40

Außer Atem erreichte Richard die Hügelkuppe. Inzwischen verließen ihn langsam die Kräfte. Unterwegs hatte er sich nicht die Zeit genommen, ausreichend zu essen, und nun zahlte er den Preis dafür. Seine Beine fühlten sich an wie Blei. Sein Magen rumorte vor Hunger. Er war schwach und hätte sich am liebsten hingelegt, doch das konnte er im Augenblick nicht, nicht jetzt, dem Ziel so nahe. Nicht, wenn so viel auf dem Spiel stand.

Er hatte Nüsse und ein paar Hand voll Heidelbeeren gegessen, die er pflückte, wann immer sie am Weg entlang wuchsen, doch hatte er keine Umwege gemacht, um mehr zu finden. Damit wollte er keine Zeit verschwenden.

Wenigstens hatte er sein Bündel bei sich, und gestern Nacht hatte er bei Sonnenuntergang seine Angelschnur in einen kleinen See gehängt. Dann hatte er trockenes Holz gesammelt und Feuer gemacht. Darauf briet er drei Forellen. Vor Hunger war er versucht gewesen, sie roh zu verspeisen, aber Fisch garte rasch, und so hatte er gewartet.

Da er sich nicht länger als notwendig aufhalten wollte, hatte er auf der Reise von der Stelle, wo ihn die Sliph abgesetzt hatte, bis hierher nur wenig geschlafen. Je eher er das Buch von Baraccus in die Hand bekam, desto besser. Es wartete bereits seit dreitausend Jahren auf ihn. Er wollte nicht noch eine Nacht länger warten. Dabei kreisten seine Gedanken darum, ob er seine momentanen Probleme hätte vermeiden können, wenn er klüger gewesen wäre und das Buch früher entdeckt hätte. Hoffentlich würde er mit seiner Hilfe Kahlan finden und vielleicht sogar eine Möglichkeit, den verunreinigten Feuerkettenbann ungeschehen zu machen.

Als bester Plan erschien es ihm, das Buch möglichst bald zu finden; dann konnte er schon mit dem Lesen beginnen, während er aß. Später würde er sich Gedanken über Schlaf und die Rückkehr zur Burg machen.

Die Burg lag weit entfernt. Wo genau sich Richard befand, wusste er nicht, allerdings musste dieser Ort ein gutes Stück südlich von Agaden in einem offensichtlich unbewohnten Gebiet liegen, sodass es ihm Sorgen bereitete, wie er Pferde auftreiben würde. Ein Problem nach dem anderen, mahnte er sich dann, immer nur eins zur gleichen Zeit.

So schwierig der Aufstieg an dem steilen Felshang im Dunkeln sein mochte, er konnte sich nicht überwinden, eine Rast einzulegen, da er seinem Ziel so nah war. Außerdem wollte er die Irrlichter sehen, was nur des Nachts möglich war, und aus diesem Grund wartete er nicht bis zum nächsten Morgen, weil er dann herumsitzen müsste, bis es wieder dunkel werden würde.

Schließlich oben angelangt, verschaffte sich Richard einen Überblick über die Gegend, um sich zu orientieren. Oberhalb des steilen Hangs wurde das Gelände flacher und ging in einen Wald weit auseinander stehender Eichen über. Der leichte Wind, der tagsüber geweht hatte, war schon vor Stunden bei Sonnenuntergang eingeschlafen, jetzt rührte sich kein Hauch mehr. Die Stille lastete schwer auf Richard. Aus unersichtlichem Grund waren die nächtlichen Geräusche von kleinen Tieren oder Insekten, wie sie im ausgedehnten Tiefland in seinem Rücken typisch waren, am Ende des langen Aufstiegs verstummt.

Im Mondlicht erkannte Richard sofort, dass mit den Bäumen etwas nicht stimmte. Sie schienen alle abgestorben zu sein. Die dicken Stämme waren knorrig und verdreht. Die Rinde fiel in Streifen ab. Die hängenden Äste sahen aus wie Krallen, die nur darauf lauerten, nach demjenigen zu greifen, der es wagte, diesen Ort zu betreten. Richard hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf den Weg und den Aufstieg gerichtet, doch plötzlich wurde seine Wachsamkeit geweckt, und er lauschte nach Geräuschen in der unheimlichen Stille. Vorsichtig schlich er unter die Bäume, so leise wie möglich. Das war schwieriger als gedacht, da der Boden mit trockenen Ästen und Laub übersät war. Die Zweige über ihm warfen groteske Schatten im Mondlicht, und die Luft fühlte sich so kalt an, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief.

