10

»Was gibt es denn?«, rief Rikka, als Richard, Nicci und Cara plötzlich in ihre Richtung gelaufen kamen. Nathan und Ann waren bereits ein Stück zurückgefallen, während Zedd sich irgendwo dazwischen befand.

»Kommt schon«, rief Richard ihr im Vorüberrennen zu.

»Jemand kommt die Straße zur Burg herauf«, rief Cara über ihre Schulter, als Rikka sich der durch die Flure hastenden Gruppe anschloss.

Richard wich einem langen Steintisch aus, der unter einem riesigen, einen See darstellenden Gemälde stand. Ein paar geschützte Pfade waren darauf zu erkennen, die sich durch in tiefem Schatten liegende Fichtenwälder schlängelten. In der Ferne, halb verhüllt von bläulichem Dunst, ragte ein majestätisches Gebirge empor und fing das mit feinem Pinselstrich wiedergegebene goldene Sonnenlicht ein. Es war ein Landschaftsbild, das bei Richard sofort Heimweh nach den Wäldern Kernlands und den dortigen ihm so vertrauten Pfaden weckte. Vor allem aber erinnerte es ihn an den einen magischen Sommer mit Kahlan in der Hütte, die er für sie tief in den Bergen gebaut hatte.

Dieser Sommer, in dem Kahlan sich von ihren fürchterlichen Verletzungen erholte, während er ihr die natürlichen Schönheiten seiner Welt der Wälder zeigte und sie wieder zu neuer Gesundheit erblühte, war einer der glücklichsten Abschnitte seines Lebens gewesen. Er hatte nur allzu rasch geendet, als Nicci ohne jede Vorwarnung aufgetaucht war und ihn mitgenommen hatte. Doch er wusste: Hätte sie nicht das Idyll gestört, dann irgendetwas anderes. Es war eine traumhafte Zeit gewesen, deren Ende abzusehen war; solange der stets drohenden Gefahr der Imperialen Ordnung nicht Einhalt geboten war, war es niemandem vergönnt, seine Träume zu verwirklichen. Stattdessen drohten sie alle vom selben Albtraum fortgerissen zu werden.

An einer Säule aus grünem Marmor mit goldenem Kapitell und Sockel bogen sie um eine Ecke und hasteten, Richard und Nicci vorneweg, die beiden Mord-Sith dicht auf den Fersen, die granitene Flucht einer Wendeltreppe hinab. Für die Burg der Zauberer mochte der Treppenschacht bescheiden sein, und doch würde er alles, was Richard in jungen Jahren in Westland gesehen hatte, winzig erscheinen lassen.

Unten angekommen, blieb er abrupt stehen und zögerte einen Augenblick, um zu entscheiden, welches wohl die schnellste Route wäre. In der Burg der Zauberer war das durchaus nicht immer die nahe liegende, zumal man sich dort ebenso leicht verlaufen konnte wie in einem Birkenwald.

Cara zwängte sich zwischen Richard und Nicci hindurch, nicht nur, um sicherzugehen, dass er auf beiden Seiten von einer in rotes Leder gekleideten Leibwächterin flankiert wurde, sondern auch, damit sie es war, die vor ihm ging. Soweit Richard wusste, gab es unter den Mord-Sith keine Rangunterschiede, gleichwohl erkannte Rikka, wie alle anderen Mord-Sith auch, Caras unausgesprochene Autorität stets kommentarlos an.

Richard erkannte das unverwechselbare Muster aus schmalen schwarzen und vergoldeten Streifen sofort wieder, das die Mahagonitäfelung zu beiden Seiten in einem der Holzverkleideten Seitenflure zierte. Beinahe seit er laufen konnte, orientierte er sich an den Einzelheiten seiner Umgebung, um sich den Weg einzuprägen. Wie bei den Bäumen im Wald, die er an irgendeiner Besonderheit wie einem krumm gewachsenen Zweig, einer Wucherung oder Narbe wieder erkannte, hatte er sich auch in der Burg der Zauberer und ähnlichen Orten anhand architektonischer Details zurechtfinden gelernt.

