Nicci, schlaff und hilflos in Richards Armen hängend, konnte sich anstrengen, so viel sie wollte, sie schaffte es einfach nicht, genügend Kräfte zu mobilisieren, um ihn vor der Bestie zu warnen, die im Begriff war, sich auf ihn zu stürzen. Ihren letzten Atemzug hätte sie dafür hergegeben, diese Warnung auszurichten, nur bekam sie in diesem Augenblick nicht einmal Luft.
Schließlich war es Cara, die sich mit ihrem ganzen Gewicht der attackierenden Bestie entgegenwarf, die ungeheure Wucht des Angriffs ablenkte und Richard vor einem tödlichen Zusammenprall bewahrte. Die Fänge der Bestie schnappten ins Leere, als sie Richard unter lautem Getöse verfehlte, nur ihre Krallen bohrten sich hinten an der Schulter in sein Fleisch. Durch Caras Körpereinsatz aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte die Bestie an Richard vorbei und stürzte Kopf voran in eines der schweren Regale. Knochen, Bücher und Schatullen purzelten in chaotischem Durcheinander zu Boden. Knurrend kam das Wesen, die Reißer gebleckt, die Muskeln angespannt, wieder auf die Beine und richtete sich einen Moment lang zu seiner vollen Größe auf. Es überragte Richard um einen glatten Fuß und war nahezu doppelt so breit in den Schultern. Knochige Wülste markierten seinen buckligen Rücken, und über den Muskeln spannte wie bei einem Leichnam eine dunkle ledrige Haut. Es war ein Wesen, das nicht wirklich lebendig war, obwohl es so reagierte und sich so bewegte. Nicci wusste, dass es keine Seele besaß und deshalb umso gefährlicher war. Es war teilweise aus der Lebenskraft und dem Han - der Gabe - lebender Menschen erschaffen worden und handelte mit der zielstrebigen Entschlossenheit, die ihm von seinen Schöpfern mitgegeben worden war: den Schwestern der Finsternis in Jagangs Gewalt. Als es sich augenblicklich wieder erholte und sofort erneut auf Richard losging, schlug Cara mit ihrem Strafer zu. Die Bestie, von der Waffe offenbar nicht im Mindesten verletzt, hielt gleichwohl schlagartig inne, drehte sich mit schockierender Schnelligkeit und Wucht zu der Mord-Sith herum und schlug ihr den Handrücken so kraftvoll ins Gesicht, dass sie von den Füßen gerissen wurde. Sie prallte gegen ein Bücherregal, das dadurch nach hinten kippte, und kam unter dem Gewirr aus Büchern und zersplittertem Holz nicht wieder hervor.
Als draußen vor den hohen Fenstern ein Blitz flackerte, nutzte Zedd die Gelegenheit, stieß eine Hand nach vorn und entfesselte einen strahlend hellen Energieblitz, der den Raum mit gleißendem Licht erfüllte. Weißglühende Lichtpartikel prallten gegen die dunkle Haut an der Brust der Bestie und hinterließen - als einzigen Beweis für einen Treffer, der sonst keinen echten Schaden angerichtet zu haben schien - einen Kranz aus sich strahlenförmig ausbreitenden Schmauchspuren.
Unterdessen kam Nicci, nachdem Richard sie auf dem Boden abgelegt hatte, gerade wieder so weit zu Kräften, dass sie die dringend benötigte Luft in ihre Lungen zu saugen vermochte. Einen Ellbogen aufgestellt, um sich abzustützen, rang sie keuchend nach Atem. Aus Richards Schulter sah sie Blut hervorsickern und seinen Arm herabrinnen. Noch während er sich aufrichtete, um sich für den Zusammenprall mit seinem Angreifer zu wappnen, griff er nach seinem Schwert, doch es war nicht mehr da, hing nicht mehr an seiner Hüfte.
