Kahlan raffte den Umhang enger, während sie, seine ständige, gefügige Begleiterin, neben dem Kaiser ging. Natürlich war sie nicht freiwillig hier, sondern erzwungen, ob nun durch ausgeübte oder nur angedeutete Gewalt. Nachts schlief sie auf dem Teppich neben seinem Bett und wurde so ständig daran erinnert, was sie erwartete. Tagsüber blieb sie an seiner Seite wie ein Hund an der Leine. Ihre Leine war der Eisenring, mit dem er sie jederzeit bei Fuß gehen lassen konnte.
Sie vermochte sich nicht vorzustellen, was solchen Hass auf sie hervorrufen konnte, was diesen flammenden Eifer erzeugte, sie für die Sünden zu bestrafen, die er bei all seinen Feinden sah. Was immer sie getan hatte, um seinen Hass zu ernten, er hatte es verdient. Als eine bitterkalte Böe durch das Lager zog, verbarg Kahlan ihr Gesicht hinter dem Umhang. Die Männer wandten die Gesichter ab, weil der Wind Sand aufwehte. Der Herbst ging mit großen Schritten seinem Ende zu, der Winter würde bald einbrechen. Hier auf der offenen Ebene rings um die Hochebene, auf dem der Palast des Volkes stand, würde es nicht sehr angenehm werden, aber Kahlan wusste, nachdem Jagang den Knochen einmal gepackt hatte, würde er ihn nicht mehr loslassen, komme, was wolle. Seine Hartnäckigkeit konnte man ihm nicht absprechen.
Angeblich befand sich im Inneren der Hochebene eine weitere Kopie von Das Buch der gezählten Schatten, und auf die hatte Jagang es abgesehen.
Draußen auf der Azrith-Ebene machten die Bauarbeiten langsam Fortschritte. Sie dauerten schon den ganzen Herbst an, und Kahlan wusste, man würde den ganzen Winter durcharbeiten, wenn es sein musste, bis das Bauwerk fertig wäre. Falls der Boden nicht gefror. Kahlan vermutete allerdings, dass Jagang auch für diesen Fall Pläne hatte. Vielleicht würde er den Boden mit Feuern zum Auftauen bringen. Solange es trocken blieb, ließ sich die Erde vermutlich auch im gefrorenen Zustand ausheben.
Es gab keine Möglichkeit, das große Innentor der Hochebene aufzubrechen, und die Straße, die außen hinaufführte, hatte sich für einen Angriff mit so vielen Männern rasch als ungeeignet erwiesen. Jagang hatte eine Lösung für dieses Problem.
Er beabsichtigte, eine riesige Rampe zu errichten, auf der seine Armee direkt bis vor die Mauern des Palastes marschieren konnte. Seinen Offizieren hatte er erklärt, dass sie sich, sobald sie oben ankamen, mit Belagerungsmaschinen den Weg durch die Mauer erkämpfen konnten. Erst einmal aber mussten sie hinaufgelangen. Dazu baute nun die Armee draußen vor dem riesigen Lager eine Rampe. Deren Breite war überwältigend. Aus zwei Gründen, die beide gleich wichtig waren, musste sie so breit sein. Erstens sollte sie am Ende einen groß angelegten Angriff ermöglichen, den die Verteidiger nicht zurückschlagen konnten. Zweitens brauchte eine Rampe von dieser Höhe ein gewaltiges Fundament, damit sie nicht in sich zusammensackte. Im Wesentlichen ging es also darum, einen kleinen Berg vor die Hochebene zu bauen, um nach oben zu gelangen. Ein Unterfangen, bei dem man wahrlich Hartnäckigkeit brauchte.
Die Entfernung vom Ausgangspunkt ihrer Arbeiten bis zum Ziel war entmutigend. Wegen der Höhe musste die Rampe sehr lang werden, damit Männer und Ausrüstung über die Straße, die sie anlegten, zu den Mauern des Palastes gebracht werden konnten.
Zuerst erschien ihr die Idee verrückt und undurchführbar, doch was Millionen von Männern, die nichts anderes zu tun hatten, und ein verbohrter Kaiser, den das Wohlergehen seiner Leute nicht scherte, vollbringen konnten, war schlicht beeindruckend. Man nutzte jeden Augenblick des Tageslichts und arbeitete manchmal sogar bei Fackelschein. Lange Reihen von Männern trugen Behälter mit Erde und Steinen zu der wachsenden Rampe, andere häuften Berge mit Material auf. Steine wurden aus Gründen der Stabilität unter den feineren Boden gemischt. Wieder andere Soldaten stampften den Boden mit einfachen Gewichten fest.