Er wies mit dem Arm nach vorn. »Hier entlang.« Cara stürmte los, ihm voran.

Beim Laufen hallten ihre Stiefelschritte vom Steinfußboden des Flures wider. Nicci war barfuss. Er war etwas überrascht, dass sie bei diesem Tempo auf dem rauen Steinfußboden ohne Schuhe Schritt halten konnte. Sie gehörte nicht gerade zu den Frauen, von denen Richard jemals gedacht hätte, dass sie barfuss herumlaufen würden, und doch hatte sie selbst dabei etwas ... Königliches. Sie bogen in den nächsten Flur ein. Lange Teppiche dämpften ihre Schritte und führten sie schließlich zwischen zwei auf Hochglanz polierten roten Marmorsäulen hindurch in einen ovalen Vorraum, der von einer mit Pfeilern und Bögen gestützten Galerie umsäumt wurde. Die Türöffnungen in deren Hintergrund mündeten wiederum alle in Flure, die, wie die Speichen eines Rades angeordnet, zu verschiedenen Stockwerken und Bereichen der Burg führten. Richard sprang die fünf Stufen hinab, die den hinter den Säulen liegenden Raum umliefen, und passierte im Laufschritt den kleeblattförmigen Brunnen, der in der Mitte des mit Fliesen ausgelegten Bodens stand. Das Wasser des Brunnens ergoss sich über eine Abfolge übereinander angeordneter, nach unten immer größer werdender kammmuschelartiger Schalen und landete schließlich in einem Becken, das von einer weißen kniehohen Marmormauer eingefasst wurde, die gleichzeitig als Bank diente. Einhundert Fuß über ihnen fluteten Licht und Wärme durch ein Glasdach in den Raum.

Auf der anderen Seite des Raumes angekommen, schob sich Richard an Cara vorbei, stieß einen der schweren Türflügel auf und hielt am oberen Absatz des einen Dutzends Stufen aus weißem Granit inne. Nicci, links von ihm, blieb ebenfalls stehen, während Rikka die ihr gegenüberliegende Seite besetzte. Cara nahm rechts von ihm eine Verteidigungshaltung ein. Alle rangen sie nach dem kurzen, aber forschen Lauf durch die Burg nach Atem.

Das Gras in der Koppel, drüben auf der anderen Seite, wirkte im frühmorgendlichen Licht grün und üppig. Jenseits der Koppel ragte die Außenmauer der Burg senkrecht in den Himmel, was dem inneren Burghof den Anschein einer beschaulichen Felsenschlucht verlieh. Im Laufe der Jahrtausende war die hoch aufragende, aus genau eingepassten dunklen Quadern errichtete Mauer mit einer blassbraunen Schicht überzogen worden. Milchigweiße Tropfen von Kalkablagerungen vermittelten den Eindruck, als ob das Mauerwerk ganz langsam schmölze.

Zwei Pferde näherten sich unter Hufgeklapper durch die dunkle, überwölbte Öffnung linker Hand, die tunnelgleich unter einem Teil der Burg hindurchführte, um schließlich in den inneren Burghof zu münden. Richard konnte nicht erkennen, wer sich dort in den tiefen Schatten des breiten, niedrigen Torwegs verbarg, doch wer immer es war, musste gewusst haben, wohin ihn sein Weg führte, und hatte offensichtlich keinerlei Bedenken, einen der inneren Bereiche der Burg zu betreten, einen Bereich, der für Besucher gesperrt und allein den Zauberern sowie deren Gehilfen beim Errichten der Burganlage vorbehalten war. Doch das war lange her. Trotzdem erinnerte sich Richard noch an das bange Gefühl, als er sich das erste Mal ganz vorsichtig so weit auf das Gelände der Burg der Zauberer vorgewagt hatte. Bei dem Gedanken, wer wohl die Unerschrockenheit besaß, ganz offen in diesen Bereich der Burg hineinzureiten, sträubten sich ihm die Nackenhaare.