Nur einen winzigen Moment in seinem Vorwärtsdrang gebremst, riss er stattdessen das Messer aus seiner Gürtelscheide und warf sich der Gefahr entgegen. Mit einer weit ausholenden Bewegung landete er einen kräftigen Treffer, der die Kreatur herumwirbeln ließ. Durch den Hieb ins Wanken gebracht und von den Füßen gerissen, taumelte sie über den Steinfußboden und kam erst wieder zum Stillstand, als sie gegen eines der schweren Regale prallte. Von ihrer Schulter baumelte, einer Flagge gleich, ein ausgefranster Lappen ledrigen Fleisches. Ohne innezuhalten, ohne auch nur abzubremsen, sprang die Bestie ab, drehte sich einmal in der Luft und landete auf den Füßen, bereit, ihren Angriff zu wiederholen.
Sowohl Ann als auch Nathan schleuderten ihm feurige Lichtblitze entgegen, doch die magischen Flammen versengten sie nicht etwa, sondern prallten nur zerplatzend von der Bestie ab. Die war noch immer unverletzt und brüllte mittlerweile vor Raserei. Aufflammende Blitze spiegelten sich blinkend in der rasiermesserscharfen Klinge, die bewegungslos in Richards Faust verharrte. Die Kreatur schien nur noch aus Zähnen und Klauen zu bestehen, als sie sich ein weiteres Mal auf ihn stürzte.
Richard wich zur Seite aus, folgte der ungestümen Attacke der Bestie elegant mit einer Körperdrehung und rammte ihr die Klinge mit einem Rückhandschwung bis zum Heft mitten in die Brust. Ein Hieb, mit vollendeter Perfektion ausgeführt - trotzdem schien auch er nicht mehr Wirkung zu zeitigen als alles andere, was sie bislang versucht hatten.
Mit ungeheurer Schnelligkeit wirbelte die Kreatur herum und bekam Richards Handgelenk zu fassen. Bevor sie jedoch ihre mächtigen Arme um ihn schlingen konnte, wand Richard sich unter ihrem Griff hindurch und gelangte dadurch in den Rücken seines Angreifers. Die Zähne von der ungeheuren Kraftanstrengung zusammengebissen, drehte er der Kreatur ihren kräftigen Arm auf den knotigen Rücken. Nicci vernahm das Knacken von Gelenken, die aus ihren Kapseln gedreht wurden, das Geräusch brechender Knochen. Doch die Verletzung bremste das Wesen nicht im Mindesten, stattdessen wirbelte es herum und benutzte den gebrochenen Arm wie einen Dreschflegel. Richard duckte sich und wälzte sich zur Seite, als die tödlichen Krallen vorübersirrten.
Zedd nutzte die Gelegenheit und entzündete einen Ball aus brodelndem flüssigem Feuer. Selbst die Blitze draußen schienen in Gegenwart dieser unergründlichen, soeben zum Leben erweckten Macht einen Augenblick innezuhalten. Der Raum erzitterte unter dem Getöse des todbringenden, geballten, von Zedd entfesselten Infernos. Kreischend sauste die Zusammenballung aus lodernden Flammen quer durch den dunklen Raum und ließ Tische und Stühle, Regale und Säulen sowie die Gesichter all derer kurz aufleuchten, die ihre Flugbahn mit dem Blick verfolgten.
Die Bestie sah kurz über die Schulter, erfasste den sich überschlagenden, zischenden gelben Feuerball, der quer durch den Raum gerast kam, mit ihrem Blick und bleckte angesichts der nahenden Flammen die Reißer.
Was ein ziemlich merkwürdiges Verhalten der Bestie war, fand Nicci, fast so, als fürchtete sie kein von einem Zauberer heraufbeschworenes Feuer - und das, obwohl sie sich schwerlich etwas vorstellen konnte, was einem solchen Ansturm standzuhalten vermochte oder ihn nicht fürchten musste. Schließlich war es nicht bloß irgendein Feuer, sondern eine überaus gefährliche Substanz von ungeheuer grimmiger Gefräßigkeit.
Unmittelbar bevor der trudelnde Feuerball aus Zaubererfeuer sein Ziel erreichte, verschwand die Kreatur ganz einfach aus dem diesseitigen Sein.
