Nachdem sich Jagang von Kahlan abgewendet hatte und sie nicht länger anblickte, gestattete sich Kahlan immerhin zu schlucken. Es erfüllte sie mit stiller Erleichterung, dass er sie nicht mehr mit den Händen anfasste, selbst wenn es sich nur um das Haar gehandelt hatte. Hilflos zitterte sie voller Furcht, weil er ihr so nah gekommen war. Seinen viel sagenden Blick hatte sie sehr wohl verstanden. Er konnte ihr antun, was immer er wollte, sie befand sich vollständig in seiner Gewalt.
Nein. Noch befand sich Luft in ihren Lungen. Sie durfte sich solcher Verzweiflung nicht hingeben. Sie durfte sich nicht als hilflos betrachten.
Nachdenken musste sie, anstatt sich von Panik verzehren zu lassen. Panik brachte sie nicht voran. Vielleicht stellte es sich als wahr heraus, dass sie keine Kontrolle über ihr Leben besaß, doch wäre sie seinem Willen ausgeliefert, wenn sie sich blindlings von ihrer Panik lenken ließ. Genau das wollte er von ihr.
Auf der anderen Seite des Raums, an dem schweren Tisch, zog Jagang das Buch zu sich heran. Er schlug den Einbanddeckel auf, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und betrachtete schweigend die Seite. Die runden Schultern und der muskulöse Nacken erinnerten eher an einen Stier als an einen Menschen. Die Kleidung, die er trug, diente ebenfalls dazu, den Eindruck seiner nicht menschlichen Erscheinung zu verstärken. Er und seine Männer gaben sich offenbar alle Mühe, die Hülle aus edelsten Menschheitsidealen abzustreifen und sich dafür den Anschein animalischer Niedertracht zu geben. Der Hang zu dieser untergeordneten Existenzform enthüllte eine grundlegende Dimension ihrer Gefährlichkeit: Sie strebten nicht danach, Menschen zu sein, sondern etwas Niederes.
Hinter ihr, nahe der Tür, standen die zwei riesigen Kerle schweigend Wache, die Beine leicht gegrätscht und die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Kahlan legte Julian die Hand auf die Schulter, als das Mädchen sie wegen dieser Männer ängstlich anschaute, die ihr von Zeit zu Zeit finstere Blicke zuwarfen.
Die beiden Wachen sahen Kahlan nicht. Zumindest ging sie davon aus. Sie hatte die beiden beobachtet, doch außer Julian schielten sie nur gelegentlich zu den Schwestern, wenn auch ohne viel Interesse. Sobald sich Jagang an Kahlan wandte, wirkten sie ein wenig verwirrt. Sie sagten nichts, aber Kahlan wusste schon, für sie musste es den Eindruck machen, ihr Anführer spreche mit sich selbst. Wie alle anderen außer Julian, den Schwestern und Jagang, Letzterer durch seine Verbindung zu den Schwestern, hatten die Wachen Kahlan bereits wieder vergessen, ehe die zwei sie richtig wahrgenommen hatten. Am liebsten wäre sie auch für Jagang so unsichtbar gewesen.
»Wie steht es mit Eurer Armee, Exzellenz?«, fragte Schwester Ulicia, die offensichtlich weiterhin versuchte, Zeit zu gewinnen, indem sie ihn in ein Gespräch verwickelte. Auch sie musste sich anstrengen, nicht der Panik zu verfallen.
Jagang blickte über die Schulter und grinste verschlagen. »Sie ist nah.«
Verwundert blinzelte Schwester Ulicia. »Nahe?«
Er nickte und grinste weiter. »Gleich hinterm Horizont im Norden, oben in D’Hara.«
»Im Norden - in D’Hara?!«, platzte es aus Schwester Armina heraus.
»Aber das ist nicht möglich, Exzellenz.«
Er zog eine Augenbraue hoch und genoss unverkennbar ihre Überraschung.