Als die beiden Reiterinnen schließlich ins Helle gelangten, erkannte Richard, dass eine von ihnen Shota war.

Sofort vereinnahmte die Hexe seinen Blick mit ihren Augen und setzte jenes stille, wissende, vertrauliche Lächeln auf, das bei ihr stets so natürlich wirkte. Wie fast allem an ihr, misstraute Richard der Bedeutung und erst recht der Aufrichtigkeit ihres Lächelns, sodass er nicht sicher sein konnte, ob es etwas Gutes verhieß. Die andere Frau, vielleicht zehn, fünfzehn Jahre älter, die respektvoll eine halbe Länge hinter Shota ritt, war ihm unbekannt. Kurzes, sandfarbenes Haar säumte ihr attraktives Gesicht. Ihre Augen waren von dem gleichen blendenden Blau wie der Himmel an einem klaren Herbsttag. Anders als Shota, trug sie kein zwangloses Lächeln zur Schau. Beim Reiten wandte sie ständig den Kopf, während ihre Augen suchend umherwanderten, als befürchtete sie, jeden Moment von irgendwelchen aus dem dunklen Gestein der umliegenden Mauern hervorbrechenden Ungeheuern angefallen zu werden. Ganz anders Shota, die Ruhe und Selbstsicherheit verströmte. Cara schob ihren Oberkörper an Richard vorbei zu Nicci. »Die Hexe Shota«, erklärte sie in vertraulichem Flüsterton.

»Ich weiß«, gab Nicci zurück, ohne die Augen von der außergewöhnlich schönen Frau zu lassen, die auf sie zugeritten kam. Kurz vor den Stufen ließ Shota ihr Pferd anhalten, straffte die Schultern und kreuzte ihre Handgelenke lässig über dem Knauf ihres Sattels.

»Ich muss mit dir sprechen«, sagte sie, an Richard gewandt, so als wäre er der Einzige, der dort stand. Das Lächeln, ob aufrichtig oder nicht, war erloschen. »Es gibt einiges zu bereden.«

»Wo ist Euer blutrünstiger kleiner Gefährte Samuel?«

Shota, die einen Damensattel ritt, glitt mit einer Leichtigkeit vom Pferd, wie sich in Richards Vorstellung ein Geist zu Boden gleiten lassen mochte, wenn er denn auf Pferden ritte.

In einem Anflug von Entrüstung wurden Shotas mandelförmige Augen zu schmalen Schlitzen. »Das ist eines der Dinge, über die wir reden müssen.«

Die andere Frau saß ebenfalls ab und nahm die Zügel von Shotas Pferd entgegen, als die Hexe sie achtlos zur Seite hielt, ganz im Stil einer Königin, die weder weiß noch sich darum schert, wer sie ihr abnimmt, aber nicht den geringsten Zweifel hegt, dass jemand es tun wird. Den Blick noch immer auf Richard geheftet, glitt sie zu den breiten granitenen Stufen hinüber. Ihr dichtes welliges, kastanienbraunes Haar fiel über die Vorderseite ihrer Schultern und glänzte im frühmorgendlichen Licht. Ihr reichlich offenherziges Kleid, aus einem luftigen, rostfarbenen, perfekt auf die Farbe ihres Haars abgestimmten Material gefertigt, schien bei ihren mühelosen Schritten zu schweben und sich um jede ihrer Rundungen zu schmiegen, zumindest jene, die es bedeckte.

Zu guter Letzt löste Shota ihre Augen von Richard und musterte Nicci mit einem herausfordernden Blick, unter dem nahezu jeder zusammengezuckt wäre. Nicht aber Nicci. Richard ahnte, dass er vermutlich die beiden gefährlichsten derzeit lebenden Frauen vor sich hatte. Fast erwartete er, dunkle, von Blitzen durchzuckte Gewitterwolken aufziehen zu sehen, doch wie zum Hohn blieb der Himmel wolkenlos klar.