Beim nächsten Schritt zerbrach unter seinem Fuß etwas mit eigenartig knochigem Krachen. In all den vielen Jahren in den Wäldern hatte Richard nie ein derartiges Geräusch gehört. Er erstarrte, lauschte, wartete. Seine Gedanken überschlugen sich, während er sich zu erinnern versuchte, was ein solches Geräusch hervorbrachte. Doch sosehr er sich auch bemühte, er konnte es nicht einordnen. Da er nichts weiter hörte und keine Bewegung bemerkte, zog er langsam den Fuß von dem, was geknackt hatte, zurück. Nachdem er in jede Richtung gespäht und jeden Schatten überprüft hatte, hockte er sich hin und schaute sich an, worauf er getreten war. Vorsichtig fegte er das modernde Laub zur Seite.

Halb vergraben im Waldboden und vom Alter gedunkelt starrte ihn ein menschlicher Schädel an. Mit seinem Gewicht hatte Richard die Schädeldecke zermalmt. Die Augenhöhlen, die ihn anzublicken schienen, waren jedoch unbeschädigt.

Richard suchte den Boden ab und entdeckte weitere Wölbungen unter dem Laub. Er sah auch noch mehr Schädel, die nicht vom Unrat des Waldes verdeckt wurden. Von seinem Standpunkt aus konnte er mindestens ein Dutzend verblichene Köpfe sehen, die zumindest teilweise frei lagen, und weitere rundliche Formen unter dem Laub. Als er zwischen den Blättern suchte, stieß er auf den Rest des Gerippes, das zu dem Kopf gehörte, auf den er getreten war. Langsam erhob er sich und schlich weiter, wobei er den Boden, die knorrigen Stämme und die Äste über sich genau musterte. Er sah niemanden und hörte nichts.

Dabei wusste er nicht, wonach er Ausschau hielt, allerdings fielen ihm die Schädel überall ins Auge. Die Skelette lagen verstreut, nicht beieinander, als wären die Menschen nicht zusammen oder in Gruppen gestorben. Mit wenigen Ausnahmen hatten hier offensichtlich Einzelne den Tod gefunden. Gewiss mochte man die Leichen hier abgelegt haben; das konnte er nicht feststellen. An einigen Stellen häuften sich Schädel, aber möglicherweise handelte es sich um Zufall - hier war jemand einfach neben einem bereits dort liegenden Toten gestorben.

Richard bückte sich immer wieder, um den einen oder anderen Schädel zu begutachten, sowohl welche, die offen lagen als auch unter Laub und Zweigen versteckte. Zunächst dachte er, hier habe wohl ein Kampf stattgefunden, allerdings meinte er, soweit das im Mondlicht zu erkennen war, dass die Menschen nicht zur gleichen Zeit gestorben waren. Manche Gebeine waren noch intakt, andere hingegen schon halb vermodert. Wieder andere schienen so alt zu sein, dass sie bei Berührung in Staub zerfallen würden. Der Ort erinnerte an einen Friedhof, auf dem die Toten über der Erde und nicht darunter bestattet worden waren.

Noch etwas fiel ihm auf: Die Toten waren nicht von Aasfressern behelligt worden. Richard hatte in seiner Zeit als Waldführer viele Kadaver gesehen. Stets hatten sich daran Tiere zu schaffen gemacht. Diese Toten, so drängte sich der Eindruck auf, waren im Laufe der Zeit schlicht vermodert, die Knochen lagen da, wie die betreffende Person zu Boden gegangen war, auf der Seite, mit ausgebreiteten Armen oder mit dem Gesicht nach unten. Keiner war wie bei einer Bestattung aufgebahrt worden, mit ordentlich über der Brust verschränkten oder neben dem Oberkörper drapierten Armen, sondern sie schienen einfach tot umgefallen zu sein. Dieser Umstand war jedoch weniger auffällig als die Tatsache, dass die Toten nicht von Raubtieren angerührt worden waren.

Während Richard endlos durch den Eichenwald wanderte, fragte er sich, ob dieser jemals enden würde. In einer mondlosen Nacht oder selbst an einem wolkenverhangenen Tag hätte man sich an diesem Ort leicht verirrt. Überall sah es gleich aus. Die Bäume standen in regelmäßigen Abständen, und außer Mond und Sternen gab es nichts, das bei der Orientierung half.