Seines Ziels beraubt, klatschte das Feuer auf den Steinfußboden, verteilte sich explosionsartig über die Teppiche und schwappte, einer bösartigen, sich auf dem Strand brechenden Flutwelle gleich, über die Tische hinweg. Obwohl für einen speziellen Feind geschaffen, war Zaubererfeuer, das wusste Nicci, durchaus imstande, sie alle auszulöschen.
Doch bevor es den Lesesaal und alle, die sich darin befanden, vernichten konnte, wirkten Zedd, Nathan und Ann flugs weitere Netze - wobei Zedd sein Mögliches tat, um seine Kräfte zurückzurufen, während die zwei anderen die Flammen erstickten und ausschlugen, ehe diese eine Chance hatten, vollends außer Kontrolle zu geraten. Wolken von Dampf quollen empor, während alle sich nach Kräften bemühten, jedes verirrte Tröpfchen dieser hartnäckigen, klebrigen Feuersubstanz zu bändigen. Es folgte ein Augenblick größter Anspannung, dann endlich konnten sie sicher sein, dass sie es geschafft hatten.
Pustekuchen: Jenseits des dampfenden Nebels sah Nicci die Bestie sich abermals aus dem Dunkel schälen.
Urplötzlich erschien sie direkt hinter Zedd, drüben in den Schatten, wo sie sie zum ersten Mal in die Welt des Lebens hatte treten sehen. Nicci war die Einzige, die ihre Wiederkehr an dieser Stelle bemerkte. Bislang hatte sie die Bestie noch nie nach Belieben aus dem Totenreich hervorschlüpfen und wieder dorthin zurückkehren sehen, und doch wusste sie, dass ebendiese Methode es ihr ermöglichte, Richard selbst über größte Entfernungen hinweg aufzuspüren und zu verfolgen. Ebenso sicher wusste sie, dass sie, ganz gleich, welche Gestalt sie dafür annehmen musste, nicht eher ruhen würde, bis sie seiner habhaft wurde.
Richard erspähte die auf ihn losgehende Bestie noch vor den anderen und warnte den genau in der Bahn dieser ungestümen Attacke stehenden Zedd mit einem lauten Zuruf. Zedd blockte den Angriff ab, indem er die Luft zu einem stark verdichteten, leicht schräg gestellten Schild zusammenballte, ein Manöver, das die Bestie gerade weit genug aus der Bahn warf. Richard nutzte die Ablenkung, um mit dem Messer nach dem Angreifer zu schlagen. Doch noch ehe sein Messer den Angreifer streifen konnte, verschwand die Bestie erneut aus dem Diesseits, nur um Augenblicke später, kaum hatte Richards Klinge sie verfehlt, erneut aufzutauchen.
Fast schien es, als spielte sie mit ihnen, aber dem war nicht so, wie Nicci wusste. In ihrem seelenlosen Streben, Richard in ihre Gewalt zu bekommen, bediente sie sich schlicht unterschiedlicher Taktiken. Selbst ihr scheinbar wütendes Gebrüll war nichts weiter als ein geschickter Versuch, ihr Opfer einzuschüchtern und so eine Gelegenheit zum Zuschlagen zu erhalten. Jede Fähigkeit zu emotionalen Regungen hätte nur Einschränkungen bedeutet, also hatten Jagangs Schwestern darauf verzichtet. Die Bestie war vollkommen unfähig, Verärgerung oder Ähnliches zu empfinden; sie tat nichts anderes, als ihr Ziel mit unerschütterlicher Unerbittlichkeit zu verfolgen.
Ann und Nathan setzten eine zu Tausenden von kleinen, steinharten tödlichen Spitzen verdichtete Energieflut frei, die einem Ochsen das Fell vom Körper hätten fetzen können. Doch bevor die wirbelnden Splitter in die Bestie einschlagen konnten, wich sie dem Angriff mühelos mit einem Schritt ins Schattenreich aus und tauchte zum wiederholten Mal an völlig anderer Stelle wieder auf. Nicci musste einsehen, dass keiner von ihnen über ein Mittel verfügte, dieses Wesen aufzuhalten.