Schließlich glitt Shotas Blick wieder zu Richard zurück. »Dein Freund Chase ist schwer verwundet worden.«

Richard wusste nicht, was er von Shota zu hören erwartet hatte, das aber ganz gewiss nicht. »Chase ...?«

Plötzlich war auch Zedd zur Stelle und drängte sich energisch zwischen Richard und Cara hindurch nach vorn. »Shota!«, polterte er wutschnaubend. Sein Gesicht war tiefrot angelaufen, und das lag nicht am Rennen durch die Flure. »Wie könnt Ihr es wagen, die Burg der Zauberer zu betreten! Erst betrügt Ihr Richard um das Schwert, und dann ...«

Richard hielt seinem Großvater den ausgestreckten Arm vor die Brust, um zu verhindern, dass der die Stufen hinunterstürzte.

»Beruhige dich, Zedd. Shota meinte gerade, Chase sei schwer verwundet worden.«

»Was bildet sie sich eigentlich ...«

Unvermittelt stockte Zedd, als ihm endlich dämmerte, was Richard soeben gesagt hatte. Die Augen entsetzt aufgerissen, wandte er sich wieder Shota zu. »Chase, verwundet? Bei den Gütigen Seelen ... Wie denn das?«

Plötzlich gewahrte er die andere Frau, die ein wenig weiter hinten stand, in der Hand die Zügel ihrer beiden Pferde. Er kniff gegen das strahlend helle Licht die Augen zusammen. »Jebra? Jebra Benvinvier?«

Die Frau lächelte herzlich. »Es ist schon eine Weile her. Ich war mir nicht sicher, ob Ihr mich wieder erkennen würdet, Zauberer Zorander.«

Als er diesmal loslief und die Stufen hinunterhastete, unternahm Richard keinen Versuch, ihn aufzuhalten. Herzlich, fast beschützend, schloss er die Frau in seine Arme.

»Zauberer Zorander ....«

»Zedd, oder erinnert Ihr Euch nicht mehr?«

Sie wich ein Stück zurück, um sein Gesicht zu betrachten, und schließlich brach kurz ein Lächeln durch die Traurigkeit, die so schwer in ihren Augen lastete. Ihr Lächeln erlosch wie ein unwirklicher Spuk. »Zedd, meine seherische Gabe ist erloschen.«

»Erloschen?« Das Gesicht angespannt vor Sorge, straffte er sich und fasste sie bei den Schultern. »Wie lange ist das her?«

Ein Ausdruck entsetzlichen Schmerzes zeigte sich in ihren blauen Augen. »Fast zwei Jahre.«

»Zwei Jahre ...«, wiederholte Zedd und ließ den Satz vor Entsetzen unbeendet.

»Jetzt erinnere ich mich an Euch«, sagte Richard und kam die Stufen hinunter. »Kahlan hat mir von Euch erzählt.«

Die Stirn verwirrt gerunzelt, sah Jebra ihn an. »Wer?«

»Das Phantom, dem er nachjagt«, warf Shota ein, den unerschütterlichen Blick fest auf ihn gerichtet, so als wartete sie nur darauf, dass er es wagte zu widersprechen.

»Die Frau, die er sucht, ist kein Phantom«, sagte Nicci und lenkte damit Shotas Aufmerksamkeit auf sich. »Nicht zuletzt aufgrund der kostspieligen und recht doppeldeutigen Anregungen, die Ihr vorbrachtet, haben wir die Wahrheit dessen herausgefunden, was Richard uns schon die ganze Zeit zu erklären versucht. Ihr tappt diesbezüglich ganz offensichtlich noch im Dunkeln.«

Niccis frostiger Blick erinnerte Richard daran, dass sie einst unter dem Namen »Herrin des Todes« bekannt gewesen war. Die kalte Autorität ihrer Stimme passte zu ihrer äußeren Erscheinung. Nur wenige Frauen auf der Welt waren in weiten Kreisen so gefürchtet wie einst Nicci - mit Ausnahme Shotas vielleicht. Niccis Verhalten ließ erkennen, dass sie unzweifelhaft noch immer eine Frau war, die man fürchten musste.

