, Hufen und Wagenrädern platt gewalzt, sondern unter dem Gewicht unvorstellbarer Horden zu Staub zermalmt worden. Der Anblick rückte das Ausmaß jener Horden, die durch die Stadt gezogen waren, in ein anderes Licht und war in gewisser Hinsicht noch grauenerregender als die gespenstischen Schauplätze des Todes selbst. Eine Streitmacht dieses Ausmaßes grenzte an eine Naturgewalt, sie kam einem gewaltigen Unwetter gleich, das auf seinem Weg durch das Land eine Schneise völliger und erbarmungsloser Zerstörung schlug.
Als sie sich später an diesem Tag dem Kamm eines Hügels näherten, waren die Schwestern auf einmal peinlich darauf bedacht, die tief stehende Sonne im Rücken zu haben, sodass ein sich vor ihnen befindender Beobachter genau in sie hineinschauen musste, um sie zu erspähen. Schwester Ulicia ließ ihr Pferd langsamer gehen, stellte sich in ihre Steigbügel und reckte sich für einen ausgiebigen Rundblick, ehe sie auch den anderen das Zeichen zum Absitzen gab. Alle zurrten sie ihre Pferde an den Überresten einer alten, knorrigen Fichte fest, die ein Blitz in zwei Hälften gespalten hatte. Schwester Ulicia gab Kahlan Anweisung, dicht hinter ihnen zu bleiben. Am Rand der Erhebung kauerten sie sich lautlos in das von Unkraut durchsetzte Gras und erhaschten dann zum allerersten Mal einen Blick auf das, was die gefallene Stadt heimgesucht hatte. In dunstiger Ferne erstreckte sich über die gesamte Breite des diesigen Horizonts ein, so schien es auf den ersten Blick, schlammiges braunes Meer; tatsächlich jedoch handelte es sich um den dunklen, schemenhaften Schatten einer Armee von so gewaltigen Ausmaßen, dass jeder Versuch einer Schätzung zum Scheitern verdammt war. Herangetragen vom Wind, konnte Kahlan in der spätnachmittäglichen Stille gerade eben das ferne, das Blut gefrieren lassende, von Frauenschreien und derbem Soldatengelächter durchsetzte Gejohle von Männerstimmen hören, das von dem Mob herüberwehte.
Allein schon das schiere Gewicht solch ungeheurer Massen hätte die Verteidigungsanlagen jeder Stadt zusammenbrechen lassen, und jedweder bewaffnete Widerstand wäre von einer Armee dieses gewaltigen Ausmaßes nahezu unbemerkt geblieben. Nichts vermochte eine derartige Zusammenballung von Soldaten aufzuhalten.
Doch so sehr diese Armee auch eine Masse, ein Mob, ein Ding zu sein schien, sie wusste, es war verkehrt, sie sich anhand dieser Begriffe vorzustehen, vielmehr war es eine Gruppe aus lauter Einzelwesen. Diese Männer waren nicht als Ungeheuer auf die Welt gekommen. Jeder einzelne von ihnen war aus Überzeugung für eine Sache und aufgrund einer persönlichen Entscheidung zum Mörder geworden, sie alle hatten sich unter dem Banner perverser Glaubensüberzeugungen zusammengefunden, die ihre Barbarei rechtfertigte.
Sie alle waren Individuen, die - vor die Wahl gestellt - die unveräußerliche Würde des Lebens bewusst abgelegt und sich stattdessen dafür entschieden hatten, Handlanger des Todes zu sein. Das Gemetzel vorhin in der Stadt, die Gräuel, die sie gesehen hatte all das hatte Kahlan mit Abscheu und Entsetzen erfüllt. Eine Zeit lang hatte sie kaum atmen können, nicht nur wegen des Gestanks des Todes, sondern auch wegen ihrer tränenreichen Verzweiflung über diese gedankenlose Brutalität, diese ungeheuerliche und vorsätzliche Verkommenheit.
Jetzt aber, als sie die Ursache dieses Blutbads vor sich sah, jene gewaltige Streitmacht von Soldaten, die diese Gräueltaten alle freiwillig verübt hatten, schmolzen all diese verzweifelten Gefühle dahin, und an ihre Stelle trat ein schwelender Zorn, jene Art tief aus dem Innern kommende Wut, die ein Mensch, davon war sie überzeugt, nicht oft im Leben verspürt.
»Das ist Jagang, kein Zweifel«, verkündete Schwester Ulicia schließlich mit Bitterkeit in der Stimme.
Schwester Armina nickte. »Und wenn wir nach Caska wollen, müssen wir an ihm vorbei.«
Mit einer Armbewegung wies Schwester Ulicia auf das Gebirge linker Hand. »Mit all ihren Pferden, Wagen und dem ganzen Gerät ist seine Armee nicht imstande, die schmalen Pässe zwischen den Gipfeln dort zu passieren, wir dagegen schon. In Anbetracht seiner Langsamkeit wird es für uns ein Leichtes sein, die Pässe zu überqueren und anschließend nach Caska hinabzusteigen, lange ehe sie das Gebirge im Süden umgehen können, um anschließend in D’Hara einzumarschieren.«
Schwester Cecilia starrte zum fernen Horizont hinüber. »Dagegen hat die D’Haranische Armee nicht den Hauch einer Chance.«
»Das ist nicht unser Problem«, gab Schwester Ulicia zurück.