»Man muss Euch falsche Berichte über ihren Standort überbracht haben«, fuhr Schwester Armina fort und klang, als wolle sie sich beim Kaiser lieb Kind machen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich meine nur, Exzellenz, wir, also, wir haben sie längst passiert. Sie sind noch in den Midlands auf dem Weg nach Süden und versuchen die dazwischen liegenden Berge zu umgehen. Sie können noch nicht...«
Ihre zitternden Worte erstarben, als habe Jagangs Blick sie allen Mutes beraubt, sogar des Mutes zu sprechen, bis von ihr nur eine leere Hülle des Entsetzens blieb.
»O doch, gerade sind sie um die Berge hier unten gekommen und nach Norden in Richtung D’Hara abgeschwenkt«, erwiderte Jagang.
»Seht ihr, ich habe euer Denken so beeinflusst, dass ihr dorthin gegangen seid, wo ich euch haben wollte und wann. Es war meine Absicht, euch in Sicherheit zu wiegen und in dem Glauben zu lassen, ihr würdet wissen, wo ich sei. Ihr habt mein Wispern nicht einmal gehört, doch genau dieses Wispern hat euch unbemerkt geführt.«
»Aber wir haben Eure Soldaten gesehen«, wandte Schwester Cecilia ein. »Wir haben sie gesehen und sie umschlichen. Danach haben wir sie weit hinter uns zurückgelassen.«
»Ihr habt nur gesehen, was ich euch vorgespiegelt habe«, entgegnete Jagang und tat ihre Bemerkung mit einer Handbewegung ab. »Ihr habt gedacht, ihr würdet den Weg einschlagen, den ihr gehen wollt, stattdessen wart ihr dorthin unterwegs, wohin ich euch führte - zu mir und meiner Hauptarmee.
Ich habe euch ein paar Abteilungen meiner Nachhut vorbeigeschickt, dann an einigen Einheiten, die nach Süden in die anderen Gebiete der Midlands zogen. Damit habe ich euch glauben lassen, was ihr glauben solltet: Ihr solltet euch sicher fühlen, während meine Armee nach meinen Plänen vorrückte.
Unsere Soldaten sind sehr viel schneller marschiert, als ihr dachtet. Ich möchte diesen Krieg beenden, und dieses Ziel scheint mir in greifbare Nähe gerückt zu sein, daher habe ich meine Taktik dementsprechend angepasst. Für gewöhnlich lasse ich meine Armee nicht in solchen Gewaltmärschen voranziehen, denn das kostet doch nur eine Menge Männer, zermürbt die Truppe und bringt nichts ein, doch nun ist das Ziel in Sicht gekommen, und das rechtfertigt die Verluste. Außerdem dienen sie dem Orden und nicht der Orden ihnen.«
»Ich verstehe«, antwortete Armina kleinlaut. Die neuen Einzelheiten über die Täuschung und ihre Misere entmutigten sie nur noch mehr.
»So, es gibt Arbeit zu erledigen.«
Die drei Schwestern sprangen vor, als hätte man an unsichtbaren Leinen um ihre Hälse gezerrt. »Ja, Exzellenz«, sagten sie wie aus einem Mund. Offensichtlich hatte Jagang einen stillen Befehl geknurrt, den nur sie hören konnten, vermutlich, um sie daran zu erinnern, dass er bei ihnen war, in ihrem Kopf.
Kahlan fiel ein, dass er sie selbst zwar über den Ring um ihren Hals kontrollieren konnte, nämlich über die Gedanken der Schwestern, aber offensichtlich nicht ohne diesen Umweg. Da er gegen sie lediglich schwachen Hass empfand, wollte er sie wohl lieber durch Angst lähmen und sie auf diese Weise vom Denken abhalten - in Ergänzung zu dem Halsring und den Schwestern. Immerhin wäre er, solange er sich in den Gedanken der Schwestern aufhielt, nicht in ihren.