Unbeeindruckt und in aller Ruhe musterte Shota Nicci in ihrem rosa Nachthemd von Kopf bis Fuß. Richard hatte ein mild spöttisches Schmunzeln erwartet, doch stattdessen blitzte heißer Zorn in ihren Augen auf.

»Ihr habt in seinem Bett geschlafen.« Fast schien sie selbst ein wenig überrascht von ihren Worten, so als wäre ihr dieser Umstand unerwartet in den Sinn gekommen.

Nicci, der Shotas Zorn sichtlich Genugtuung bereitete, zuckte die Achseln. »Schon möglich.«

Shotas Mundwinkel verzogen sich zu einem kaum merklichen Lächeln. »Aber es ist Euch noch nicht gelungen, ihn in Euer Bett zu kriegen.« Ihr Feixen wurde breiter. »Habt Ihr es überhaupt versucht, meine Liebe? Oder fürchtet Ihr den schmerzhaften Stich einer Zurückweisung?«

»Ich weiß nicht. Warum verratet Ihr mir nicht, wie es sich anfühlt, dann werde ich mich entscheiden.«

Richard zog Nicci behutsam ein Stück vom Rand der Stufen zurück, ehe die beiden sich zu einer Dummheit hinreißen ließen - sich gegenseitig die Augen auszukratzen oder in ein Häuflein Asche zu verwandeln, zum Beispiel.

»Ihr sagtet, Ihr wärt aus einem bestimmten Grund hergekommen, Shota - ich hoffe doch, das war er nicht.«

Shota entfuhr ein leiser Seufzer. »Ich habe Euren Freund Chase gefunden. Er war schwer verletzt.«

»Das sagtet Ihr bereits. Aber wodurch wurde er verletzt?«

Shota hielt seinem Blick stand. »Er ist mit einem Schwert verwundet worden, einem Schwert, das dir recht vertraut sein dürfte.«

Richard blinzelte erstaunt. »Chase wurde mit dem Schwert der Wahrheit verletzt? Dann hat Samuel ihn überfallen?«

»Ich fürchte es, ja.«

Zedd drohte ihr mit einem knochendürren Finger. »Das habt Ihr zu verantworten!«

»Unsinn.« Als Zedd näher trat, hob auch Shota einen Finger, wenn auch eher warnend denn vorwurfsvoll. Sowohl die Geste wie auch ihre Worte verhinderten, dass Zedd einen weiteren Schritt machte.

»Ich benötige kein Schwert, um jemandem Schaden zuzufügen.« Sie hob eine Braue. »Möchtet Ihr vielleicht eine Kostprobe sehen, Zauberer?«

»Schluss jetzt!« Richard sprang die Treppe herunter und drängte sich zwischen Shota und seinen Großvater. Er bedachte Shota mit einem zornigen Blick. »Was geht hier vor?«

Sie stieß einen unglücklichen Seufzer aus. »Ich fürchte, das ist mir nicht vollkommen klar.«

»Ihr habt Samuel mein Schwert überlassen.« Richard versuchte, die Erregung in seiner Stimme zu unterdrücken, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen, befürchtete jedoch, dass es ihm nicht recht gelang. »Ich habe Euch gewarnt, was für ein mieser Charakter er ist. Aber trotz meiner Warnung habt Ihr darauf bestanden, dass er es bekommen soll. Ich will wissen, was er im Schilde führt. Wo ist Chase? Wie schlimm ist er verwundet? Und wo ist überhaupt Rachel?«

Ein verständnisloses Zucken ging über Shotas Stirn. »Rachel?«

»Das kleine Mädchen, das bei ihm war - das Mädchen, das er adoptiert hat. Die beiden waren auf dem Weg zurück nach Westland. Chase plante, seine Familie zur Burg der Zauberer mitzunehmen. Wollt Ihr etwa behaupten, das Mädchen war nicht bei ihm?«

Während er zusah, wie Rikka die Zügel der beiden Pferde ergriff und sie zur Koppel hinüberführte, versuchte er sich vorzustellen, was eigentlich vor sich ging, wieso Rachel nicht bei Chase geblieben war. Er sorgte sich, welchen Grund es dafür geben, was Rachel zugestoßen sein könnte. Er wusste, wie einfallsreich und anhänglich sie war, und fragte sich, ob sie vielleicht Hilfe holen gegangen war und jetzt ganz allein umherirrte.

