37

Schwester Ulicia stieß die Türflügel auf und marschierte in den stockfinsteren Raum dahinter. »Tovi? Was machst du hier im Dunkeln? Schläfst du?« Verärgerung schwang in ihrer Stimme mit.

»Wach auf, wir sind es. Wir haben es endlich geschafft.«

Da die Schwestern immer noch die Flammen auf den Handflächen trugen, gab es gerade genug Licht, um die Fackeln in den Halterungen an den Wänden zu erkennen, mehr jedoch nicht. Ihre Flammen schickten die Schwestern zu den kalten Fackeln, die sich mit einem heißen Zischen entzündeten. Nach und nach durchflutete Licht den Raum, der nicht besonders groß war. Auch hier waren Regale aus dem strohfarbenen Fels gehauen.

Auf der anderen Seite des Raums stand ein schwerer Tisch aus Eisen und Holz. In dem hohen verzierten Stuhl dahinter saß ein stämmiger Mann, der sie, das Kinn auf den Daumen gestützt, beobachtete. Es war der böseste Mann, den Kahlan je gesehen hatte. Die drei Schwestern erstarrten und rissen die Augen auf, aus denen Verwirrung, Unglauben und Schreck sprachen.

Der mächtig gebaute Mann hockte seelenruhig hinter dem Tisch nd betrachtete die drei Schwestern. Dass er nicht sprach, sich nicht regte und überhaupt keine Eile zu haben schien, erhöhte nur die spürbare Gefährlichkeit, die von ihm ausging. Außer dem Knistern der Flammen war nichts zu hören.

Dieser Mann mit seinen dicken muskulösen Armen und dem Stiernacken stellte die Verkörperung reiner Bedrohlichkeit dar. Er trug kein Hemd, nur eine Lammfellweste, die den Blick auf die kräftigen Schultern und die enorme Brust freigab. Silberbänder umspannten die Oberarmmuskeln. An jedem der dicken Finger trug er einen Ring aus Gold oder Silber. Von der kahl geschorenen Kopfhaut spiegelte der Fackelschein wider. Kahlan konnte sich den Mann nicht mit Haaren vorstellen; das hätte das Einschüchternde seiner Erscheinung gemindert. Ein Goldring im linken Nasenflügel hielt eine Kette, die bis zu einem weiteren Ring im linken Ohr reichte. Abgesehen von den zwei Zoll langen Zöpfen des Schnurrbarts, die von den grinsenden Mundwinkeln herabhingen, war er glatt rasiert; ein weiterer Zopf wuchs in der Mitte des Kinns. So erschreckend, so Angst einflößend und so unbarmherzig dieser Mann aussah, waren doch erst die Augen der wahre Albtraum. Sie enthielten überhaupt kein Weiß. Stattdessen waren sie mit trüben Formen durchzogen, die sich in ständiger Bewegung befanden. Trotzdem zweifelte Kahlan nicht daran, dass sein Blick auf ihr ruhte. Sein Starren gab ihr das Gefühl, nackt zu sein. Sie fürchtete, ihre Knie könnten unter der aufziehenden Panik nachgeben. Als er den grimmigen Blick zu den Schwestern weiterschweifen ließ, streckte Kahlan die Hand aus, ohne hinzuschauen, und zog Julian schützend in ihren Arm. Sie spürte, wie das Mädchen zitterte. Allerdings schien Julian keineswegs überrascht zu sein, den Mann hier vorzufinden.

Kahlan verstand nicht, warum die Schwestern schwiegen und nicht handelten. Angesichts der unverhüllten Drohung, die der Mann darstellte, hätte sie erwartet, dass er längst in Flammen aufgegangen wäre, einfach nur, um kein Risiko einzugehen. Die Schwestern hatten bisher nie Scheu gezeigt, jeden zu töten, der ihnen auch nur das geringste Ungemach bereiten könnte. Und dieser Mann bedeutete mehr als Ungemach. Er sah aus, als könnte er ihre Köpfe in einer Faust zermalmen. Sein Blick verkündete, dass er an solche Dinge durchaus gewöhnt war.

Hinter Kahlan traten zwei stämmige Kerle aus den dunklen Ecken und schlössen die Flügeltür. Auch sie sahen grimmig aus und trugen wilde Tätowierungen im Gesicht. Die kräftigen Muskeln waren schweißnass und rußig, als würden die Männer sich nie den Rauch der öligen Feuer abwaschen. Als sie an Kahlan vorbeigingen und die Tür schlössen, roch sie den scharfen säuerlichen Schweiß durch das brennende Pech.