Fast alle Männer des Lagers waren an diesem Unternehmen beteiligt. Obwohl es eine beängstigende Aufgabe war, waren angesichts der ungeheuren Zahl von Arbeitern ständig Fortschritte zu erkennen. Unerbittlich wuchs die Rampe in die Höhe. Natürlich würde sich das Vorankommen mit wachsender Größe immer mehr verlangsamen, da das Material über immer längere Strecken herantransportiert werden musste.
Kahlan fand es überaus passend, dass diese Männer ein solch prachtvolles Bauwerk aus elegantem Marmor mit schmutziger Erde angriffen. Es entsprach der Philosophie des Ordens, im Dreck zu buddeln, um eines der prächtigsten Werke der Menschheit zu zerstören.
Sie hatte keine Vorstellung davon, wie lange es dauern würde, aber Jagang würde seinen Plan nicht aufgeben. Er wollte den Erfolg. Das Ende sei in Sicht, sagte er seinen Offizieren häufig, und er erwartete Opfer und Hingabe von allen für dieses hehre Ziel. Mit unnachgiebiger Entschlossenheit strebte er danach, diese letzte Bastion der Freiheit zu stürmen.
Vom Rande des Kaiserlagers, von wo aus sie die Bauarbeiten verfolgten, sah Kahlan einen Boten heranreiten. Im Süden wirbelte ein Nachschubtross eine lange Staubwolke auf. Sie beobachtete ihn schon seit Stunden, wie er näher und näher kam, und jetzt hatten die vordersten Wagen das Lager erreicht.
Jagang war erleichtert, als er den Nachschubtross endlich erblickt hatte. Eine Armee dieser Größe brauchte ständig Nachschub aller Art, vor allem aber Essen. In der Azrith-Ebene waren keinerlei Vorräte zu finden; hier gab es keine Bauernhöfe, weder Felder noch Viehherden. Um das Überleben der Armee zu sichern, damit diese die Rampe des Kaisers weiter in den Himmel baute, war man auf ständige Versorgung aus der Alten Welt angewiesen.
Der Bote stieg vom Pferd, trat näher und wartete geduldig. Jagang winkte schließlich mehrere Offiziere sowie den Neuankömmling zu sich.
Der Mann verneigte sich. »Exzellenz, ich komme mit den Vorräten, die uns die guten Menschen aus unserer Heimat schicken. Viele haben Opfer erbracht, damit unsere tapferen Soldaten den Feind bezwingen können.«
»Die Vorräte können wir ohne Frage gebrauchen. Die Männer arbeiten hart und müssen bei Kräften bleiben.«
»Wir haben außerdem einige der Ja’La-dh-Jin-Mannschaften mitgebracht, die an den Turnieren teilnehmen möchten, weil sie hoffen, eines Tages gegen die berühmte Mannschaft Seiner Exzellenz antreten zu dürfen.«
»Welche Mannschaften sind das?«, fragte Jagang abwesend und überflog das Verzeichnis, welches ihm der Bote reichte.
»Überwiegend bestehen sie aus Soldaten verschiedener Abteilungen. Die eine Mannschaft gehört dem Kommandanten des Nachschubtrosses. Er hat auf der Reise nach Norden Männer aus der Neuen Welt gesammelt. Mit denen kann er, wie er glaubt, Seiner Exzellenz ein besonderes Schauspiel bieten.«
Jagang nickte und las weiter. »Auf diese Weise werden diese Heiden unsere Lebensweise kennen lernen. Ja’La dh Jin ist eine gute Art, andere Völker in unserer Kultur und unseren Sitten zu unterweisen. Es lenkt schlichte Gemüter von der öden Existenz ab, die wir in diesem sinnlosen Leben ertragen müssen.«
Der Mann verneigte sich. »Jawohl, Exzellenz.«
Jagang hatte das Verzeichnis durchgelesen und sah auf. »Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen. Ist die Mannschaft mit den Gefangenen tatsächlich so gut, wie man sich erzählt?«
»Sie scheint hervorragend zu sein, Exzellenz. Ihr sind Siege gegen Mannschaften gelungen, die niemand für möglich gehalten hätte. Zuerst dachte man, es sei reines Glück. Inzwischen glaubt das niemand mehr. Sie haben eine Sturmspitze, die zu den Besten gehört, die ich je gesehen habe.«
Jagang schnaubte skeptisch. »Die beste Sturmspitze habe ich in meiner Mannschaft.«
Der Bote verneigte sich zur Entschuldigung. »Gewiss, Exzellenz.«
»Welche Nachrichten bringt ihr aus der Heimat?«
Der Mann zögerte. »Exzellenz, ich fürchte, es gibt beunruhigende Neuigkeiten. Der nächste Nachschubtross, der unserem folgte, wurde gerade zusammengestellt, als man ihn überfiel und vernichtete. Alle Rekruten, die als Verstärkung nach Norden geschickt werden sollten ... nun, Exzellenz, ich fürchte, sie wurden alle umgebracht. Ihre Köpfe wurden auf Pfähle entlang der Straße gesteckt. Die Reihe der Pfähle erstreckte sich von einer Stadt zur nächsten - und beide Städte wurden in Schutt und Asche gelegt. Eine Anzahl von Städten, Wäldern und Feldern brennen. Die Brände wüten heftig, und wenn der Wind richtig steht, kann man den Rauch sogar hier oben im Norden riechen. Es ist schwierig, genau zu sagen, was eigentlich vor sich geht, außer dass diese Angriffe eindeutig Soldaten aus der Neuen Welt zugeschrieben werden.«
Jagang sah Kahlan an. Vermutlich weil er wissen wollte, ob sie wie beim letzten Mal lächelte. Sie brauchte nicht zu lächeln. Sie konnte eine versteinerte Miene aufsetzen und innerlich triumphieren. Am liebsten hätte sie diesen unbekannten Männern zugejubelt, die Jagang langsam ernsthaft zusetzten, indem sie großen Schaden anrichteten.
