»Ich glaube, da draußen ist jemand«, raunte Schwester Armina mit leiser Stimme, den Blick in das Dunkel hinaus gerichtet.
»Ich spüre auch etwas«, murmelte Schwester Cecilia. Voller Erwartung sah Schwester Armina herüber. »Vielleicht ist es ja Tovi.«
»Oder nichts weiter als ein wildes Maultier.« Schwester Ulicia schien nicht in der Stimmung, herumzustehen und sich in Spekulationen zu ergehen. »Kommt jetzt.« Sie sah sich nach Kahlan um. »Du bleibst dicht hinter uns.«
»Ja, Schwester«, antwortete Kahlan artig und reichte den Schwestern die Zügel ihrer Pferde.
Schwester Cecilia, älter als die Übrigen, stöhnte unter der Anstrengung, ihren müden Körper in den Sattel zu hieven. »Wenn mich meine Erinnerung an die alten Karten unten in den Gewölbekellern des Palasts der Propheten nicht trügt, müssten wir uns allmählich der Stelle nähern.«
»Ich habe die alte Karte auch gesehen«, bestätigte Schwester Ulicia, als sie auf ihrem Pferd saß. »Dort hieß dieser Ort die Große Leere. Das würde bedeuten, dass das dort oben auf der fernen Landzunge Caska sein müsste.«
Mit einem ungeduldigen Seufzer trieb Schwester Armina ihr Pferd an, den anderen zu folgen. »Dann werden wir dort ja endlich auf Tovi stoßen.«
»Und wenn wir sie erst eingeholt haben«, sagte Schwester Cecilia,
»wird sie uns das eine oder andere erklären müssen.«
Mit einer Handbewegung wies Schwester Armina auf die ferne Landzunge. »Du kennst doch Tovi - sie denkt gar nicht daran zu tun, was sie tun soll, denn stets glaubt sie, alles besser zu wissen. Sie ist die eigensinnigste Frau, die mir je begegnet ist.«
Soweit Kahlan es beurteilen konnte, kam Schwester Armina eigentlich kaum zu Wort.
»Mal sehen, wie viel davon noch übrig bleibt, wenn ich ihr meine Finger um den Hals lege«, knurrte Schwester Cecilia. Schwester Armina trieb ihr Pferd nach vorn, neben Schwester Ulicia.
»Ihr glaubt doch nicht etwa, sie könnte irgendwelche Dummheiten im Sinn haben, oder, Ulicia?«
»Tovi?« Schwester Ulicia sah kurz über ihre Schulter. »Nein, wohl kaum. Schon möglich, dass sie einen manchmal zur Verzweiflung treibt, aber sie verfolgt dasselbe Ziel wie wir. Außerdem weiß sie ebenso gut wie wir, dass wir alle drei Kästchen benötigen. Sie weiß, um was es geht und was auf dem Spiel steht.
Bald schön werden wir die drei Kästchen wieder beisammenhaben das allein zählt -, und da wir dann bereits in Caska sein werden, hätte es vermutlich gar nichts gebracht, Tovi vorher einzuholen. Wir hätten ohnehin erst hierher kommen müssen.«
»Aber warum ist sie bloß so abgetaucht?«, fragte Schwester Cecilia. Schwester Ulicia zuckte die Achseln. Im Gegensatz zu den beiden anderen schien sie sich jetzt, da Caska in Sicht war, ein wenig beruhigt zu haben. »Womöglich hat sie in der Nähe ein paar Truppen der Imperialen Ordnung gesehen, wollte allem erdenklichen Ärger aus dem Weg gehen und hat deshalb das Gebiet verlassen. Wahrscheinlich hat sie bloß von ihrem Verstand Gebrauch gemacht, das ist alles. Sie wusste ja, dass wir hierher kommen mussten, und als sie eine Gelegenheit sah, sich aus dem Staub zu machen, hat sie sie ergriffen.