Diese beiden schienen auf jede Möglichkeit vorbereitet zu sein. Vor der Brust kreuzten sich schwere und mit Nieten beschlagene Lederriemen, in denen alle möglichen Messer steckten. Äxte und Streitkolben hingen an ihren Waffengurten und glitzerten im Fackelschein. Auch die Gesichter waren mit Metallstacheln besetzt: in den Ohren, den Augenbrauen und dem Nasenrücken. Fast sah es aus, als hätte man ihnen Nägel durch diese Teile des Gesichts geschlagen. Zudem waren sie ebenfalls kahl geschoren. Diese zwei Männer wirkten nicht vollends menschlich - und schon gar nicht zivilisiert, sondern eher wie die absichtliche Verfremdung von Menschen, die von Stahl und Ruß lebten und aus tierischen Teilen bestanden.

Obwohl sie Kurzschwerter trugen, zogen sie diese nicht. Die Schwestern flößten ihnen offensichtlich keinerlei Angst ein.

»Kaiser Jagang ...« Schwester Ulicia versagte vor Schreck die Stimme.

Kaiser Jagang!

Der Schock, den diese beiden Wörter auslösten, fuhr Kahlan bis in die Tiefen ihrer Seele.

Irgendetwas an ihrer Vorstellung von diesem Mann, die sich gebildet hatte, indem sie seine Armee aus der Ferne und einige der Orte, wo sie gewütet hatte, aus der Nähe sah, ließ Kahlan ihn mehr fürchten als die Schwestern. Im Gegensatz zu ihnen fügte seine Männlichkeit der Bedrohlichkeit, die er verkörperte, eine fremdartige Dimension hinzu.

Soweit sie sich erinnern konnte, hatten sie alles getan, um sich von Jagang fernzuhalten, und nun saß er hier genau vor ihnen. Er wirkte gelassen, wie ein Mann, der alles in der Hand hatte. Sorgen schienen ihn nicht zu bedrücken. Nicht einmal die Schwestern der Finsternis beunruhigten ihn.

Diese Begegnung fand nicht zufällig statt, daran zweifelte Kahlan nicht. Man hatte sie herbeigeführt.

Ein Großteil der Angst vor Jagang rührte von den Gesprächen der Schwestern her, die Kahlan mit angehört hatte. Sie waren diesem Mann so gut wie nur eben möglich ausgewichen. Doch gab es da noch etwas, das viel tiefer reichte, einen düsteren Schrecken, der in ihrer Seele wurzelte, fast wie eine Erinnerung, die sie nicht greifen konnte und die sich nur als dunkler Schatten offenbarte. Kahlan warf einen verstohlenen Blick auf die Schwestern, die wie erstarrt dastanden. Ihre Gesichter waren aschfahl geworden. Schwester Ulicia trug ihr blaues Kleid, das sie für das Wiedersehen mit Tovi angelegt hatte. Der Stoff war nun staubig, nicht nur vom Aufstieg zu diesem Plateau, sondern auch vom Abstieg in sein Innerstes. Schwester Armina trug ein Kleid mit weißen Rüschen an den Ärmeln und am tiefen Halsausschnitt. Unter diesen Umständen, in einer staubigen Gruft und vor diesen boshaften Untieren, wirkten die Rüschen fast lächerlich. Schwester Cecilia, die älter und sonst außerordentlich beherrscht war, sah mit ihrem grauen Lockenhaar so aus, als würde sie im nächsten Moment das Reich des Wahnsinns betreten.

Jagang beobachtete die drei Schwestern aus seinen trüben Augen. Er genoss den Moment, erfreute sich an ihrem Entsetzen. Falls sie imstande gewesen wären, in dieser Situation etwas zu unternehmen, hätten sie es längst getan.

Schwester Armina fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Exzellenz«, brachte sie gezwungen hervor. Erbärmlich, dachte Kahlan angesichts dieses Versuchs, respektvoll zu grüßen, denn es klang nach Panik und nicht nach Achtung.

»Exzellenz«, fiel Schwester Cecilia ein, kaum fester. Kahlan hatte die Schwestern bei raren Gelegenheiten vorsichtig erlebt, manchmal sogar wachsam, aber nie ängstlich. Dermaßen eingeschüchtert hätte sie sich die drei niemals vorstellen können. Stets wirkten sie, als hätten sie alles in der Hand. Und nun war diese gewohnte Überheblichkeit wie weggeblasen!