»Aber was ist mit unseren Banden zu Richard Rahl?«, fragte Schwester Armina.
»Wir sind es doch nicht, die Lord Rahl angreifen«, erwiderte Schwester Ulicia. »Jagang hat es auf ihn abgesehen und will ihn vernichten, nicht wir. Wir werden dereinst über die Macht der Ordnung gebieten, und dann gewähren wir Richard Rahl, was nur in unserer Macht zu gewähren steht. Das reicht, um unsere Bande zu erhalten und uns vor dem Traumwandler zu schützen. Jagang und seine Armee sind nicht unser Problem, und was immer sie vorhaben, wir haben es nicht zu verantworten.«
Kahlan erinnerte sich, wie sie sich im Palast des Volkes gefragt hatte, wie dieser Mann wohl sein mochte. Obwohl sie ihn gar nicht kannte, hatte sie plötzlich Angst um ihn und sein Volk, das sich dem, was ihm bevorstand, würde stellen müssen.
»Aber sie werden es sein, wenn sie vor uns nach Caska gelangen«, gab Schwester Cecilia zu bedenken. »Wir werden dort nicht nur Tovi einholen, Caska ist auch die einzige Lagerstätte, zu der wir derzeit Zugang haben.«
Schwester Ulicia tat den Einwand mit einer kurzen Handbewegung ab. »Bis Caska haben sie noch einen weiten Weg vor sich. Wir dagegen können ohne weiteres abkürzen und sie überholen, indem wir das Gebirge kurzerhand überqueren, statt erst hinabzusteigen, es zu umgehen und dann wieder hinaufzusteigen, so wie sie.«
»Du glaubst nicht, sie könnten ein schnelleres Marschtempo anschlagen?«, fragte Schwester Armina. »Womöglich kann Jagang es gar nicht erwarten, Lord Rahl und den D’Haranischen Streitkräften den Rest zu geben.«
Der bloße Gedanke veranlasste Schwester Ulicia zu einem ärgerlichen Schnauben. »Jagang weiß, dass die D’Haranische Armee ihm nicht ausweichen kann - Richard hat gar keine andere Wahl mehr, als seine Stellung zu behaupten und zu kämpfen. Die Sache ist so gut wie entschieden. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.«
»Der Traumwandler hat keine Eile - das wäre mit einer so riesigen und schwerfälligen Armee auch gar nicht möglich. Selbst wenn sie imstande wären, ihr Marschtempo zu erhöhen, haben sie eine sehr viel weitere Strecke zurückzulegen, sodass er trotzdem nicht vor uns in Caska eintreffen könnte. Zudem ist Jagangs derzeitige Armee immer noch dieselbe, mit der er Jahrzehnte zuvor die Alte Welt erobert und die schon den gesamten Krieg bestritten hat. Sie erhöht ihr Marschtempo nie. Diese Truppen sind wie die Jahreszeiten - sie bewegen sich mit unaufhaltsamer Kraft, aber überaus langsam.«
Sie warf den beiden Schwestern einen viel sagenden Blick zu.
»Außerdem haben sie vor Kurzem sämtliche Frauen aus der Stadt verschleppt. Jagangs Soldaten werden es kaum erwarten können, sich mit ihrer frischen Siegesbeute zu vergnügen.«
Aus Schwester Arminas Gesicht wich alles Blut. »Wer wüsste das besser als wir.«
»Jagang und seine Soldaten werden es nie müde, sich an ihren weiblichen Gefangenen zu vergehen«, sagte Schwester Cecilia halb zu sich selbst.
Schlagartig kehrte Schwester Arminas Gesichtsfarbe zurück. »Es wäre mir ein Vergnügen, Jagang aufzuknüpfen und mich nach Lust und Laune an ihm zu vergehen.«
»Es wäre uns allen ein großes Vergnügen, diesen Kerlen eine Lektion zu erteilen«, sagte Schwester Ulicia, den Blick in die Ferne gerichtet, »aber wir haben Wichtigeres zu tun.« Ein süßliches Lächeln ging über ihr Gesicht. »Eines Tages aber ...«
Eine Zeit lang schwiegen die drei Schwestern und ließen den Blick über die unermesslichen Horden schweifen, die sich über den Horizont erstreckten.
»Eines Tages«, fuhr Schwester Cecilia mit leiser rauer Stimme fort, »werden wir die Kästchen der Ordnung öffnen, und dann werden wir die Macht besitzen, dafür zu sorgen, dass dieser Mann sachte im Wind baumelt.«
Schwester Ulicia wandte sich ab und begab sich zu den Pferden zurück. »Wenn wir jemals eines der drei Kästchen öffnen wollen, werden wir zuerst an Tovi und das letzte Kästchen herankommen müssen - und was sich sonst noch in Caska findet. Also vergesst Jagang und seine Armee. Fürs Erste brauchen wir uns nicht mehr mit ihnen abzugeben - bis der Tag kommt, da wir die Macht der Ordnung entfesselt haben und wir uns den Spaß erlauben können, uns ganz persönlich an dem Traumwandler zu rächen.«