Bemüht, ihre Kräfte wiederzuerlangen, schleppte sie sich auf allen vieren über den Fußboden, um nach Cara zu sehen. Cara, die noch immer benommen vor der Wand lag, hatte sichtlich Mühe, ihre Sinne wiederzuerlangen. Nicci presste der Mord-Sith die Finger an die Schläfen und träufelte ihr einen feinen Strahl aus Magie ein, um sie wachzurütteln und ihre Kräfte wieder zu beleben. Als sie daraufhin unvermittelt auf die Beine zu kommen versuchte, packte sie sie bei ihrem Lederanzug.
»Hört mir zu«, zischte Nicci. »Wenn Ihr Richard retten wollt, müsst Ihr mir zuhören. Ihr könnt dieses Wesen nicht aufhalten.«
Cara - mittlerweile wieder auf den Beinen und alles andere als eine willige Befehlsempfängerin, zumal, wenn es darum ging, Richard zu beschützen - erkannte die unmittelbare Gefahr und wurde augenblicklich aktiv. Als die Bestie herumfuhr, um sich auf Richard zu stürzen, warf sie sich ihr dicht über dem Boden entgegen, wälzte sich unter ihr hindurch und holte sie damit von den Beinen. Noch ehe sich die Bestie davon erholt hatte, sprang Cara ihr mit einem Satz wie beim Besteigen eines wilden Hengstes auf den Rücken und rammte ihr den Strafer von hinten in die Schädelbasis - ein Manöver, das jeden Menschen auf der Stelle getötet hätte. Als die noch immer auf den Knien liegende Bestie sich daraufhin aufrichtete, hakte Cara die Waffe um die Vorderseite ihrer Kehle.
Mit ihrem unversehrten Arm packte die Bestie Caras Strafer und löste ihn mühelos aus ihrem Griff. Sofort warf sich Cara auf die Waffe und brachte sie erneut in ihren Besitz, was ihr jedoch einen Hieb eintrug, der sie abermals quer über den Fußboden schlittern ließ.
Während mittlerweile alle auf Händen und Füßen kriechend vor der Bestie zurückwichen und versuchten, nicht in die Reichweite ihrer Krallen zu gelangen, warf diese ihren Kopf in den Nacken und brüllte, ein Laut, so ohrenbetäubend, dass alle zusammenzuckten. Zuckende Blitze flammten draußen vor den Fenstern auf und tauchten den fast vollkommen dunklen Raum in einen überaus verwirrenden Wechsel aus greller Helligkeit und tiefdunklen Schatten, was es nahezu unmöglich machte, etwas zu erkennen. Zedd, Nathan und Ann zauberten Luftschilde herbei und versuchten mit ihrer Hilfe die Gefahr zurückzudrängen, doch die Bestie hatte keine Mühe, die Schilde zu durchbrechen und sich auf ihre Erzeuger zu stürzen, sodass sie gezwungen waren, sich mit einem behänden Sprung in Sicherheit zu bringen.
Nicci wusste, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kräften würden die drei die Bestie nicht aufhalten können; auch sah sie nicht, wie Richard dies gelingen sollte.
Während die anderen unter Aufbietung ihrer gesamten Talente und all ihres Geschicks den Kampf fortsetzten, krallte Nicci abermals eine Hand in die Schulter von Caras Lederanzug und zog sie ganz nah zu sich heran.
»Seid Ihr bereit zu tun, was ich sage? Oder wollt Ihr, dass Richard stirbt?«
Cara, noch immer völlig außer Atem von der Anstrengung, schien drauf und dran, ihr eine giftige Erwiderung zu geben, lauschte ihren Worten aber trotzdem aufmerksam. »Und was soll ich tun?«
»Haltet Euch bereit, mir zu helfen. Und seid bereit, genau das zu tun, was ich sage.«
Kaum hatte Cara zustimmend genickt, kletterte Nicci wieder auf den Tisch. Einen Fuß setzte sie in den Mittelpunkt der mit ihrem eigenen Blut gezeichneten Huldigung, den anderen außerhalb des äußeren Kreises.