Natürlich konnte sie das nicht mit Bestimmtheit sagen. Schließlich hatten sich die Schwestern zu der gleichen Annahme verleiten lassen - dass der Traumwandler eben ihre Gedanken nicht überwachte. Und wiewohl sie die Möglichkeit nicht ausschließen konnte, glaubte sie einfach nicht, dass er sich gleichzeitig in ihrem Kopf befand. Nicht zuletzt deswegen, weil er sie ganz anders behandelte als die drei. Sie waren treulose Gefangene, Kahlan hingegen eine Kriegsbeute. Er hatte sie aus einem bestimmten Grund getäuscht. Im Wesentlichen wollte er sie aushorchen. Sie hatten Pläne ausgeheckt, und die wollte er heimlich ausspionieren und zu seinem eigenen Vorteil nutzen. Kahlan hatte, soweit er wusste, nichts anderes im Sinn, als den Schwestern zu entfliehen. Darüber hinaus hatte sie keine Pläne. Sie erinnerte sich nicht einmal mehr, wer sie eigentlich war. Dementsprechend gab es in ihren Gedanken für Jagang wenig zu belauschen. Es war zwar nicht zu übersehen, dass sie nicht seine Gefangene sein und ihr eigenes Leben zurückhaben wollte. Darüber hinaus aber lohnte es sich nicht, Kahlan auszuspionieren, zumindest noch nicht, nicht, ehe sie zu denken begann, anstatt blinder Panik zu verfallen.
Nur wenn er tatsächlich nicht in ihre Gedanken eindrang, aus welchem Grunde nicht? Er war ein Traumwandler, ein Mann mit solcher Macht, dass die Schwestern ihn hatten meiden wollen erfolglos zwar, eben genau wegen seiner Macht und seiner Fähigkeiten. Kahlan wollte er unbedingt und betrachtete sie als seine große Beute, wie er es genannt hatte. Wäre er in ihrem Kopf gewesen, hätte er sie mit der gleichen unsichtbaren Leine kontrollieren können wie die Schwestern und hätte seine Fähigkeit nicht durch die drei hindurch ausüben müssen. Er erschien Kahlan nicht wie ein Mann, der sich mit indirekter Einflussnahme zufrieden gab, solange er nicht darauf angewiesen war. Also würde er die Schwestern nicht benötigen, wenn er selbst in Kahlans Gedanken eindringen konnte.
Welchen Sinn hatte es, sich nicht in ihrem Kopf zu zeigen, wenn er es könnte? Und ausschlaggebender noch, wenn sie für ihn so wichtig war, würde er nicht direkte Kontrolle über sie ausüben wollen? Da musste etwas dahinterstecken. Sie hatte entschieden den Eindruck, dass er sich hütete, manche Dinge auszusprechen.
»Das ist es also«, sagte er zu den Schwestern. »Das Buch der gezählten Schatten. Deswegen seid ihr hergekommen. Ich möchte unverzüglich anfangen.«
»Aber Exzellenz«, erwiderte Schwester Ulicia, bestürzt über die bloße Idee, »wir haben nicht alle Kästchen. Man braucht sämtliche drei.«
»Nein, braucht man nicht. Man muss nur dieses Buch benutzen, um herauszufinden, ob eines dieser beiden dasjenige ist, welches notwendig ist. Falls das fehlende das eine wäre, das uns oder alles Existierende zerstören würde, warum sollten wir es brauchen?«
Schwester Ulicia weckte den Anschein, als habe sie sehr gute Gründe, weshalb sie es trotzdem benötigten, mochte offenbar aber nicht streiten.
»Gut«, sagte sie und suchte nach Worten. »Das könnte natürlich stimmen. Schließlich hatten wir noch keine Gelegenheit, Das Buch der gezählten Schatten zu studieren, daher sind wir uns nicht sicher. Die anderen Quellen könnten sich irren. Deshalb sind wir in der Tat hergekommen. Wir brauchten dieses Buch. Ihr könntet recht haben, Exzellenz, vielleicht ist das dritte Kästchen wirklich nicht notwendig.«
Schwester Ulicia glaubte nicht, was sie sagte, wie Kahlan nicht umhinkam zu bemerken. Jagang schien sich an ihrem Zweifel wenig zu stören.
»Und hier wartet es auf uns.« Er deutete auf das Buch. »Nachdem ihr es studiert habt, wisst ihr, welches Kästchen welches ist und welches wir brauchen. Falls diese beiden die falschen sind, taucht das dritte vielleicht wie aus heiterem Himmel auf.«
Die Schwestern zögerten, sich dieser Meinung anzuschließen, allerdings wollten sie es auch nicht auf eine Konfrontation ankommen lassen.