Dann kam ihm ein anderer Gedanke. »Wie kam es überhaupt dazu, dass Ihr Chase über den Weg gelaufen seid?«

Shota benetzte ihre Lippen. Es schien ihr zu widerstreben, etwas zuzugeben, das ihr offenkundig unangenehm war, aber zu guter Letzt tat sie es doch. »Ich war hinter Samuel her.«

Überrascht sah Richard zu Nicci hinüber. Ihr Gesichtsausdruck ließ keinerlei Reaktion erkennen, und ihre Züge waren so bar jeder Regung, dass Richard sich einen winzigen Augenblick lang an einen ähnlichen Blick erinnert fühlte, den er bei Kahlan gesehen hatte. Das Konfessorinnengesicht, so hatte sie es genannt. Es kam vor, dass Konfessorinnen alle Gefühle ablegten, um die grauenhaften Dinge tun zu können, die mitunter unvermeidlich waren.

»Wie geht es Chase?«, erkundigte sich Richard, beträchtlich ruhiger. Natürlich wollte er wissen, warum sie hinter Samuel her gewesen war, im Augenblick jedoch bedrückten ihn wichtigere Dinge. »Wird er wieder gesund?«

»Ich denke ja«, antwortete Shota. »Er wurde mit einem Schwert durchbohrt...«

»Mit meinem Schwert.«

Shota ging auf die feine Unterscheidung nicht ein. »Ich bin keine Heilerin, aber ich verfüge über gewisse Fähigkeiten, die es mir erlaubt haben, ihn zumindest von der Schwelle des Todes zurückzuholen. Ich machte ein paar brave Leute ausfindig, die sich seiner annehmen und ihm helfen konnten, sich wieder zu erholen. Aber es wird wohl eine Weile dauern, bis er wieder auf den Beinen ist.«

»Und wieso hat Samuel ihn nicht umgebracht?«, fragte Cara oben von der obersten Stufe aus.

»Tovi hat er auf die gleiche Weise verletzt«, warf Nicci ein. »Und sie hat er ebenfalls nicht getötet.«

»Zumal Samuel zweifellos fähig ist, einen Mord zu begehen«, betonte Richard.

Shota faltete die Hände vor ihrem Körper. »Offenbar konnte Samuel nicht den Mut aufbringen, jemanden mit dem Schwert zu töten. Damals - als das Schwert schon einmal in seinem Besitz war -hat er es getan, daher weiß er um den Schmerz, den es hervorruft, wenn man es zum Töten benutzt.« Sie sah Richard mit hochgezogener Braue an. »Ich bin mir sicher, du weißt, wovon ich spreche.«

»Es ist eben eine Waffe, die nicht in falsche Hände gehört«, stellte Richard fest.

Ohne auf Richards Stichelei einzugehen, fuhr sie fort. »Er neigt nun mal zu Feigheit, und Feiglinge lassen ihr Opfer oft zurück, damit es alleine stirbt, ohne dass sie dabei zusehen müssen.«

»Auf diese Weise leiden sie mehr«, strich Zedd heraus. »Es ist ein noch grausamerer Tod. Vielleicht war das seine Absicht.«

Die Hexe schüttelte den Kopf. »Samuel ist ein Feigling und Opportunist, aber an Grausamkeit ist ihm nicht gelegen. Vielmehr kreist er ausschließlich um sich selbst. Feiglinge überlegen sich diese Dinge nicht unbedingt, sie handeln aus einer Laune heraus. Wenn sie etwas wollen, dann wollen sie es meist sofort.