Unterdessen schleuderten Zedd, Nathan und Ann der tobenden Bestie entgegen, was ihre Zauberkräfte hergaben: Netze aus Bogen schlagender Energie, die Steine hätte spalten, stark verdichtete Kräfte, die Eisen hätte biegen können, ein Hagel aus zu Klumpen verdichteter Luft, hart genug, um Knochen zu Staub zu pulverisieren. Nichts von alledem hatte auf die Bestie auch nur die geringste Wirkung - sei es, weil sie sich von ihren Kräften nicht beeindruckt zeigte, sei es, weil es die Attacken mit einer Armbewegung einfach brüsk zur Seite wischte oder ihnen ganz aus dem Weg ging, indem es aus dem diesseitigen Sein verschwand, nur um, kaum war die Gefahr vorüber, wieder aufzutauchen.
Sie richtete ihr Augenmerk abermals auf ihr eigentliches Ziel und stürzte sich auf Richard. Der warf sich zur Seite und stieß, in dem Versuch, einen ihrer Arme abzutrennen, sein Messer erneut in die zähe Haut der Kreatur - was, wie Nicci wusste, ebenfalls nichts nützen würde.
Während die anderen sich gegenseitig Anweisungen zubrüllten, bemüht, eine Möglichkeit zu finden, die Gefahr auszuschalten, wandte sich Cara, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, Richard zu helfen und dem Grauen, irgendwelche Anweisungen zu befolgen, herum und blinzelte hoch zu Nicci. »Was tut Ihr da?«
Nicci hatte keine Zeit, Fragen zu beantworten, und gestikulierte nur.
»Schafft Ihr es, diesen Kerzenleuchter dort hochzuheben?«
Cara sah über ihre Schulter. Der Leuchter bestand aus massivem Gusseisen und war mit zwei Dutzend Kerzen bestückt, von denen keine brannte.
»Denke schon.«
»Benutzt ihn wie eine Lanze. Drängt die Bestie zurück, hinüber zu den Fenstern ...«
»Und was, bitte, soll das nützen?«
Die Bestie stürzte auf Richard los und versuchte, ihre Arme um ihn zu schlingen. Richard brachte sich mit einer Körperdrehung in Sicherheit und landete dabei einen wuchtigen Tritt gegen ihren Kopf, der jedoch nicht viel mehr bewirkte, als sie vorübergehend ins Wanken zu bringen.
»Tut einfach, was ich sage. Benutzt ihn wie eine Lanze und drängt die Kreatur zurück. Und sorgt dafür, dass die anderen zurückbleiben und nicht im Weg stehen.«
»Glaubt Ihr wirklich, es wird sie aufhalten, wenn ich es schaffe, ihr eins mit dem Leuchter zu verpassen?«
»Nein. Aber sie lernt ständig dazu; immerhin wäre es für sie neu. Drängt sie einfach zurück. Es sollte sie vorübergehend verwirren oder zumindest vorsichtig machen. Sobald Ihr es geschafft habt, sie ein Stück nach hinten zu drängen, schleudert Ihr den Leuchter auf sie und bringt Euch in Sicherheit.«
Cara, die Lippen in frustrierter Wut fest aufeinander gepresst, überlegte nur einen Moment. Sie war eine Frau, die wusste, dass jedes Zögern von Übel sein konnte. Mit beiden Händen packte sie die schwere Mittelsäule des Kerzenständers und wuchtete ihn in einer gewaltigen Kraftanstrengung über ihren Kopf. Die Kerzen kippten aus ihren Halterungen, sprangen und rollten über den Steinfußboden. Nicci war sich des ungeheuren Gewichts des Kerzenständers durchaus bewusst, fand aber, dass Cara kräftig genug war, um damit zurechtzukommen. Die nötige Entschlossenheit, da bestand nicht der geringste Zweifel, besaß sie jedenfalls. Doch Nicci konnte sich nicht länger über Cara den Kopf zerbrechen. Sie verbannte sie aus ihren Gedanken, drückte beide Arme durch und richtete ihre Hände nach unten, auf die blutige Zeichnung der Huldigung unter ihr. All ihre Zweifel und Ängste außer Acht lassend, zog sie sich wie schon so viele Male zuvor gedanklich in das Zentrum des Han in ihrem Innern zurück. Als sie diesmal über der Huldigung stand, war es, als würde sie in ein eiskaltes, mit Energie gefülltes Becken gezogen.