Alle drei Schwestern verneigten sich tief, mit ruckartigen Bewegungen wie Marionetten.

Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatten, schluckte Schwester Ulicia verängstigt. Doch ihre Neugier und das unerträgliche Schweigen brachten sie dazu, das Wort zu ergreifen.

»Exzellenz, wieso seid Ihr hier?«

Der sanfte, unschuldig weibliche Ton ließ Jagangs boshaftes Starren in ein Grinsen übergehen.

»Ulicia, Ulicia, Ulicia ...« Er seufzte tief. »Deine Dummheit hat wirklich monströse Ausmaße.«

Alle drei Frauen gingen auf ein Knie, als wären sie von einer unsichtbaren Faust getroffen. Ihren Kehlen entrang sich leises Wimmern.

»Bitte, Exzellenz, wir wollten nicht...«

»Ich weiß genau, was ihr wolltet. Ich weiß alles, was sich in euren Köpfen befindet, bis zur letzten schmutzigen Einzelheit.«

So erschüttert hatte Kahlan Ulicia nie zuvor gesehen. »Exzellenz ... ich verstehe nicht...«

»Natürlich nicht«, sagte er. »Deshalb kniet ihr jetzt vor mir und nicht ich vor euch, wie es euch lieber wäre, nicht wahr, Armina?«

Als sein Blick auf Schwester Armina fiel, stieß sie einen unterdrückten Schrei aus. Blut troff aus ihren Ohren und rann über das schneeweiße Fleisch ihres Halses. Abgesehen von dem leichten Zittern rührte sie sich nicht.

Jillian klammerte sich an Kahlan. Sie zog die Kleine fester an sich heran und versuchte, sie zu trösten, obwohl das im Angesicht eines solchen Mannes eine aussichtslose Aufgabe war.

»Ihr habt also Tovi?«, fragte Schwester Ulicia, die mit der Wendung, welche die Ereignisse genommen hatten, noch immer nicht zurechtkam.

»Tovi!« Jagang lachte barsch. »Tovi! Tovi ist schon lange, lange tot.«

Schwester Ulicia starrte ihn entsetzt an. »Sie ist tot?«

Er machte eine wegwerfende Geste. »Wurde von einem höchst untreuen und verräterischen Freund ins Leben nach dem Tode geschickt. Mir scheint, der Hüter der Unterwelt dürfte höchst verärgert über Tovis Scheitern sein. Ihr habt die ganze Ewigkeit, um seine Wut zu erforschen.« Das Grinsen kehrte zurück, während er die Frauen anblickte. »Aber erst, nachdem ich in diesem Leben mit euch fertig bin.«

Schwester Ulicia neigte den Kopf. »Gewiss, Exzellenz.«

Kahlan bemerkte, dass Schwester Armina sich eingenässt hatte. Schwester Cecilia erweckte den Eindruck, sie würde im nächsten Moment in Tränen ausbrechen - oder zu schreien beginnen.

»Exzellenz«, wagte sich Schwester Ulicia vor, »wie könnt Ihr ... ich meine, bei unseren Banden.«

»Eure Bande!« Jagang brüllte abermals vor Lachen und schlug auf den Tisch. »Ach, eure Bande zu Lord Rahl. Eure anrührende Treue zum Lord Rahl, die euch vor meinen Fähigkeiten als Traumwandler ›schützt‹.«

Kahlan verlor den Mut, als sie hörte, dass die Schwestern in einem Bündnis mit dem Lord Rahl standen. Aus irgendeinem Grunde hatte sie mehr von diesem Unbekannten gehalten. Ihren Irrtum einzusehen war schmerzlich.

»›Wir sind es doch nicht, die Lord Rahl angreifen‹«, sagte nun Jagang mit Fistelstimme und rang die Hände, während er höhnisch Ulicia nachahmte. »›Jagang hat es auf ihn abgesehen und will ihn vernichten, nicht wir. Wir werden einst über die Macht der Ordnung gebieten, und dann gewähren wir Richard Rahl, was nur in unserer Macht zu gewähren steht. Das reicht, um unsere Bande zu erhalten und uns vor dem Traumwandler zu schützen.‹«

Das weibische Nachahmen war zu Ende. »Eure Treue und Ergebenheit zu Lord Rahl sind wahrlich ergreifend.«

Dann krachte seine Faust auf den Tisch. Sein Gesicht schwoll vor Zorn rot an. »Glaubt ihr dummen Weiber tatsächlich, diese Bande zu Lord Rahl könnten euch vor Schaden bewahren?«

Kahlan erinnerte sich an ein Gespräch der Schwestern, die sich über das Gleiche unterhalten hatten, und schon damals hatte sie nichts verstanden. Warum sollte Richard Rahl irgendetwas mit diesen bösartigen Frauen zu schaffen haben und sogar einen Pakt mit ihnen eingehen? Konnte das ernsthaft stimmen? War er möglicherweise keinen Deut besser als sie?