Richard kam es so vor, als zöge er die halbe Nacht durch den Wald der Toten. Dabei war er sicher, der Richtung zu folgen, die ihm die Sliph vorgegeben hatte. Die Sliph hatte jedoch nicht gewusst, was er finden würde; sie hatte ihm lediglich die Anweisungen übermittelt, die sie von Baraccus und zudem vor dreitausend Jahren erhalten hatte. Die Landschaft konnte sich seitdem enorm verändert haben. Die Gerippe wirkten keineswegs so alt. Möglicherweise lagen hier Gebeine, die Jahrtausende alt waren, doch mussten die inzwischen zu Staub zerfallen sein.

Der Wald wurde dunkler, und schließlich gelangte Richard unter die schwarzen Schatten von riesigen Kiefern, deren Stämme dicht an dicht standen und beinahe so umfangreich waren wie sein Haus daheim in den Wäldern Kernlands. Es war, als stünde er einer Wand aus Bergen gegenüber, die in den Himmel ragten. Die Stämme hatten bis zu der Höhe, wo sie ineinander liefen und nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren, keine Äste, dort oben jedoch verdeckten die Zweige den Himmel vollständig. Unten am Boden bildeten die gewaltigen Bäume ein düsteres, verschlungenes Labyrinth.

Richard blieb stehen und überlegte, wie er weitergehen sollte, da er die Hand nicht mehr vor Augen sah und keiner geraden Linie folgen konnte.

Und genau in diesem Moment hörte er das Wispern.

Er legte den Kopf schief, lauschte und versuchte, die Worte zu verstehen. Das gelang ihm nicht, also trat er vorsichtig in die Finsternis und setzte die nächsten Schritte erst, nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Bald konnte er die Schemen der Bäume vor sich ausmachen und bewegte sich wieder voran, tiefer in die engen Schluchten zwischen den Stämmen der Riesenkiefern.

»Kehr um«, wisperte es.

»Wer spricht da?«, flüsterte er zur Antwort.

»Kehr um«, sagte eine matte kleine Stimme, »oder geselle dich auf ewig zu den Gebeinen jener, die vor dir kamen.«

»Ich bin hier, um mit den Irrlichtern zu sprechen«, erwiderte Richard.

»Dann bist du vergeblich gekommen. Kehre augenblicklich um«, wurde nun mit mehr Nachdruck verlangt.

Richard verglich den Klang der Stimme mit seiner Erinnerung an das Irrlicht. Gewisse Ähnlichkeiten ließen sich nicht leugnen.

»Bitte, kommt doch heraus, damit ich mit euch sprechen kann.«

Schweigen umgab ihn. Richard ging ein Dutzend Schritte in die Dunkelheit.

»Letzte Warnung«, ertönte die unheimliche Stimme. »Kehr um!«

»Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt. Bevor ich nicht mit den Irrlichtern gesprochen habe, werde ich nicht gehen. Es ist wichtig.«

»Nicht für uns.«

Richard stand da, eine Hand auf der Hüfte, und überlegte, wie er sich nun verhalten sollte. Einen klaren Kopf hatte er nicht gerade. Seine Erschöpfung behinderte das Denken.

»Doch, es ist auch wichtig für euch.«

»Wieso?«

»Ich bin hier, um zu holen, was Baraccus für mich hinterlassen hat.«

»Das wollten auch die, an denen du vorbeigegangen bist.«

»Hört mal, es ist wirklich wichtig. Euer Leben hängt letztendlich auch davon ab. In diesem Kampf gibt es keine unbeteiligten Zuschauer. Dieser Sturm wird über alle hereinbrechen.«

»Die Geschichten über den Schatz sind Lügen. Hier gibt es nichts.«

»Schatz? Nein, ihr begreift nicht. Darum geht es überhaupt nicht. Ihr versteht mich falsch. Die Aufgaben, die mir Baraccus gestellt hat, habe ich erfüllt, deshalb bin ich hier. Ich bin Richard Rahl und mit Kahlan Amnell verheiratet, der Mutter Konfessor.«

»Wir kennen diese Person nicht, von der du sprichst. Kehr um zu ihr, solange du noch kannst.«

»Nein, das ist ja das Problem. Es geht nicht. Ich suche nach ihr.«

Niedergeschlagen strich sich Richard das Haar zurück. Er wusste nicht, wie viel Zeit er hatte, um das zu sagen, was er sagen musste, oder wie viel er auslassen sollte, um den Irrlichtern klarzumachen, warum er hier war - und sie zu überreden, ihm zu helfen.