Sie verdrängte das Schicksal, zu dem sie sich selbst zu verdammen im Begriff war, und drehte ihre Handflächen nach oben, um das Prüfnetz ganz allmählich wieder an seinen Zündpunkt zu bringen. Ganz unter dem Einfluss der Huldigung, konzentrierte sich Nicci jetzt auf die geistige Entsprechung des Entfernens der Sperren innerhalb der Bannform, die diese, in sich ruhend, im inaktiven Zustand beließ. Nachdem sie den inneren Bereich freigelegt hatte, den nur sie zu sehen vermochte, bediente sie sich bewusst beider Seiten ihrer Kraft, um die opponierenden Knotenpunkte miteinander zu verbinden.
Im Nu begannen die grünen Linien sich erneut wie eine gierige Lichtranke in die Höhe zu schrauben. Kaum einen Herzschlag später hatte das Geflecht aus Linien bereits die Höhe ihrer Oberschenkel erreicht.
Cara stieß und stocherte nach der Bestie. Mehrmals landete sie einen wuchtigen Treffer mit ihrer unhandlichen Waffe und drängte die Kreatur einen Schritt nach hinten. Sobald diese einen Schritt zurückwich, stieß sie sofort aufs Neue zu und trieb sie so allmählich Schritt um Schritt zurück. Nicci hatte sich nicht getäuscht - die Kreatur reagierte mit größter Vorsicht auf die ihrem Wesen nach unerwartete Attacke.
Nicci hoffte nur, dass Cara es schaffte, die Bestie nicht nur weit genug, sondern auch rechtzeitig zurückzudrängen.
Grelle Blitze spannten sich in weitem Bogen über den nächtlichen Himmel und ließen die aus dickglasigen Fenstern bestehende Wand aufleuchten. Verglichen mit den Kräften des Unwetters, waren die schwachen Öllampen so gut wie nutzlos. Die schnellen Wechsel zwischen gleißend hellem Licht und Dunkelheit machten es fast unmöglich, etwas zu erkennen.
Während sich die grünlich leuchtenden Linien - Ebenbild der inneren Gestalt eines vor Tausenden von Jahren von Männern erschaffenen Banns, deren Spur sich längst in der Geschichte verloren hatte - rings um sie her in die Höhe rankten, entzündete sich nämlich die innere Bannform ein weiteres Mal und fraß sich noch geschwinder als zuvor durch ihr Inneres. Nicci, die noch nicht völlig bereit war, erblindete eher als erwartet. Solange sie dazu noch fähig war und über einen Rest von Kontrolle verfügte, bemühte sie sich, normal zu atmen.
Das Sehvermögen ihrer Gabe begann, zwischen den beiden Welten, zwischen dem Licht des Lebens und der ewigen Finsternis, hin und her zu flackern. Immer wieder, wenn auch begleitet von blendender Finsternis anstelle von gleißend hellem Licht, flackerte ganz ähnlich den Blitzen draußen vor dem Fenster in kurzen Schüben das dunkle Nichts des Jenseits auf. Nicci, gefangen zwischen zwei Welten, fühlte sich, als würde ihre Seele in Stücke gerissen.
Sie ignorierte die Schmerzen und konzentrierte sich auf die anstehende Aufgabe.
Mit ihrer Kraft allein war eine solche Bestie nicht zu bezwingen. Immerhin war sie von den Schwestern der Finsternis mithilfe uralter Kräfte erschaffen worden, die sie nicht einmal ansatzweise zu ergründen vermochte. Dieses mit den Mitteln der Zauberei erschaffene Wesen war allem gewachsen, was Nicci auf den Plan zu rufen wusste. Es erforderte ein wenig mehr als bloße Hexerei. Unterdessen hatte sich die Bestie in der Nähe der Fenster festgesetzt, war ihr kurzer Rückzug endlich zum Erliegen gekommen. Obwohl Cara noch immer nach ihr stieß, weigerte sie sich, weiter zurückzuweichen. Zudem hatte Cara zunehmend Schwierigkeiten mit dem überaus schweren Kerzenständer. Als Richard Anstalten machte, ihr zu Hilfe zu eilen, schrie sie die anderen an, nur ja zurückzubleiben. Da er nicht gleich gehorchte, schwang sie den Kerzenständer herum, zwang ihn zurückzuspringen und ließ keinen Zweifel daran, wie absolut ernst sie es meinte.