Eines ergab jedoch gar keinen Sinn. Wenn sie sich ihm verschworen hatten, warum stahlen sie dann die Kästchen aus seinem Palast?

»Aber die Magie der Bande ...« Schwester Ulicia versagte nach und nach die Stimme.

Jagang erhob sich. Den Schwestern stockte der Atem, und ihr Zittern wurde heftiger. Kahlan glaubte, wenn sie gekonnt hätten, wären sie wenigstens noch einen Schritt und vermutlich viel weiter zurückgewichen.

Er schüttelte den Kopf, als könnte er solche Dummheit nicht fassen.

»Ulicia, ich war in deinem Verstand und habe alles mit angesehen. Ich war an jenem Tag Vorjahren dabei, als du das Komplott gegen Richard Rahl vorgeschlagen hast. Ich muss zugeben, eigentlich habe ich nicht geglaubt, dass ihr es ernst meintet. Wie konntet ihr so dumm sein und denken, durch eine solche Vereinbarung würdet ihr eure Freiheit von mir gewinnen?«

»Aber es hätte gelingen können.«

»Nein. Es hätte niemals gelingen können. Das Ganze war bloß eine Idee, der es an jeglicher Vernunft mangelte. Ihr wolltet es einfach glauben.«

»Ihr seid in unseren Verstand eingedrungen? An jenem Tag?«, fragte Schwester Cecilia. »Warum habt Ihr uns dann in dem Glauben gelassen, wir wären erfolgreich?«

Er richtete den düsteren Blick auf sie. »Erinnerst du dich nicht mehr, was ich dir ganz am Anfang gesagt habe, an dem Tag, an dem ihr zum ersten Mal vor mir standet? Kontrolle, habe ich gesagt, ist wichtiger als Töten. Natürlich hätte ich euch sechs umbringen können, aber was hätte es mir genützt? Solange ihr unter meinem Einfluss steht, bedeutet ihr für mich keine Bedrohung und seid auf vielerlei Weise von Nutzen.

Nein, natürlich erinnerst du dich nicht, denn stattdessen hast du dich für schlau genug gehalten, um mich mit dieser verdrehten und jeglicher Logik entbehrenden Vorstellung von den Banden austricksen zu können. Für zu schlau, um überlistet zu werden, und doch steht ihr jetzt wieder vor mir. Und dabei hatte ich euch die ganze Zeit in der Gewalt.«

»Und trotzdem ... habt Ihr uns einfach nach Belieben gewähren lassen.«

Jagang zuckte mit den Schultern und trat um den Tisch. »Ich hätte euch jederzeit aufhalten können, wann immer ich wollte. Ich wusste, ihr steht unter meinem Einfluss. Aber was hätte ich dabei gewonnen? Noch einige Schwestern der Finsternis mehr, und von denen hatte ich schon genug - wenngleich ihre Anzahl inzwischen stark geschwunden ist.« Er beugte sich zu ihnen hinunter. »Euresgleichen hat den Drang, gern für die Glaubensgemeinschaft der Ordnung das Leben mit dem Tode zu tauschen.

Ihr hingegen«, sagte Jagang und richtete sich auf, »wart viel interessanter. Mit euch hatte ich Schwestern der Finsternis, die Pläne verfolgten.« Er tippte sich mit dem dicken Zeigefinger an die Schläfe. »Abwegige Pläne und das Wissen, sie in die Tat umzusetzen.