Uns ist mit dieser Vorsicht besser gedient. Letztendlich hat sie sich lediglich an den Ort begeben, den wir ohnehin aufsuchen wollten, ich sehe also nicht, welche Dummheiten sie im Sinn haben könnte.«
»Ja, mag sein.« Schwester Cecilia schien ein wenig enttäuscht, dass es keine Schurkin gab, die sie zum Ziel ihres Ärgers machen konnte. Nahezu eine volle Stunde ritten sie schweigend weiter, ehe sich die Schwestern zu der Einsicht durchrangen, ein Ritt bei Dunkelheit durch dieses Gelände könne durchaus die Gefahr bergen, dass sich ihre Pferde nicht nur ein Bein, sondern womöglich auch das Genick brachen. Nach Kahlans Einschätzung waren sie der Landzunge jetzt nicht viel näher als auch schon während des größten Teils des Tages. Hier draußen, inmitten der Ebene, waren die Entfernungen erheblich größer, als es den Anschein hatte. Trotz ihrer Ungeduld, endlich nach Caska zu gelangen und Tovi einzuholen, waren die Schwestern schließlich müde und bereit, für die Nacht Halt zu machen. Schwester Ulicia stieg ab und gab Kahlan die Zügel. »Sieh zu, dass du das Lager aufschlägst. Wir sind alle hungrig.«
Kahlan neigte kurz das Haupt. »Ja, Schwester.«
Als Erstes fesselte sie allen Pferden die Vorderbeine, damit sie sich nicht weit entfernen konnten, dann begab sie sich zu den Packtieren hinüber, um mit dem Abladen ihrer Ausrüstung zu beginnen. Sie war todmüde, wusste aber, dass es wahrscheinlich noch Stunden dauern würde, bis sie eine Chance hatte, etwas Schlaf zu finden. Das Lager musste eingerichtet, Speisen zubereitet und die Pferde gefüttert, getränkt und für die Nacht versorgt werden.
Schwester Ulicia fasste Schwester Armina beim Arm und nahm sie beiseite. »Während wir das Nachtlager aufschlagen, möchte ich, dass du dich dort draußen umsiehst und das Gelände absuchst. Ich will wissen, ob es tatsächlich nur ein Maultier war.«
Schwester Armina nickte und machte sich sofort zu Fuß auf in die Dunkelheit.
»Kein Feuer heute Nacht«, zischte Schwester Ulicia, als sie Kahlan mit dem Topf hantieren sah.
Einen Moment lang sah Kahlan sie unverwandt an. »Aber was wollt Ihr dann zu Abend essen, Schwester?«
»Es sind noch Gerstenmehlfladen übrig. Die können wir essen, dazu etwas Trockenfleisch. Außerdem haben wir noch Pinienkerne.« Sie starrte in die Nacht hinaus. »Hier im offenen Gelände, wo uns von einem Horizont zum anderen jeder sehen könnte, will ich kein offenes Feuer. Hol nur eine der kleineren Laternen heraus.«
Kahlan konnte sich nicht vorstellen, was die Schwestern so besorgt stimmte. Sie reichte Schwester Cecilia die Laterne, die diese mit einem Fingerschnippen entzündete, ehe sie sie vor sich und Schwester Ulicia auf die Erde stellte. Sie spendete kaum genug Licht, um etwas zu erkennen, als Kahlan zu Ende auspackte, war aber immerhin besser als gar nichts.
In der Vergangenheit war es mehrfach zu zufälligen Begegnungen mit Soldatenpatrouillen gekommen. Die Schwestern hatten sich von solchen unerwarteten Zusammenstößen nicht sonderlich einschüchtern lassen und sich der Soldaten ebenso mühelos wie erbarmungslos entledigt.
Bei derartigen Zusammenstößen mit Patrouillen waren die Schwestern stets sorgsam darauf bedacht, keine Zeugen entkommen zu lassen, offenbar um auszuschließen, dass irgendwelche Meldungen die Armee erreichten - wahrscheinlich, vermutete Kahlan, weil sie dazu führen konnten, dass größere Scharen aufgebrachter Soldaten sich auf ihre Fährte setzten. An Tovi und das letzte Kästchen heranzukommen war für sie von allergrößter Wichtigkeit, daher hatten sie ein enormes Tempo angeschlagen, um in so kurzer Zeit eine solch weite Strecke zurückzulegen. Kahlan war etwas verwundert, dass sie es noch immer nicht geschafft hatten, Tovi einzuholen, wo ihnen doch nichts auch nur annähernd so wichtig war wie ihre kostbaren Kästchen ... Schwester Armina war schon lange von ihrer erfolglosen Suche nach einem möglichen Beobachter zurückgekehrt, die drei Schwestern hatten längst zu Abend gegessen, als Kahlan immer noch mit ihren täglichen Arbeiten beschäftigt war, vor deren Erledigung sie nicht zu Abend essen durfte. Sie war gerade dabei, die Pferde zu striegeln, als sie das leise Geräusch von Schritten auf dem harten, ausgedörrten Boden zu hören meinte. Das Geräusch riss sie aus ihren Gedanken, und ihre Hand mit dem Striegel hielt inne.