Nicci legte ihre ganze Kraft in den Versuch, hob ihre Handflächen an und bereitete sich darauf vor, das Unmögliche zu vollbringen. Sie musste den Scheitelpunkt finden zwischen dem Nichts und dem Auslösen der Kraft.
Denn was sie brauchte, war nicht Kraft, sondern deren Vorboten. Unterdessen rankten sich die grünen Linien in ihrem entschlossenen Vorhaben, sie voll und ganz mit dem Bann zu umfangen, immer weiter rings um sie her empor. Nicci versuchte, einen Atemzug in ihre Lungen zu saugen, doch ihre Muskeln reagierten nicht. Sie brauchte diesen Atemzug dringend - nur diesen einen Atemzug. Als die Welt des Lebens abermals zu ihrem Sehvermögen der Gabe wechselte, legte sie ihre ganze Kraft in einen letzten Versuch, und endlich gelang es ihr, Luft zu holen.
»Cara, jetzt!«
Ohne Zögern schwang Cara den schweren Kerzenhalter. Die Bestie bekam den massiven, eisernen Kerzenständer mühelos mit einer krallenbewehrten Hand zu fassen und hob ihn in die Höhe. Hinter ihr, jenseits der Fenster, zuckten knisternde Blitze. Donner grollte. Nicci hielt kurz inne, wartete auf das Nachlassen der gleißenden Helligkeit.
Dann, als es endlich so weit war und der Raum schlagartig in tiefstes Dunkel getaucht wurde, stieß sie zu - nicht mit Kraft, sondern mit deren Vorboten.
Und dieses Zustoßen hüllte die Bestie in ein quälendes Beinahe -in das verzögerte Auslösen von Kraft ... bar jeglicher Konsequenzen. Sie konnte sehen, dass die Bestie die seltsame Empfindung der Verheißung von etwas Schwerverständlichem verspürte ... eines noch ausbleibenden, noch nicht ganz vollzogenen Zaubers. In ihrer Verwirrung blinzelte sie, unschlüssig, ob sie tatsächlich etwas verspürte, gewillt zu handeln, ohne jedoch zu wissen, was sie da spürte oder wogegen ihr Tun sich richten sollte.
Als der erfolgreiche Start eines unmittelbaren Angriffs durch Niccis Kraft ausblieb, schien die Bestie zu glauben, sie habe versagt, und hievte in einer Trotzreaktion den Kerzenständer nach Art einer im Kampf eroberten Trophäe erneut hoch über ihren Kopf.
»Jetzt«, rief Zedd Ann und Nathan zu und stürzte vor, »solange sie abgelenkt ist.«
Sie waren drauf und dran, alles zu verderben! Nicci konnte nichts tun, um ihre Einmischung noch zu unterbinden. Cara hingegen, nie besonders sanft in Ausübung ihrer Pflichten, unternahm etwas. "Wie ein Schäferhund, der ein paar irrgelaufene Tiere zusammentreibt, scheuchte sie die drei zurück. Unter lautem Protest verlangten sie, sie solle aus dem Weg gehen, wichen dann aber doch zurück. All das verfolgte Nicci von einem fernen Ort an der Schwelle beider Welten. Sie konnte Cara nicht mehr helfen, diese würde allein damit fertig werden müssen. Irgendwo in der weit entrückten Welt des Lebens schäumte Zedd vor Wut über die Mord-Sith und versuchte zu einem Gegenangriff anzusetzen, doch Cara rammte ihn mit ihrer Schulter, wodurch sie ihn nicht nur aus dem Gleichgewicht, sondern auch von seinem Vorhaben abbrachte.
In jener anderen Welt, dem Reich der Finsternis jenseits des Lebens, hatte Nicci etwas erzeugt, was dem Ausbleiben jeglicher Wirkung gleichkam, einer Ursache ohne Folgen, der künstlich erzeugten Aussicht auf die physische Freisetzung ihrer Kraft, auf die sie dann bewusst verzichtete.