Ein Leben lang habt ihr in den Gewölben unter dem Palast der Propheten Wissen angehäuft, aus Tausenden von Büchern, die es nun nicht mehr gibt. Mochten eure Pläne manchmal noch so unvernünftig sein - bedenkt nur eure gegenwärtige Lage -, so wart ihr doch im Besitz des im Laufe von Jahrzehnten erlernten Wissens, und natürlich bedeutete es nicht, dass nicht manche eurer Pläne durchführbar gewesen wären.«

»Ihr habt unsere Pläne also immer gekannt? Von dem Tag an mit Richard Rahl?«

Jagang funkelte Schwester Ulicia an. »Gewiss kannte ich sie. Ich wusste in dem Moment davon, in dem ihr sie ausgeheckt habt.« Er senkte die Stimme bedrohlich. »Ihr habt gedacht, ich könne mich nur in die Träume der Menschen schleichen. Ein Irrtum. Ihr habt geglaubt, ich wäre nicht da, wenn ihr wach seid. War ich aber. Wenn ich einmal in deinen Kopf eingedrungen bin, Ulicia, bin ich immer da.

Was du auch denkst und wann, ich bin Zeuge. Bei jedem noch so kleinen schmutzigen Gedanken. Bei jeder Handlung, bei jedem schändlichen Wunsch. So, als ob du es laut ausgesprochen hättest. Nur weil ich dich nicht auf meine Gegenwart aufmerksam gemacht habe, hast du dummerweise geglaubt, ich sei nicht da. Aber ich war da.« Er drohte ihr mit dem Finger. »Oh, Ulicia, ich war da. Als ihr Richard Rahl von eurem Plan erzählt habt, als ihr ihm Treue schwören wolltet im Austausch gegen jemanden, dem er sein Herz geschenkt hatte, nun, da konnte ich kaum glauben, dass ihr tatsächlich gedacht habt, es könne funktionieren.«

Aus irgendeinem Grunde erfüllte es Kahlan mit Traurigkeit, als sie hörte, Richard Rahl habe jemandem sein Herz geschenkt. Seit jenem Tag, an dem sie in seinem wunderschönen Garten gewesen war, spürte sie eine tiefe Verbundenheit zu ihm, und wenn es sich auch nur um die gemeinsame Liebe zur Natur handelte, zu allem, das wuchs, zur Welt des Lebens. Nun erfuhr sie, dass er mit den Schwestern der Finsternis im Bunde stand und jemandem sein Herz geschenkt hatte. Wieder fühlte sie sich wie ein vergessener Niemand. Was hatte sie sich nur gedacht?

»Aber ... aber«, stammelte Schwester Ulicia. »Der Plan hat funktioniert ...«

Jagang schüttelte den Kopf. »Treue zu euren Bedingungen, Treue, obwohl ihr weiter an seiner Vernichtung arbeiten wolltet, obwohl ihr euch für alles einsetzen wolltet, gegen das er steht, Treue, obwohl ihr weiterhin an dem Schwur gegenüber dem Hüter der Unterwelt festgehalten habt, Treue, die aus euren wählerischen, selbstsüchtigen Wünschen entstand. Genau das sind sie. Wünsche. Wünsche verwandeln Sehnsüchte nicht einfach in Wirklichkeit, nur weil man es will.«

Kahlan war zumindest ein wenig erleichtert, dass die Schwestern die Vernichtung des Lord Rahl weiterhin verfolgten. Vielleicht war er doch kein ernsthafter Verbündeter der Schwestern. Möglicherweise wurde er einfach, wie Kahlan selbst, gegen seinen Willen ausgenutzt.

»Ich meine, wenn ihr euren Glauben schon aus der leeren Luft gegriffen habt, Ulicia, warum habt ihr euch nicht Ärger erspart und euch eingeredet, ihr könntet euch mit reiner Willenskraft gegen einen Traumwandler zur Wehr setzen? Das wäre ein ebenso wirksamer Schild gewesen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ach, Ulicia. Wie grausam von dem Wesen des Seins, dass es euch diese unvernünftigen Sehnsüchte nicht gewährt hat.«

Während er fortfuhr, breitete er die Arme aus. »Und erstaunlicherweise glaubten auch die anderen Schwestern daran. Ich weiß es, ich war schließlich auch in ihren Gedanken und schaute zu, wie sie voller Übermut annahmen, sich meinen Fähigkeiten entzogen zu haben, weil du behauptest hast, du könntest die Bande zum Lord Rahl mit deinen eigenen Vorstellungen von Treue schmieden.«

»Aber Ihr habt es uns gestattet«, wandte Schwester Ulicia ein, die ihr Erstaunen noch immer nicht überwunden hatte. »Warum seid Ihr damals nicht gegen uns vorgegangen?«