Immerhin räumte Schwester Ulicia nach einem Blick zu den anderen ein, wie sinnvoll dieser Vorschlag sei. »Wir haben das Buch bislang nicht zu Gesicht bekommen, daher müssen wir ... daraus lernen, so viel wir können. Ich denke, Ihr habt recht, Exzellenz. Das Buch zu studieren wäre hilfreich.«
Jagang deutete mit dem Kopf in Richtung des Buches auf dem Tisch.
»Dann fangt an.«
Die Schwestern traten näher, beugten sich über den dicken Band und betrachteten ehrfürchtig den Gegenstand, nach dem sie so lange gesucht hatten. Schweigend lasen sie, während Jagang sowohl sie als auch das Buch im Auge behielt.
»Exzellenz«, sagte Schwester Ulicia nach nur einem flüchtigen Blick, »es scheint, wir können nicht einfach so ... anfangen, wie Ihr es ausgedrückt habt.«
»Warum nicht?«
»Nun, seht hier.« Sie tippte auf die Seite. »Gleich hier zu Beginn wird angeführt, was wir zuvor durchaus berechtigt ansprachen, dass es nämlich Sicherheitsvorkehrungen gibt. Es heißt, man braucht...«
Sie blickte über die Schulter zu Kahlan und verstummte.
»Nun ja«, fuhr sie fort, »hier steht gleich zu Anfang: ›Die Überprüfung der Richtigkeit der Worte des Buches der gezählten Schatten, so sie gesprochen werden von einem anderen als jenem, der über die Kästchen gebietet, kann nur gewährleistet werden durch den Einsatz eines ...‹ Exzellenz, seht selbst, was dort steht.«
Ohne Frage vermied die Frau, das Betreffende in Kahlans Gegenwart laut auszusprechen. Jagang las ebenfalls leise.
»Ja und?«, entgegnete er. »Sie werden durch denjenigen gesprochen, der über die Kästchen gebietet. Durch euch lese ich sie. Ich gebiete jetzt über die Kästchen.«
Schwester Ulicia räusperte sich. »Exzellenz, ich will ganz ehrlich sein ...«
»Ich lese deine Gedanken. Es wäre unmöglich für dich, nicht ehrlich zu sein. Ich weiß, du zweifelst an der Durchführbarkeit meiner Idee, möchtest das aber nicht laut zum Ausdruck bringen. Wie dir klar ist, würde ich sofort merken, wenn du mich täuschen wolltest.«
»Jawohl, Exzellenz.« Sie deutete auf das Buch. »Aber versteht Ihr, es ist eine sehr technische Angelegenheit.«
»Was?«
»Die Überprüfung, Exzellenz. Bei diesem Buch handelt es sich um eine Anleitung für die Durchführung außerordentlich komplexer Handlungen. Nicht nur außerordentlich komplexer, sondern zudem gefährlicher Handlungen - für uns alle. Aus diesem Grund sollte man den Anweisungen strikt Folge leisten. Keinesfalls darf man sich über so etwas leichtfertig hinwegsetzen. Nichts darf man als gegeben voraussetzen. Der Inhalt dieses Buches ist aus gutem Grund überaus präzise. Man muss über jedes Wort nachdenken, über jeden Satz, über jede Formulierung. Jede Möglichkeit sollte bedacht werden. Unser Leben hängt von größter Umsicht ab.«
»Was ist daran so technisch? Es heißt einfach nur: ›Überprüfung, so sie gesprochen werden von einem anderen.‹ Sie werden nicht von einem anderen gesprochen, wir lesen sie einfach direkt ab.«
»Darum geht es gerade, Exzellenz. Wir lesen es eben nicht direkt ab.«
Jagang stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Was machen wir dann hier?«
Schwester Ulicia schnappte nach Luft, als drückte ihr eine unsichtbare Hand die Kehle zu. »Exzellenz, Ihr gebietet über die Kästchen. Aber Ihr lest eigentlich nicht Das Buch der gezählten Schatten.«
Er lehnte sich bedrohlich zu ihr vor. »Was lese ich stattdessen?«
»Eine Abschrift«, sagte sie.