Sie sah über ihre Schulter und erschrak. Dort, am äußersten Rand des matten Lichtscheins, stand zaghaft ein schlankes Mädchen mit dunklem, kurz geschnittenem Haar.
Jetzt, da der Mond nur gelegentlich zwischen den ziehenden Wolken hervorlugte und das Lager größtenteils vom Schein der einzigen Laterne drüben bei den Schwestern erleuchtet war, war es schwer, überhaupt etwas zu unterscheiden, trotzdem konnte Kahlan gut genug sehen, um zu erkennen, dass die weißlichen Augen des jungen Mädchens sie anstarrten - mit einem Blick, aus dem deutliches Erkennen sprach. Das Mädchen sah sie, Kahlan.
»Bitte ...«, setzte das Mädchen an. Kahlan legte einen Finger an die Lippen, aus Angst, die Schwestern könnten es hören. Wie der Mann seinerzeit im Gasthaus, so nahm auch jetzt das Mädchen Kahlan nicht nur wahr, sondern erinnerte sich an sie. Kahlan war verblüfft und gleichzeitig ängstlich besorgt, dem Mädchen könnte das Gleiche widerfahren wie dem Besitzer des Gasthauses.
»Bitte«, wiederholte das Mädchen in leisem Flüsterton, »könnte ich vielleicht was zu essen kriegen? Ich hab solchen Hunger.«
Kahlan warf einen Blick zu den Schwestern hinüber. Alle drei waren in ein Gespräch vertieft. Sie langte in ihre Satteltasche in dem Gepäckberg nahe bei ihren Füßen und zog einen Streifen getrocknetes Wildbret hervor. Dann legte sie den Finger abermals an ihre Lippen und gab dem Mädchen das Fleisch. Es nickte zum Zeichen, dass es verstanden hatte, und machte keinen einzigen Laut. Das Fleisch gierig mit beiden Händen entgegennehmend, biss sie sofort hinein und riss mit den Zähnen ein Stück heraus.
»Und jetzt verschwinde«, flüsterte Kahlan, »bevor sie dich sehen. Beeil dich.«
Das Mädchen sah hoch zu Kahlan, dann an ihr vorbei. Ihre Augen weiteten sich; ihre Kaubewegung stockte.
»Sieh einer an«, erklang eine bedrohliche Stimme hinter Kahlans Schulter, »wenn da nicht unser kleines Maultier gekommen ist, um uns zu bestehlen.«
»Bitte, die Kleine war doch nur hungrig«, sagte Kahlan in der Hoffnung, Schwester Ulicias Zorn zu besänftigen, ehe er voll entflammte. »Sie hat um einen Bissen zu essen gebettelt; sie hat nichts gestohlen. Ich hab ihr von meiner Ration gegeben, nicht von euren.«
Jetzt gesellten sich auch die beiden anderen zu Schwester Ulicia, sodass sie wie drei nebeneinander aufgereihte Geier wirkten. Schwester Armina hielt die Laterne in die Höhe, um besser sehen zu können. Die drei sahen aus, als hätten sie die Absicht, dem Mädchen das Fleisch von den Knochen zu reißen.
»Wahrscheinlich wollte sie nur abwarten, bis wir uns schlafen legen«, sagte Schwester Ulicia und beugte sich näher, »um uns dann die Kehle durchzuschneiden.«
Ein kupferfarbenes Augenpaar leuchtete im Schein der Lampe auf, als das verängstigte Mädchen zu ihnen hochblickte. »Ich hab nicht auf der Lauer gelegen. Ich hatte Hunger. Ich dachte, ich könnte vielleicht was zu essen bekommen, das ist alles. Ich hab gefragt, ich hab nichts gestohlen.«
Das Mädchen erinnerte Kahlan ein wenig an die Kleine im Wirtshaus, das kleine Mädchen, das Kahlan zu beschützen versprochen hatte, das kleine Mädchen, das Schwester Ulicia auf so brutale Weise ermordet hatte. Die entsetzliche Angst der Kleinen verfolgte Kahlan nachts noch immer, kurz vor dem Einschlafen. Ihr Unvermögen, ihr Schutzversprechen einzulösen, brannte ihr noch immer heiß auf der Seele. Auch wenn der Kleinen Kahlans Worte nicht lange genug in Erinnerung geblieben waren, um sie wirklich zu begreifen, hasste Kahlan sich dafür, dass sie ein solches Versprechen gegeben hatte, ohne es einzulösen.