Jagang zuckte mit den Schultern. »Ich habe genug Schwestern unter meiner Kontrolle. Es war eine interessante Gelegenheit. Ich lerne viel aus dem Wissen, über das andere verfügen. Solches Wissen verleiht eine Macht, die man auf andere Weise nicht erlangen kann. Also entschied ich abzuwarten, was ihr mit euren Mitteln erreichen könntet und was ihr für mich in Erfahrung bringen würdet. Jederzeit hätte ich mein kleines Experiment beenden können. Manchmal habt ihr mich in arge Versuchung geführt, zum Beispiel vor nicht allzu langer Zeit, als Armina sagte: ›Es wäre mir ein Vergnügen, Jagang aufzuknüpfen und mich nach Lust und Laune an ihm zu vergehen^«

Er runzelte die Stirn. »Erinnerst du dich daran, Armina? Gräme dich nicht, wenn du es vergessen hast. Ich werde dich von Zeit zu Zeit daran erinnern, um dein Gedächtnis aufzufrischen.«

Schwester Armina hob die Hand, als wolle sie ihn anflehen. »Ich, ich wollte nur ...«

Er starrte sie böse an, bis sie in Schweigen verfiel, unfähig, eine Entschuldigung vorzubringen.

Dann fuhr er fort: »Ja, ich war dabei. Ja, ich habe alles gesehen. Ja, ich hätte euch zu jedem beliebigen Zeitpunkt außer Gefecht setzen können. Doch im Gegensatz zu euch, Ulicia, bin ich geduldig. Mit Geduld kann man Berge versetzen - oder sie umgehen oder darüber hinwegklettern.«

»Aber Ihr hättet Euch Richard Rahl greifen können, als wir ihm unsere Bedingungen genannt haben. Oder später in seinem Lager.«

»Ihr hättet ihn auch in seinem Lager haben können. Ihr habt ihn mit einem Bann gefangen und hattet ihn am Boden. Da hättet ihr ihm den Todesstoß versetzen können. Warum habt ihr es nicht getan? Weil ihr einen größeren Plan verfolgt habt, also habt ihr ihn verschont und geglaubt, die Bande zu ihm seien euer Schutz, während ihr wichtigeren Zielen nachgelaufen seid.«

»Aber Ihr braucht ihn nicht«, hakte sie nach. »Ihr hättet ihn erledigen können.«

»Ach, Menschen zu töten ist gewiss als Strafe sehr nützlich, doch ist oft das vorteilhafter, was man mit ihnen anfangen kann, solange sie leben. Zum Beispiel ihr drei. Der Tod stellt für euch keine große Strafe dar, vielmehr bekommt ihr die Belohnung im Leben danach, sofern ihr dem Schöpfer in diesem gute Dienste geleistet habt. Ihr drei werdet das Licht des Schöpfers jedoch nicht erblicken. Welchen Nutzen bringt mir das ein? Solange ihr jedoch noch lebt, kann ich euch leiden lassen.« Er beugte sich vor. »Stimmt ihr dem zu?«

»Ja, Exzellenz«, brachte Schwester Ulicia unter Mühen hervor, während ihr erste Blutstropfen aus den Ohren rannen.

»Eure Pläne haben mir zum Teil gefallen«, sagte er und richtete sich auf. »Sie dienten meinen eigenen Zwecken - zum Beispiel die Sache mit den Kästchen der Ordnung. Warum sollte ich Richard Rahl töten; ich kann doch viel mehr tun, als ihn einfach nur umzubringen. Ich will ihn lebendig, damit er unvorstellbare Qualen erleidet. Als ich ihn an jenem Tag in seinem Lager leben ließ, so wie auch ihr, als ihr den Feuerkettenbann beschworen habt, wusste ich, dass ich die Gelegenheit bekommen würde, ihm alles zu nehmen. Da ich in euren Gedanken war, war ich vor dem Feuerkettenbann ebenso geschützt wie ihr.

Nun, mit all dem, was ihr mir geliefert habt, kann ich Richard Rahl seine Macht nehmen, sein Land, sein Volk, seine Freunde, seine Anverwandten. Im Namen der Glaubensgemeinschaft der Ordnung nehme ich ihm alles.«

Jagang ballte die Hand zur Faust und biss die Zähne zusammen.