Samuel überlegt sich die Folgen seines Tuns nur selten. Wenn er etwas erblickt, das er begehrt, und eine Gelegenheit sieht, es sich zu nehmen, ergreift er sie beim Schopf. Er scheut den Schmerz, den es bereiten würde, jemanden mit dem Schwert zu töten, deshalb verzichtet er darauf, den von ihm unbedacht begonnenen Tötungsakt zu vollenden. Stirbt die von ihm verletzte Person dann eines qualvollen, sich in die Länge ziehenden Todes, so kümmert ihn das nicht weiter, schließlich ist er nicht dabei und bekommt es gar nicht mit. Aus den Augen, aus dem Sinn. Genauso hat er sich auch im Fall von Chase verhalten.«

»Und Ihr habt ihm das Schwert überlassen«, wiederholte Richard, unfähig, seinen Zorn zu unterdrücken. »Ihr wusstet, wes Geistes Kind er ist, und doch habt Ihr ihm die Möglichkeit gegeben, ein solches Verbrechen zu begehen.«

Shota musterte ihn einen Moment, ehe sie antwortete. »So war es keineswegs, Richard. Ich habe ihm das Schwert gegeben, weil ich annahm, es würde ihn glücklich machen. Ich war im Glauben, es würde ihn zufrieden machen, es wieder in seinem Besitz zu haben, dachte, es würde seinen nach wie vor vorhandenen Groll darüber besänftigen, dass man es ihm so unvermittelt abgenommen hat.«

Shota warf Zedd einen kurzen, aber mörderischen Blick zu.

»Mit anderen Worten, Ihr habt nicht bedacht, welche Folgen Euer Tun haben könnte«, fasste Richard zusammen. »Ihr wolltet etwas, weil Ihr es eben wolltet, und das sofort.«

Shotas Blick wanderte zurück zu Richard. »Du bist immer noch so respektlos wie zuvor - nach all der Zeit und allem, was inzwischen vorgefallen ist?«

Richard war nicht in der Stimmung, sich zu rechtfertigen.

»Ich fürchte, es geht dabei um mehr«, sagte Shota, nun etwas weniger zornig, »um mehr, als mir in jenem Moment bewusst war.«

Zedd rieb sich das Kinn und ließ sich die Situation durch den Kopf gehen. »Samuel muss erst Chase niedergestochen und anschließend Rachel verschleppt haben.«

Zedds Bemerkung überraschte Richard, daran hatte er gar nicht gedacht. Er war davon ausgegangen, dass Rachel sich abgesetzt hatte, um Hilfe zu holen.

Die Stirn gerunzelt, wandte er sich an Shota. »Wäre Samuel zu so etwas fähig?«

»Ich fürchte, ich habe keine Ahnung.« Shota schaute hoch zu Nicci, die immer noch oben auf den granitenen Stufen stand. »Wer ist eigentlich diese Frau, die er Euren Worten zufolge niedergestochen hat? Diese Tovi?«

»Sie war eine Schwester der Finsternis, und das ist keine leere Anschuldigung. Tovi kannte die Person nicht, die sie niederstach, und sie wusste auch nicht, wer Samuel war, aber das Schwert der Wahrheit kannte sie ganz sicher. Immerhin war sie im Palast der Propheten einst eine von Richards Ausbilderinnen. Kurz vor ihrem Tod gestand sie mir, wie sie und drei weitere Schwestern der Finsternis den Feuerkettenbann um Kahlans Person auslösten, um sie aus der Erinnerung aller zu tilgen. Anschließend benutzten sie Kahlan dann, um die Kästchen der Ordnung aus dem Palast des Volkes zu stehlen.«

Shota, die aufrichtig verblüfft wirkte, zog die Stirn in Falten.