Dieses Mädchen war etwas älter und ein wenig größer. Auch in seinen Augen konnte Kahlan so etwas wie ein stummes Begreifen des wahren Ausmaßes der Gefahr erkennen, der es sich gegenübersah. In seinen kupferfarbenen Augen lag so etwas wie ahnungsvolle Vorsicht. Trotz alledem war die Kleine noch ein Mädchen.
Unvermittelt versetzte Schwester Armina dem Mädchen einen Schlag, der es herumwirbelte und zu Boden warf. Sofort warf sich die Schwester auf die Kleine. Ihren Kopf mit den Armen schützend, versuchte das Mädchen nach Kräften, eine Entschuldigung für ihre Bettelei nach Essen vorzubringen, während Schwester Armina zwischen den einzelnen Schlägen ihre Kleider abtastete. Als sie sich schließlich wieder aufrichtete, hatte sie ein Messer in der Hand, das Kahlan vorher nicht bemerkt hatte. Damit fuchtelte sie im Schein der Laterne herum, ehe sie es Schwester Ulicia vor die Füße warf. »Wie du gesagt hast, wahrscheinlich wollte sie uns die Kehlen durchschneiden, sobald wir uns schlafen gelegt hätten.«
»Ich wollte niemandem etwas tun!«, stieß das Mädchen hervor, als Schwester Ulicia ihren Eichenstab hob.
Kahlan, die nur zu gut wusste, was jetzt kam, warf sich beschützend über das verängstigte Mädchen.
Schwester Ulicias Stab sauste hernieder und landete infolgedessen auf Kahlans Rücken, unmittelbar oberhalb der Stelle, wo sie schon einmal getroffen worden war. Das krachende Geräusch von Eichenholz auf Knochen ließ das Mädchen zusammenzucken. Der Schlag entlockte Kahlan keinen Jubelschrei. Mit letzter Kraft schob sie das junge Mädchen in dem Versuch, sie weiterhin vor Schaden zu bewahren, ein Stück von den Schwestern fort.
»Lasst sie in Ruhe!«, bat Kahlan. »Sie ist doch noch ein Kind! Sie ist hungrig, das ist alles! Sie kann euch doch nichts tun!«
Von Panik ergriffen, klammerte sich das Mädchen mit ihren spindeldürren Armen um Kahlans Hals, als wäre sie die letzte rettende Wurzel am Rande eines steilen Abhangs. Hätte Kahlan in diesem Augenblick die Schwestern töten können, sie hatte nicht gezögert, doch stattdessen konnte sie nicht mehr tun, als sich schützend vor das Mädchen zu stellen. Sie wusste, sobald sie versuchte, sich gegen sie zur Wehr zu setzen, würden die Schwestern sie fortzerren, um sich an ihr zu rächen, und dann würde sie sie gar nicht mehr beschützen können. Es war das Äußerste, was sie für das Mädchen tun konnte.
Wieder landete Schwester Ulicias Hieb auf ihrem Rücken. Kahlan biss die Zähne gegen den Schmerz zusammen, während das Weibsstück einen Schlag seines Eichenstabes nach dem anderen auf ihren Rücken niedergehen ließ.
»Lass das Gör los!«, brüllte Schwester Ulicia, während sie auf Kahlan einprügelte.
Das Mädchen wimmerte vor Entsetzen.
»Schon gut!«, brachte Kahlan mühsam zwischen keuchenden Atemzügen hervor. »Ich werde dich beschützen. Versprochen.«
Das junge Mädchen flüsterte ihr ein leises »Danke« ins Ohr.
»Wie kannst du es wagen ...«
»Wenn Ihr unbedingt jemanden umbringen wollt«, schrie Kahlan Schwester Ulicia an, »dann tötet mich, aber lasst sie in Ruhe! Sie ist doch keine Gefahr für Euch.«
Genau das schien Schwester Ulicia zu bezwecken; ächzend vor Anstrengung schlug sie wie in einem Anfall von Raserei wieder und wieder zu. Die Schmerzen hatten Kahlan bereits halb benommen gemacht, dennoch weigerte sie sich, sich von der Stelle zu rühren und der Schwester so eine Möglichkeit zu geben, an das Mädchen heranzukommen.