Beinahe so schlimm wie die Zerstörungen waren die Gerüchte, die im Lager die Runde machten. Die Angriffe auf die Heimat beunruhigten die Männer, denn sie hatten sich stets in der Sicherheit gewiegt, die Alte Welt sei nicht nur unverwundbar, sondern zudem unbesiegbar. Und mit jedem Mal, mit dem solche Nachrichten weitererzählt wurden, gewannen sie an Gewicht. Jagang hatte eine stattliche Anzahl Männer hinrichten lassen, weil sie diese Gerüchte verbreiteten. Da Kahlan nur selten mit Soldaten sprach - die meisten konnten sie ja nicht einmal sehen -, wusste sie nicht, ob die Gerüchte nach den Hinrichtungen zum Verstummen gekommen waren, aber irgendwie bezweifelte sie das. Falls diese Geschichten die Soldaten schon nervös machten, konnte sich Kahlan kaum vorstellen, welche Angst sich unter den Bewohnern der Alten Welt ausbreitete. Während sich ihre Armee auf Eroberungsfeldzug befand, konnten sie sich vermutlich größtenteils nicht angemessen verteidigen.
»Den Berichten zufolge, Exzellenz, zerstören diese Plünderer alles, was ihnen in den Weg gerät. Sie verbrennen die Ernte, töten das Vieh, zerstören Mühlen, brechen Dämme und ruinieren jedes Handwerk, das Güter für unsere hochherzigen Bemühungen herstellt, das Wort des Ordens zu verbreiten.
Besonders hart trifft es jene, die unser Volk unterstützen, indem sie die Lehren des Ordens zu den Menschen bringen - denen, die die Notwendigkeit der Opferbereitschaft predigen, damit wir die Heiden im Norden zermalmen können.«
Jagang blieb äußerlich ruhig, doch sowohl Kahlan als auch die Offiziere wussten, dass er innerlich vor Zorn schäumte.
»Hast du eine Ahnung, wer unseren Lehrern und Anführern nachstellt? Eine bestimmte Einheit des Feindes vielleicht?«
Der Mann verneigte sich entschuldigend. »Exzellenz, leider muss ich berichten, dass bei allen Lehrern und Brüdern, die ermordet wurden, weil sie den Glauben des Schöpfers und des Ordens verbreiten ... also, bei allen Leichen fehlte das rechte Ohr.«
Jagangs Gesicht wurde purpurrot vor Wut. Kahlan sah, wie sich die Muskeln an Kinn und Hals spannten, als er die Zähne zusammenbiss.
»Glaubt Ihr, es könnten die gleichen Männer sein, die uns auf dem Weg in die Midlands belästigt haben?«, fragte einer der Offiziere.
»Natürlich sind sie es!«, brüllte Jagang. »Es muss etwas unternommen werden«, sagte er und wandte sich seinen Offizieren zu. »Versteht ihr?«
»Jawohl, Exzellenz«, antworteten sie wie aus einem Mund, neigten die Köpfe und hielten sie gesenkt.
»Dieses Ärgernis muss beseitigt werden. Der Nachschub ist unabkömmlich. Wir stehen kurz davor, diesen Krieg mit einem großen Sieg zu beenden. Ich werde nicht zulassen, dass unsere Bemühungen vergeblich "waren. Habt ihr verstanden?«
»Jawohl, Exzellenz«, sagten sie gemeinsam und verbeugten sich noch tiefer.
»Dann kümmert euch darum - alle!«
Während die Männer auseinandergingen, um diesen Befehl auszuführen, marschierte Jagang los, aus seinem Lager hinaus. Kahlan durchfuhr ein Schmerz aus dem Ring, der sie aufforderte, ihn zu begleiten. Wie immer versammelte sich die kaiserliche Eskorte und Wache um Jagang.