»Die Kästchen der Ordnung sind im Spiel«, setzte Richard hinzu. Den Blick nachdenklich in die Ferne gerichtet, machte Shota eine abwiegelnde Handbewegung. »So viel hatte ich auch schon herausgefunden. Nur wusste ich nicht, wie es dazu gekommen ist.«

Richard war sich unschlüssig, inwieweit sie auch über den Rest der Geschichte informiert war, entschied aber, es trotzdem zu erzählen.

»Tovi war im Begriff, eines der Kästchen der Ordnung aus dem Palast des Volkes in D’Hara fortzuschaffen, als Samuel sich auf sie stürzte, sie mit dem Schwert durchbohrte und anschließend das Kästchen an sich nahm, das sie bei sich trug.«

Wieder wirkte Shota überrascht, ein Gesichtsausdruck, der jedoch rasch verhaltenem Zorn wich, als sie sich im Stillen durch den Kopf gehen ließ, was man ihr da gerade berichtet hatte.

»Ich kenne Chase, seit ich denken kann«, sagte Richard. »Jedem kann einmal ein Fehler unterlaufen, trotzdem habe ich noch nicht erlebt, dass ihn jemand aus einem Hinterhalt heraus überraschen konnte. Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, dass die Schwestern der Finsternis wesentlich einfacher in eine Falle zu locken sein sollten. Mit der Gabe Gesegnete von ihren Talenten und Fähigkeiten spüren es, wenn sich jemand in ihrer Nähe befindet.«

Shota sah zu ihm hoch. »Worauf willst du hinaus?«

»Irgendetwas hat Samuel in die Lage versetzt, eine Schwester der Finsternis und einen Grenzposten zu überrumpeln.« Richard verschränkte die Arme vor der Brust. »Hinzu kommt, dass Ihr jedes Mal, wenn Samuel irgendeine Schandtat zu verüben versucht, ganz überrascht tut und behauptet, nicht das Geringste über seine Absichten gewusst zu haben. Was für eine Rolle spielt Ihr in diesem Spiel, Shota?«

»Gar keine. Ich hatte keine Ahnung, was er im Schilde führte.«

»Diese Unwissenheit passt nicht zu Euch.«

Ein Hauch von Röte streifte ihre Wangen. »Du hast ja keine Ahnung.« Zu guter Letzt wandte sie sich von ihm ab und hielt auf die Treppe zu. »Wie ich bereits sagte, es gibt eine Menge zu besprechen.«

Richard bekam sie beim Arm zu fassen und drehte sie zu sich herum.

»Hattet Ihr irgendwas damit zu tun, dass Samuel imstande war, sich an Chase anzuschleichen oder Tovi zu überraschen und dieses Kästchen zu stehlen? Außer, dass Ihr ihm die Waffe für die Durchführung dieser Tat verschafft und ihm zweifellos alles über die Kräfte verraten habt, die in den Kästchen der Ordnung enthalten sind, meine ich?«

Eine Zeit lang musterte sie prüfend seine Augen. »Willst du mich etwa töten, Richard?«

»Euch töten? Ich bin der beste Freund, den Ihr je hattet, Shota.«

»Dann wirst du deinen Ärger jetzt ruhen lassen und dir anhören, was wir dir zu sagen haben.« Mit einem Ruck befreite sie ihren Arm aus seinem Griff und hielt erneut auf die Treppe zu. »Wir sollten zusehen, dass wir aus diesem scheußlichen Wetter herauskommen. Gehen wir nach drinnen.«

Richard blickte in den strahlend blauen Himmel. »Das Wetter ist doch prächtig«, sagte er, während er ihr hinterher schaute, wie sie die Stufen hinaufstieg.

Oben angekommen, blieb sie kurz stehen, um erneut einen kurzen, durchdringenden Blick mit Nicci zu wechseln, ehe sie sich herumwandte und zu Richard hinuntersah. Es war ebenjener berückende, zeitlose, beunruhigende Blick, den, das ahnte er, nur eine Hexe hervorzuzaubern vermochte.

»Nicht in meiner Welt«, erwiderte sie beinahe im Flüsterton. »In meiner Welt gießt es in Strömen.«

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