»Weil er sich unserer rechtmäßigen Sache widersetzt hat, beabsichtige ich ihn bis auf den Grund seiner Seele zu zermalmen, und dann, wenn ich alles aus ihm herausgewrungen habe, bereite ich ihm jede Art von Schmerzen, die es auf dieser Welt gibt. Ich werde die Flamme seiner Seele zum Erlöschen bringen. Und ihr habt mich dazu in die Lage versetzt.«

Schwester Ulicia nickte unter Tränen und erkannte, dass alles für sie verloren war. Sie schien sich ihrem neuen Herrn zu unterwerfen.

»Exzellenz, wir können nichts ohne das Buch vollbringen, dessentwegen wir gekommen sind.«

Jagang nahm ein Buch vom Tisch und hielt es in die Höhe. »Das Buch der gezählten Schatten. Deswegen seid ihr hier. Ich habe mich ein wenig danach umgesehen, während ich auf euch gewartet habe.«

Er ließ das Buch auf den Tisch knallen. »Außerordentlich selten. Dieses Exemplar gehört zu den wenigen Abschriften, die eigentlich niemals angefertigt werden sollten, und deshalb wurde es hier versteckt. Natürlich war ich in euren Gedanken dabei, als ihr dies erfahren habt.

Ihr habt sogar das Mittel mitgebracht, um seine Echtheit zu bestätigen.« Sein verstörender Blick suchte Kahlan. »Und ihr habt ihr einen Halsring um den Hals gelegt, durch den ich Einfluss auf sie nehmen kann.« Er lächelte Schwester Ulicia herablassend an.

»Versteht ihr, durch euch kann ich jede Bewegung von ihr kontrollieren - genauso leicht wie ihr.«

Kahlans Hoffnung auf eine Gelegenheit zur Flucht löste sich in nichts auf. Wenn die Schwestern schon grausame Herrinnen waren, so stellte dieser Mann etwas noch Schlimmeres dar. Obwohl Kahlan seine Absichten noch nicht kannte, gab sie sich keinen Illusionen hin.

Eine dunkle Ahnung stieg in ihr auf. Aus einem bestimmten Grund war sie für die Schwestern und nun auch für Jagang von großem Wert. Wie konnte sie das Mittel sein, um die Echtheit eines alten Buches zu verifizieren, das seit Tausenden von Jahren in einem Versteck gelegen hatte? Stets hatte man ihr gesagt, sie sei ein Niemand, eine Sklavin, nicht mehr. Die Schwestern hatten sie belogen, dämmerte ihr. Sie hatten ihr das nur eingeredet. Stattdessen war sie ausgesprochen wichtig für sie alle.

Jagang deutete auf die arme Julian. »Außer dem Ring habe ich ein weiteres Mittel, um Kahlan davon zu überzeugen, zu tun, was man ihr sagt. Sag mir, Kleines, hast du schon einmal bei einem Mann gelegen?«

Julian drängte sich an Kahlan. »Ihr habt versprochen, meinen Großvater freizulassen. Wenn ich tue, was Ihr verlangt, und die Schwestern herführe, würdet Ihr ihn und die anderen entlassen. Das habe ich getan.«

»Ja. Und sogar sehr überzeugend. Ich war die ganze Zeit dabei und habe mir deine Vorstellung angeschaut. Du hast jede meiner Anweisungen befolgt.« Seine Stimme wurde so bedrohlich wie sein Blick. »Jetzt beantworte meine Frage, oder dein Großvater und die anderen werden bis morgen Futter für die Aasfresser sein. Hast du schon einmal bei einem Mann gelegen?«

»Ich weiß nicht genau, was Ihr meint«, antwortete sie schüchtern.

»Verstehe. Also, wenn Kahlan nicht alles tut, was ich ihr sage, werde ich dich meinen Soldaten zum Vergnügen überlassen. Von jungen Dingern, die bisher nicht wissen, was sie für ein Verlangen haben, können sie gar nicht genug bekommen.«

Julians Finger krallten sich in Kahlans Hemd. Sie drängte ihr Gesicht an Kahlans Arm und unterdrückte ein Schluchzen. Kahlan legte ihr die Hand auf die Schulter und versuchte sie zu trösten, versuchte ihr die Gewissheit zu geben, dass ihr nichts Böses widerfahren würde, solange sie sich irgendwie dagegen wehren konnte.