»Früher habt ihr sie gekannt. Gegen Kahlan wurde Magie eingesetzt, damit jeder sie vergisst. Ihr habt sie auch gekannt, nur wie bei den anderen, so ist sie auch aus eurer Erinnerung gelöscht. Kahlan kam immer zu euch. Als Mutter Konfessor kämpfte sie für den Schutz eures Landes und hielt andere von euch fern.

Sie hat mir vom wunderschönen Land der Irrlichter erzählt. Von den weiten Feldern inmitten uralter Wälder. Auch war sie bei euch, wenn ihr euch in der Dämmerung zum Tanz im Gras und zwischen den Wildblumen versammelt habt.

Viele Nächte lang hat sie auf dem Rücken im Gras gelegen, und die Irrlichter versammelten sich um sie und erzählten ihr von den Dingen, die ihr mit dem Menschen gemein habt: von Träumen und Hoffnung und Liebe.

Bitte, die Irrlichter kannten sie. Sie war eure Freundin.«

Plötzlich sah Richard, wie ein winziges Licht hinter einem Baum hervorkam. »Kehr um, oder deine Knochen werden dort bei den anderen Schatzsuchern verrotten, und niemand wird je erfahren, was aus dir geworden ist.«

»Wenn ich Gold brauche, arbeite ich. An einem Schatz bin ich nicht interessiert.«

Der kleine Funken wich zurück. »Nicht jeder Schatz besteht aus Gold.«

Während das Irrlicht davonflog, spielten seine kreisenden Lichtstrahlen über die Stämme der Bäume.

»Ich habe Shar gekannt«, rief Richard.

Das Licht verharrte, hörte auf, sich zu drehen.

Einen Augenblick lang hing der Funken in der Ferne und erhellte schwach die versammelten Könige des Waldes, die Wache standen und behüteten, was hinter ihnen lag.

»Du bist nicht wegen der Legenden über den Schatz hier?«

»Nein.«

»Was weißt du über den Namen, den du gesagt hast?«

»Ich habe Shar kennen gelernt, nachdem sie die Grenze durchquert hatte. Shar wollte helfen, die Bedrohung durch Darken Rahl zu beenden. Deshalb überquerte sie die Grenze, um nach mir zu suchen, damit ich in diesem Kampf ebenfalls helfen konnte. Vor ihrem Tod hat Shar mir gesagt, dass ich, falls ich jemals die Hilfe der Irrlichter brauche, nur ihren Namen sagen müsse, und dann würdet ihr mir helfen, denn kein Feind könne diesen Namen wissen.«

Richard zeigte nach hinten zum Wald der toten Eichen, wo die Gebeine der Vergessenen moderten. »Ich habe so das Gefühl, keiner von denen da kannte ihren Namen oder den eines anderen Irrlichts.«

Gemächlich kam das Licht durch die Bäume zurück und blieb nicht weit von Richard entfernt stehen. Er spürte die sanft glühenden Strahlen, die über sein Gesicht glitten. Fast fühlten sie sich an wie die leise Berührung eines Spinnennetzes.

Richard trat einen Schritt näher. »Ich habe vor ihrem Tod mit Shar gesprochen. Sie sagte, länger könne sie nicht fern von ihresgleichen leben, und ihr fehle die Kraft, in ihre Heimat zurückzukehren. Bei ihr habe ich Baraccus’ Prüfung zum ersten Mal gehört. Sie glaube an mich, hat sie gesagt, sie glaube, ich habe in mir, was ich brauche, um erfolgreich zu sein. Das war eine Botschaft von ihm. Sie hat mich nach Geheimnissen gefragt.«

Das winzige Lichtchen nahm eine warme rosa Farbe an und drehte sich schweigend einen Augenblick lang.