Er zögerte. »Und?«
»Und in diesem Fall lest Ihr, rein technisch ausgedrückt, eben nicht Das Buch der gezählten Schatten. Ihr lest eine Abschrift. Im Wesentlichen lest Ihr etwas, das ein anderer gesprochen hat.«
Er runzelte die Stirn. »Und wer liest es?«
»Derjenige, der die Abschrift angefertigt hat.«
Jagang richtete sich auf, und auf seinem Gesicht drückte sich Begreifen aus. »Ja, das ist nicht das Original. In gewisser Weise höre ich es von dem, der die Abschrift angefertigt hat.« Er kratzte sich die Stoppeln. »Es muss überprüft werden.«
»Genau, Exzellenz«, antwortete Schwester Ulicia sichtlich erleichtert.
Jagang blickte über die Schulter zu Kahlan. »Komm her.«
Kahlan beeilte sich, dem Befehl Folge zu leisten; einen Kampf, der nur mit Schmerzen für sie endete, während Jagang leicht den Sieg davontragen würde, wollte sie nicht riskieren. Julian wich ihr nicht von der Seite; sie wollte wohl nicht allein bei den zwei finsteren Wachen stehen bleiben.
Jagang packte Kahlans Hals mit seinen Pranken. Er drückte sie nach vorn und beugte sie über das Buch.
»Sieh dir das an, und sag mir, ob es echt ist.«
Nachdem er sie losgelassen hatte, spürte Kahlan noch den Griff seiner kräftigen Finger am Hals. Sie widerstand dem Drang, sich das pochende Fleisch zu reiben, und langte stattdessen nach dem Buch. Wie sollte sie die Authentizität eines Buches beurteilen, das sie nie zuvor gesehen hatte? Sie hatte keine Ahnung, wodurch sich die Echtheit bestätigen ließe. Allerdings, dessen war sie sicher, würde sich Jagang mit einer solchen Entschuldigung nicht zufrieden geben. Ihn interessierte nur die Antwort und nicht, dass sie die Antwort nicht kannte.
So entschied sie, zumindest einen Versuch zu wagen, und blätterte die Seiten durch. Dabei gab sie sich den Anschein, sich große Mühe zu geben, obwohl sie vor sich nur leere Seiten sah.
»Tut mir leid«, sagte sie schließlich. Ihr fiel nichts anderes ein, als bei der Wahrheit zu bleiben. »Die Seiten sind leer. Hier kann ich nichts auf seine Echtheit überprüfen.«
»Sie kann die Worte nicht lesen, Exzellenz«, murmelte Schwester Ulicia, als würde sie das kaum überraschen. »Es ist ein Buch der Magie. Um es zu lesen, sind bestimmte intakte Verbindungen spezieller Arten von Han notwendig.«
Jagang betrachtete den Halsring. »Intakt.« Misstrauisch blickte er ihr in die Augen. »Vielleicht lügt sie. Es könnte doch sein, sie will uns gar nicht sagen, was sie sieht.«
Kahlan fragte sich, ob sie damit die Bestätigung hatte, dass er nicht in ihre Gedanken eindrang, oder ob er sie aus irgendeinem Grund immer noch täuschte. Zu diesem Zeitpunkt erschien ihr eine solche Verschleierung wenig sinnvoll. Schließlich waren die Kästchen und das Buch der eigentliche Grund für die Täuschung der Schwestern gewesen. Er hatte die Heimlichkeit nur deshalb verwandt, um sie hierher zu diesem Buch zu locken.
Abrupt packte Jagang die kleine Julian am Haar. Die stieß einen schrillen Schrei aus. Offensichtlich tat er ihr weh. Sie gab ihr Bestes, sich nicht gegen ihn zu wehren, sonst hätte er ihr womöglich das Haar samt Kopfhaut ausgerissen.
»Ich werde dem Mädchen ein Auge ausstechen«, drohte Jagang.
»Dann frage ich dich erneut, ob das Buch echt ist oder nicht. Wenn ich keine Antwort erhalte, aus welchem Grund auch immer, steche ich ihr das zweite aus. Daraufhin frage ich dich ein letztes Mal, und solltest du mir die Antwort wieder verweigern, reiße ich ihr das Herz aus dem Leib. Was sagst du dazu?«
Die Schwestern standen stumm dabei, schauten zu und machten keinerlei Anstalten, sich einzumischen. Jagang zog ein Messer aus der Scheide an seinem Gürtel. Julian keuchte entsetzt, als er sie herumriss und den Arm quer über ihre Kehle legte. Sie konnte sich nicht rühren. Jagang hielt das Messer gefährlich dicht an ihr Gesicht.