Kreischend vor Angst - nicht etwa, weil die Schwester ihr etwas antun könnte, sondern aus Angst, was sie Kahlan antat - verbarg sich das junge Mädchen im Schutz von Kahlans Körper. Mit einem widerlichen Geräusch prallte der Stab gegen Kahlans Hinterkopf. Fast hätte sie das Bewusstsein verloren, trotzdem weigerte sie sich noch immer standhaft, das junge Mädchen freizugeben. Blut verklebte ihr das Haar zu einer verfilzten Masse, lief ihr über das Gesicht.
Und dann zerbrach der Stab auf Kahlans Rücken. Das größere Stück wirbelte hinaus in die Nacht. In ihrem blindwütigen Zorn stand Schwester Ulicia keuchend da, einen nutzlosen Stummel in der Hand. Kahlan erwartete, sie würde sie nun töten, aber irgendwie war ihr das längst egal. Sie hatte keine Möglichkeit zu fliehen, hatte keine Zukunft mehr. Wenn sie nicht einmal mehr um das Leben eines unschuldigen jungen Mädchens kämpfen konnte, hatte das Leben für sie jeden Sinn verloren.
»Ulicia!«, raunte Armina dieser leise zu und packte sie am Handgelenk. »Die Kleine kann sie sehen - genau wie dieser Kerl im Wirtshaus.«
Schwester Ulicia, von dem Gedanken sichtlich aufgeschreckt, musterte ihre Begleiterin mit starrer Miene.
Schwester Armina beschwor sie mit eindringlichem Blick. »Wir müssen herausfinden, was hier geschieht.«
Schwester Cecilia, das Gesicht verzerrt zu einem verdrießlichen Funkeln, weil sie Schwester Arminas Bemerkung nicht mitbekommen hatte, trat näher und pflanzte sich vor Kahlan auf.
»Wie kannst du es wagen, dich einer Schwester zu widersetzen! Wir werden dem Gör bei lebendigem Leib die Haut abziehen und dich zwingen, dem Spektakel zuzusehen, um dir eine Lektion zu erteilen.«
»Schwester?«, fragte das Mädchen. »Ihr seid alle Schwestern?«
Auf einmal schien die Nacht unglaublich still. Kahlans Welt drehte sich, sodass ihr übel wurde. Mit jedem Atemzug war ihr, als drehten sich Messer zwischen ihren Rippen. Ihr Gesicht war von den schmerzhaften Schlägen tränenüberströmt. Obwohl sie nicht zu zittern aufhören konnte, weigerte sie sich noch immer, das Mädchen loszulassen.
Schwester Ulicia warf den abgebrochenen Stummel des Eichenstabes fort. »Ja, wir sind Schwestern. Und?«, fragte sie voller Argwohn.
»Tovi hat mir aufgetragen, nach euch Ausschau zu halten, aber ich finde, ihr seht gar nicht aus wie Tovis Schwestern.«
Alles erstarrte.
»Tovi?«, fragte Schwester Ulicia vorsichtig nach.
Das Mädchen nickte, lugte dann hinter Kahlans Schulter hervor.
»Das ist eine ältere Frau. Ziemlich dick, dicker als ihr alle, und eigentlich sieht sie gar nicht aus, als war sie eure Schwester. Jedenfalls trug sie mir auf, nach ihren Schwestern Ausschau zu halten. Sie sagte, ihr wärt zu dritt und hättet noch eine andere Frau bei euch.«
»Und warum sollte ein junges Mädchen wie du sich bereit erklären, zu tun, worum Tovi es gebeten hat?«
Das Mädchen strich sich das dunkle Haar aus dem Gesicht. Nach anfänglichem Zögern antwortete sie. »Sie hält meinen Großvater gefangen. Sie hat gesagt, wenn ich nicht mache, was sie sagt, würde sie ihn töten.«
Ein Lächeln ging über Ulicias Gesicht - ein Lächeln, wie sich Kahlan das einer Schlange vorstellte. »Sieh an. Schätze, du kennst Tovi also tatsächlich. Und wo ist sie nun?«
Kahlan stemmte sich mit einem Arm hoch. Das Mädchen wies hinüber zur Landzunge. »Dort. Sie ist in einem Raum voller alter Bücher. Sie hat mich gezwungen, ihr zu zeigen, wo die Bücher aufbewahrt werden.«
Schwester Ulicia und die beiden anderen wechselten einen Blick.
»Womöglich hat sie die zentrale Stätte in Caska schon gefunden.«
Schwester Armina gluckste erleichtert auf und versetzte Schwester Cecilia leutselig einen Klaps auf die Schulter, die die Geste erwiderte.