»Hast du die Prüfung bestanden?«

»Nein«, gestand Richard. »Es war zu früh für mich. Erst später habe ich alles begriffen. Aber die Sliph hat gesagt, ich habe die Prüfung jetzt bestanden.«

»Wie heißt du?«

»Ich wuchs unter dem Namen Richard Cypher auf. Später erfuhr ich, dass ich Richard Rahl bin. Außerdem gab man mir weitere Namen: der Sucher, der Bringer des Todes, Richard mit dem Zorn, der Kiesel im Teich und Caharin. Kannst du mit diesen Namen etwas anfangen?«

»Kannst du etwas mit dem Namen Ghazi anfangen?«

»Ghazi?« Richard dachte kurz nach. »Nein. Sollte ich?«

»Es heißt ›Feuer‹. Ghazi hat diesen Namen aufgrund einer Prophezeiung erhalten. Wenn du der Richtige wärest, würdest du diesen Namen kennen.«

»Tut mir leid, nein. Allerdings kann ich dir sagen, dass ich nicht viel von Prophezeiungen halte.«

»Tut mir auch sehr leid, aber dieses Land wird vom Elend heimgesucht. Die Irrlichter leben in einer Zeit des Leids. Wir können dir nicht helfen. Du solltest jetzt gehen.«

Das Irrlicht flog abermals davon und kreiste um sich selbst, während es zwischen die aufragenden Bäume schwebte.

Richard trat einen Schritt vor. »Shar hat gesagt, wenn ich die Hilfe der Irrlichter brauchte, würdet ihr mir beistehen! Ich brauche eure Hilfe!«

Wieder verharrte der kleine Lichtpunkt. So, wie es reglos in der Luft hing, hatte Richard den Eindruck, es denke nach. Einen Moment darauf drehte es sich wieder und strahlte schimmerndes Licht aus. Es kam den halben Weg zurück.

Dann sagte das Irrlicht einen Namen, den Richard seit vielen Jahren nicht mehr gehört hatte.

Sein Blut erstarrte.

»Und kannst du mit diesem Namen etwas anfangen?«, fragte das Irrlicht.

»Woher kennst du den Namen meiner Mutter?«, flüsterte Richard. Das Irrlicht kam langsam näher. »Vor vielen, vielen Jahreszeiten ging Ghazi durch eine dunkle Grenze, um ihr zu helfen, um ihr von ihrem Sohn zu erzählen, um ihr vieles zu berichten, das sie erfahren musste, vieles, das ihr Sohn wissen musste. Ghazi kehrte nicht zurück.«

Richard starrte sie mit großen Augen an. »Was macht ihr Irrlichter am Tag? Wenn es hell ist?«

Das Irrlicht, ein silberner Funken, kreiste langsam und warf Lichtstrahlen auf Richards Gesicht. »Wir gehen dorthin, wo es dunkel ist. Im Licht sind wir nicht gern.«

»Tut euch Feuer weh?«

Die Lichtstrahlen verblassten. »Feuer kann uns töten.«

»Bei den Gütigen Seelen ...«, entfuhr es Richard.

Das Schimmern nahm an Stärke zu. Das Irrlicht kam näher und schien sein Gesicht zu studieren. »Was denn?«

»Wie lautete die Prophezeiung über Ghazi?«, fragte Richard. Das Kreisen des Lichts hörte auf. »Die Prophezeiung handelte von Ghazis Tod. Es hieß, er solle im Feuer sterben.«

Richard schloss kurz die Augen. »Vor vielen Jahreszeiten, als ich noch ein Kind war, starb meine Mutter im Feuer.«

Das Irrlicht blieb still.

»Tut mir leid«, sagte Richard leise, während Shotas Worte in seinem Kopf widerhallten. »Ich glaube, Ghazi ist in unserem Haus gestorben. Es begann zu brennen. Nachdem meine Mutter mich und meinen Bruder in Sicherheit gebracht hatte, ging sie noch einmal hinein, um etwas zu holen - wir haben nie erfahren, was. Vermutlich hat sie der Rauch vergiftet. Sie kam nicht mehr heraus. Ich habe sie nie wieder gesehen. Sie starb in den Flammen.

Möglicherweise ging sie hinein, um Ghazi zu holen. Ich glaube, meine Mutter und Ghazi sind zusammen in diesem Feuer gestorben, ohne dass er seine Aufgabe erfüllen konnte.«

Das Irrlicht sah ihn anscheinend eine Weile lang an. »Mein Beileid für das, was deiner Mutter zugestoßen ist. Nach all der Zeit kommen dir immer noch die Tränen.«

Richard fehlten die Worte; er nickte nur.

Nun drehte sich das Irrlicht wieder schneller. »Unter dem Namen Richard Cypher kennen wir dich bei uns. Komm, Richard Cypher, und wir erzählen dir, welche Nachricht Ghazi deiner Mutter überbringen wollte.«

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