»Ihr habt mich«, sagte Kahlan. »Lasst sie in Ruhe.«

»Tovi hat das dritte Kästchen«, warf Schwester Ulicia ein. Sie wollte Zeit schinden, erkannte Kahlan, und sich bei Jagang einschmeicheln. Der starrte sie an. »Es wurde ihr gestohlen.«

»Gestohlen? Also ... ich kann Euch helfen, es zu finden.«

Jagang lehnte sich an den Tisch und verschränkte die kräftigen Arme. »Ulicia, wann wirst du endlich begreifen, dass ich nicht nur vor dir stehe, sondern auch in deinen Gedanken bin? Ich weiß alles, was du denkst. Trotzdem heckst du wieder deine Pläne aus. Sie sind recht originell. Und was du für grandiose Pläne entworfen hast«, sagte er mit einem zufriedenen Seufzer und trat auf sie zu. »Du hast sie weiter vorangetrieben, als ich dir je zugetraut hätte.«

In seiner Stimme schwang ein Unterton mit, bei dem es Kahlan kalt den Rücken hinunterlief. »Und nun schau, was mir meine Geduld am Ende eingebracht hat«, fuhr er fort, wandte sich an Kahlan und starrte sie aus trüben schwarzen Augen an. »Möchtest du wissen, warum ich euch frei herumziehen ließ, wie ihr es wolltet? Hier ist die Antwort. Indem ich euch gewähren ließ, Ulicia, habe ich die größte Beute eingefahren.«

Jetzt wusste Kahlan, dass sie richtig lag. Aus irgendeinem Grund war sie von Wert. Wenn sie nur gewusst hätte, weshalb. Und wer sie wirklich war.

Sie konnte nichts tun, außer Jagang zuzuschauen, wie er näher kam. Flucht war ausgeschlossen. Falls sie daran gedacht hätte. Allerdings spürte sie einen Schmerz, der ihr den Rücken hinunterschoss, in den Beinen brannte und jeden Schritt unmöglich machte. Der Halsring verursachte diese schmerzvolle Lähmung, das wusste sie, weil die Schwestern das Gleiche schon vorher bei ihr angewendet hatten. Er wusste es natürlich ebenfalls, denn er war in ihren Gedanken gewesen und hatte alles gesehen. An seiner erbarmungslosen Miene konnte sie ablesen, dass er diesmal für den Schmerz verantwortlich war.

Jagang streckte die Hand aus und strich mit den dicken Fingern durch Kahlans Haar. Sie wollte diese Berührung nicht, konnte sie jedoch nicht verhindern. Er schien alle anderen Anwesenden im Raum zu vergessen und schaute nur sie an.

»Ja, Ulicia, ihr habt mir die größte Beute eingebracht. Ihr habt Kahlan Amnell zu mir geführt.«

Amnell. Nun kannte sie ihren Familiennamen. Sie hatte ein kurzes Zögern nach ihrem Namen gespürt, so als hätte man eigentlich einen Titel hinzufügen müssen.

Jagang beugte sich vor und setzte ein abscheuliches Lächeln auf, über dessen Bedeutung sie nicht nachdenken mochte. Kahlan wich aus eigenem Willen nicht zurück, obwohl sie eigentlich keine andere Wahl hatte. Jagang drängte seinen starken muskelbepackten Körper gegen sie. Es fühlte sich an, als würde sich ein Stier bei ihr anlehnen. Mit einem Finger zog der Mann das Haar vom Hals zurück. Er legte den Mund an ihr Ohr, und seine Stoppeln kratzten über ihre Wange.

»Aber Kahlan weiß nicht, wer sie ist, weiß nicht einmal, warum sie eine so große Beute ist.«

Zum ersten Mal wünschte sich Kahlan, unsichtbar zu sein, damit dieser Mann sie nicht sehen konnte, so wie alle außer den Schwestern und Julian. Sie wollte nicht, dass dieser Mann sie erkannte. Seine Nähe war ihr unerträglich.

»Du machst dir nicht die geringste Vorstellung davon«, flüsterte er ihr eindringlich ins Ohr, mit einer Stimme, die sie mit Entsetzen erfüllte, »wie ungemein unangenehm dies für dich werden wird. Du bist meine Geduld wert, du warst all das wert, was ich mir von Ulicia bieten lassen musste. Wir werden uns näher kommen, du und ich, sehr nahe. Wenn du glaubst, ich beabsichtige, mir das Schlimmste für Lord Rahl aufzuheben, dann hast du noch keine Ahnung, was ich mit dir vorhabe, meine Süße.«

Nie zuvor hatte sich Kahlan so allein gefühlt, so hilflos. Gegen ihren Willen rann eine Träne über ihre Wange, doch das Schluchzen konnte sie zurückhalten.

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