»Lasst mich das Buch sehen«, sagte Kahlan in der Hoffnung, die Tragödie noch verhindern zu können.
Mit Daumen und einem freien Finger der Hand, die das Messer hielt, packte er das Buch und reichte es ihr. Kahlan blätterte es erneut durch, vergewisserte sich, ob sie nicht doch auf einer Seite etwas lesen konnte, aber da war nichts. Jede Seite war leer. Kahlan sah nichts und hatte keine Möglichkeit zu entscheiden, ob es echt war oder nicht.
Sie schlug es zu und strich über den Einband. Was sollte sie nur tun? Sie hatte keine Ahnung, worauf sie achten könnte. Nun drehte sie das Buch um und musterte die hintere Seite des Einbands und den Büttenrand. Dann wandte sie sich den Goldprägebuchstaben auf dem Rücken zu.
Julian stieß einen abgewürgten Schrei aus, da Jagang fester zupackte und sie vom Boden hob. Er setzte dem Mädchen die Messerspitze ans rechte Auge. Julian blinzelte, unfähig, sich von der Bedrohung abzuwenden, und ihre Wimpern strichen über die Klinge.
»Zeit, blind zu werden«, knurrte Jagang.
»Es ist eine Fälschung«, sagte Kahlan.
Er sah auf. »Wie?«
Kahlan hielt ihm das Buch hin. »Dieses Buch ist nicht echt. Es ist eine Fälschung.«
Schwester Ulicia trat einen Schritt vor. »Woher willst du das wissen?« Es verwirrte sie offensichtlich, dass Kahlan ein Buch zur Fälschung erklärte, ohne ein einziges Wort daraus lesen zu können. Kahlan beachtete sie nicht. Stattdessen sah sie dem Traumwandler unverwandt in die albtraumhaften Augen. Trübe Formen wallten wie Gewitterwolken über einen nächtlichen Horizont. Sie musste ihre gesamte Willenskraft aufbieten, um seinem Blick nicht auszuweichen.
»Bist du sicher?«, fragte Jagang.
»Ja«, sagte sie und legte alle Überzeugungskraft, die sie aufbringen konnte, in die Worte. »Eine Fälschung.«
Vollkommen auf Kahlan konzentriert, ließ Jagang Julian los. Das Mädchen floh hinter Kahlan und suchte Schutz.
Jagang beobachtete Kahlans Augen. »Woher weißt du, dass es nicht Das Buch der gezählten Schatten ist?«
Kahlan, die ihm das Buch immer noch entgegenhielt, drehte es, damit er den Rücken sehen konnte. »Ihr sucht nach Das Buch der gezählten Schatten. Hier steht: Das Buch des gezählten Schattens.«
Sein Starren wurde unerträglich. »Wie?«
»Ihr habt mich gefragt, wie ich es als Fälschung erkannt habe. So. Hier steht: des gezählten Schattens. Nicht: der gezählten Schatten.
Deshalb ist es eine Fälschung.«
Schwester Cecilia wischte sich das Gesicht. Schwester Armina verdrehte die Augen.
Schwester Ulicia hingegen betrachtete das Buch stirnrunzelnd und las den Rücken selbst. »Sie hat recht.«
»Ja und?« Jagang warf die Hände in die Luft. »Das Wort ›Schatten‹ steht also nur im Singular statt im Plural. Und nun?«
»Ganz einfach«, antwortete Kahlan. »Eins ist richtig, eins ist es nicht.«
»Ganz einfach?«, fragte er. »Das hältst du für einfach?«
»Wie viel einfacher soll es denn noch werden?«
»Es hat möglicherweise nichts zu bedeuten«, sagte Schwester Cecilia und beeilte sich, ihrem übel gelaunten Gebieter zur Seite zu stehen.