Die Zeit selbst schien stillzustehen und auf etwas zu warten, das geschehen musste, letztendlich aber doch ausbleiben würde. Die Spannung in der Luft rings um Nicci war mit den Händen greifbar. Immer schneller rasten die grünlichen Linien rings um sie her in ihrem Bestreben, das Prüfnetz in seiner Vollständigkeit wiederherzustellen und ihr Leben in der Schwebe zu belassen, durch die Luft.
Lauernd wie eine Spinne in ihrem Netz, wartete der Riss bereits auf sie.
Sie wusste, ihr blieb nur ein winziger, flüchtiger Augenblick, ehe sie endgültig jeder Handlungsmöglichkeit beraubt sein würde. Diesmal würde ihr Ende wenigstens etwas Nützliches erbringen. Nicci öffnete das Kraftfeld rings um die Bestie zu einem noch größeren Ventil für die fundamentale Freisetzung von Energie - und hielt sie dann bewusst zurück.
Die Spannung zwischen dem, was war, und dem, was noch nicht war und niemals sein würde, wurde unerträglich.
In einem einzigen Augenblick füllte sich diese entsetzliche, unerträgliche Leere, dieses Energievakuum, das Nicci in beiden Welten erzeugt hatte, mit der ohrenbetäubenden Entfesselung eines Blitzes, der unter lautem Getöse durch das Fenster zuckte, während sein Gegenstück aus dem Reich jenseits der Welt des Lebens den Schleier durchbrach, angezogen von dem unerfüllten Verlangen, das die Bestie umfing - gezwungen zu vollenden, was Nicci begonnen, aber nicht beendet hatte. Diesmal verhieß die Flucht in eine andere Welt keine Sicherheit. Beide Welten hatten ihren Zorn gleichzeitig entfesselt.
Ein Schauer aus zersplittertem Glas füllte den Raum. Der hallende Donnerschlag ließ die steinernen Mauern des Bergfrieds erzittern. Es war, als bräche die Sonne Höchstselbst in einer gewaltigen Explosion durchs Fenster.
Die um Nicci dahinrasenden Linien schössen in die Höhe wie ein Leichentuch.
Mittels ihres Sehvermögens der Gabe konnte sie die Vollendung der von ihr hergestellten Verbindung erkennen, konnte sie den Blitz jene Leere rings um die Bestie finden und die entsetzliche, leere Verbindlichkeit füllen sehen, die sie erzeugt hatte. Die Explosion dieses Blitzes übertraf alles, was sie je gesehen hatte. Das Erzeugen seines Vorboten in beiden Welten verlieh dem Blitz in beiden Welten Kraft, sowohl additive als auch subtraktive, kreative und zerstörerische, miteinander verwoben in einer einzigen verheerenden Entladung.
Der Bann hatte Nicci in einen Starrezustand versetzt, sodass sie die Augen nicht vor dem blendenden Wechsel zwischen Hell und Dunkel verschließen konnte, der jetzt miteinander verschmolz, an beiden Enden des Kerzenhalters einschlug und durch die Bestie fuhr. In einem gewaltigen Lichtkranz aus knisterndem weißem Licht zerplatzte die Bestie und wurde von der ungeheuren Heftigkeit aus Hitze und Energie, die sich in der von Nicci erzeugten Leere konzentrierte, zu Staub und Dampf zersprengt.
Böen eines frischen, regengetränkten Windes drangen heulend durch das zerstörte Fenster. Draußen zuckten noch immer Blitze durch die aufgewühlten, grünlichen Wolken. Und als die Blitze draußen den Raum mit ihrem Licht erfüllten, konnten sie alle sehen, dass die Bestie verschwunden war.
Zumindest für den Augenblick.
Durch das Geflecht aus grünlichen Linien erblickte Nicci Richard, der durch den Raum auf sie zukam.
Ein Raum, der ihr sehr weit weg erschien ...
Und plötzlich sah sie die dunkle Welt um sie herum über sich zusammenschlagen.