»Wie weit ist es bis dorthin?«, wollte Schwester Ulicia plötzlich voller Ungeduld wissen.
»Wenn wir gleich morgen früh bei Tagesanbruch aufbrechen, werdet ihr noch zwei, wenn nicht drei volle Tage brauchen.«
Schwester Ulicia spähte einen Augenblick lang in die Dunkelheit.
»Zwei oder drei Tage ...« Sie wandte sich wieder um. »Wie heißt du?«
»Julian.«
Schwester Ulicia versetzte Kahlan einen Tritt in die Seite; der unerwartete Stoß wälzte sie von dem Mädchen herunter. »Na schön, Julian, du kannst dir Kahlans Bettzeug nehmen, sie wird es nicht benötigen. Zur Strafe wird sie die ganze Nacht stehen.«
»Bitte«, sagte Julian und legte Kahlan eine Hand auf den Arm,
»wenn sie nicht gewesen wäre, hättet ihr jetzt niemanden mehr, der euch zu Tovis Aufenthaltsort führen könnte. Bitte bestraft sie nicht. Sie hat euch doch einen Gefallen getan.«
Schwester Ulicia dachte einem Moment lang nach. »Ich sag dir was, Julian. Da du dich so tapfer für unsere unbotmäßige Sklavin eingesetzt hast, werde ich dich darüber wachen lassen, dass sie sich die ganze Nacht über nicht hinsetzt. Sollte sie trotzdem ungehorsam sein, werde ich ihr eine Tracht Prügel verpassen, dass sie für den Rest ihres Lebens unter Schmerzen hinken wird. Es liegt in deiner Hand, das zu verhindern, indem du dafür sorgst, dass sie die ganze Nacht über stehen bleibt. Was hältst du davon?«
Julian schluckte, sagte aber nichts.
Schwester Ulicia lächelte verschlagen. »Gut.« Sie wandte sich zu den anderen beiden herum. »Kommt jetzt. Legen wir uns ein wenig schlafen.«
Kaum hatten sie sich entfernt, legte Kahlan dem zu ihren Füßen kauernden Mädchen zärtlich eine Hand auf den Kopf und sagte leise, damit die Schwestern sie nicht hören konnten: »Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Julian.«
Julian sah lächelnd zu ihr hoch und antwortete, ebenfalls im Flüsterton: »Danke, dass du mich beschützt hast. Du hast dein Versprechen gehalten.« Behutsam ergriff sie Kahlans Hand und drückte sie einen Augenblick lang an ihre Wange. »Du bist der mutigste Mensch, dem ich je begegnet bin - außer Richard.«
»Richard?«
»Richard Rahl. Er war auch schon hier. Da hat er meinen Großvater gerettet, aber jetzt...«
Julian ließ den Satz unbeendet und wich Kahlans Blick aus. Kahlan strich ihr zärtlich über den Kopf, in der Hoffnung, ihren Kummer über ihren Großvater ein wenig zu besänftigen. Sie deutete mit dem Kinn.
»Geh zu den Satteltaschen dort, Julian, und nimm dir etwas zu essen.« Kahlan zitterte vor Schmerzen und hätte sich sehr gerne hingelegt, aber sie wusste, dass Schwester Ulicia keine leere Drohung ausgesprochen hatte. »Und bitte, wenn du danach vielleicht... einfach die Nacht über bei mir sitzen könntest? Heute Nacht könnte ich eine Freundin gebrauchen.«
Lächelnd sah Julian zu ihr hoch. Kahlan wurde ganz warm ums Herz, als sie in dieses offene Lächeln blickte.
»Morgen früh kommt noch jemand, dann hast du noch einen zweiten Freund.« Als Kahlan darauf kurz fragend die Stirn runzelte, deutete Julian in den Himmel. »Ich hab einen Raben, er heißt Lokey. Sobald es Tag ist, wird er kommen und uns mit ein paar seiner Kunststücke unterhalten.«
Die Vorstellung, einen Raben zum Freund zu haben, entlockte Kahlan ein Lächeln.
Das Mädchen drückte ihre Hand. »Ich werd dich heute Nacht nicht alleinlassen, Kahlan. Versprochen.«
So quälend die Schmerzen auch waren, die sie litt, so trostlos ihre Zukunft auch sein mochte, Kahlan freute sich. Julian lebte. Soeben hatte sie ihre erste Schlacht gewonnen, und dieser Triumph versetzte sie in Hochstimmung.