»Singular, Plural, welchen Unterschied macht das schon aus? Es ist nur der Einband; was drin steht, ist wichtig.«
»Es könnte nur ein Fehler sein«, sagte Jagang. »Vielleicht hat der Buchbinder ihn begangen. Das Buch wird doch vermutlich von jemand anderem gebunden worden sein, deshalb kann der Text selbst durchaus echt sein.«
»Das ist richtig«, stimmte Schwester Armina zu, die dem Kaiser nicht widersprechen wollte. »Der Buchbinder hat den Fehler gemacht, nicht der Schreiber. Höchstwahrscheinlich handelte es sich nicht um die gleiche Person. Der Buchbinder war gewiss ein dummer Kerl. Der Schreiber hingegen muss mit der Gabe gesegnet gewesen sein. Was in dem Buch steht, ist das Entscheidende. Und das muss richtig sein, nicht der Einband. Ohne Zweifel handelt es sich bloß um den törichten Irrtum eines Handwerkers, der nichts zu bedeuten hat.«
»Wir haben sie aus einem bestimmten Grund mitgebracht«, gemahnte Schwester Ulicia die beiden flüsternd. »Es ist gleichgültig, wie einfach es zu sein scheint. Das Buch selbst warnt, es vor allem anderen unter diesen Umständen durch sie auf seine Echtheit überprüfen zu lassen.«
»Die Angelegenheit ist äußerst gefährlich. Eine solche Antwort ist zu ungenau«, meinte Schwester Cecilia.
Schwester Ulicia neigte der Frau den Kopf zu. »Und wenn ein gedungener Meuchler mit dem Messer auf dich zugeht, ist die Klinge dann zu ungenau, um auf die Gefahr aufmerksam zu werden?«
Schwester Cecilia wirkte nicht belustigt. »Diese Sache ist zu komplex, um anhand einer solchen Kleinigkeit entschieden zu werden.«
»Ach?« Schwester Ulicia bedachte die andere Frau mit einem herablassenden Blick. »Und wo steht geschrieben, die Überprüfung auf Echtheit müsse komplex sein? Es heißt lediglich, sie müsse von ihr durchgeführt werden. Von uns hat den Fehler niemand bemerkt. Sie jedoch schon. Damit hat sie der Anweisung Genüge getan.«
Schwester Cecilia betrachtete die Frau, die bislang ihre Anführerin gewesen war, von oben herab. Jetzt mussten sie sich ihr nicht mehr beugen, mussten ihr nicht mehr zu Gefallen sein.
»Das hat überhaupt nichts zu bedeuten«, sagte Jagang, der Kahlan weiterhin anstarrte. Diese hielt seinem Blick stand. »Woher soll sie wissen, dass es eine Fälschung ist? Sie will doch nur ihren Hals retten.«
Kahlan zuckte die Schultern. »Wenn Ihr das glauben mögt, bitte. Oder zweifelt Ihr vielleicht nur deshalb nicht, weil Ihr glauben wollt, dass es sich um eine authentische Abschrift handelt?« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Und nicht, weil es eine ist.«
Jagang schnappte ihr das Buch aus der Hand und wandte sich wieder den Schwestern zu.
»Wir müssen uns den Inhalt genau anschauen. Das ist entscheidend, wenn man das richtige Kästchen finden und öffnen will.«
»Exzellenz«, begann Schwester Ulicia, »es gibt vielleicht keine Möglichkeit festzustellen, ob das Geschriebene ...«
Jagang warf das Buch auf den Tisch und schnitt ihr das Wort ab. »Ihr drei werdet alles genau durchgehen. Sucht nach weiteren Hinweisen, die für eine Fälschung sprechen.«
Schwester Ulicia räusperte sich. »Das können wir gern versuchen ...«
»Sofort!« Seine dröhnende Stimme hallte im Raum wider. »Oder möchtet ihr zu den Zelten und meine Männer beglücken? Welche Art Dienst ihr leistet, liegt ganz bei euch. Trefft eine Wahl.«
Die drei Schwestern eilten zum Tisch. Sie beugten sich über das Buch und begannen, aufmerksam darin zu lesen. Jagang drängte sich zwischen Ulicia und Cecilia, wollte offensichtlich überwachen, was sie lasen, und sicherstellen, dass ihnen nichts entging.