»Wenn überall Soldaten waren, wieso haben sie Euch dann nicht aufgegriffen und verschleppt?«, fragte Cara mit der ebenso beiläufigen wie bissigen Direktheit, wie nur eine Mord-Sith sie so mühelos aufzubringen vermochte. Die gleiche Frage war auch Richard in den Sinn gekommen.
»Sie waren wohl in dem Glauben, sie sei als Bedienstete abgestellt worden«, erklärte dann Nicci mit sicherer, wissender Stimme. »Da sie so lange nach Beginn des Überfalls noch völlig unbehelligt umherlief, dürften die Soldaten angenommen haben, es müsse einen guten Grund dafür geben, nämlich, dass sie von den Befehlshabern für andere Aufgaben vorgesehen war.«
Jebra nickte. »Genau so war es. Kurz darauf entdeckte mich ein Offizier und zerrte mich in einen Raum voller anderer Soldaten, die sich um mehrere Tische versammelt hatten, auf denen man Karten ausgebreitet hatte. Anders als die meisten Räume war dieser nicht völlig zerstört. Sie wollten wissen, wo ihr Essen bleibe, so als müsste ich das wissen.
Sie sahen nicht minder grimmig aus als all die anderen Soldaten, und zunächst war mir auch gar nicht klar, dass sie die Offiziere waren, wenn nicht die anderen Soldaten, die dort mit irgendwelchen Meldungen ein und aus gingen, ihnen eine gewisse Ehrerbietung gezollt hätten. Einige der Offiziere, sie waren etwas älter und legten ein noch etwas schärferes Auftreten an den Tag, hatten einen noch berechnenderen Blick in den Augen als die gewöhnlichen Soldaten, die stets einen weiten Bogen um sie machten. Als sie mich ansahen, wusste ich, diese Männer erwarteten, dass man ihnen augenblicklich antwortete.
An diesen Hoffnungsschimmer klammerte ich mich - dass ich womöglich überleben könnte, wenn ich mich auf das Spiel einließ. Eine Entschuldigung stammelnd, verneigte ich mich und erklärte ihnen, ich würde mich augenblicklich um das Essen kümmern. Offenbar mehr daran interessiert, etwas zu essen zu bekommen, als Strafen zu verteilen, erklärten sie, ich solle mich gefälligst beeilen. Ich lief zu den Küchen hinüber und versuchte den Anschein zu erwecken, ich hätte einen bestimmten Plan, gleichzeitig bemühte ich mich, nicht meinem Fluchtinstinkt nachzugeben, da ich befürchtete, beim Anblick einer rennenden Frau könnten die Soldaten wie Wölfe reagieren, die ein Kitz aus der Deckung hervorbrechen sahen. In den Küchenräumen drängten sich Hunderte von Menschen, meist ältere Männer und Frauen, von denen ich viele wieder erkannte, da sie lange Zeit die Speisen für den Palast zubereitet hatten. Sogar ein paar jüngere, kräftigere Männer waren darunter; sie wurden für einige der schwereren Handreichungen gebraucht, die für die Küchenjungen und älteren Hilfen zu schwer waren, Handreichungen wie das Hantieren mit den fürs Zerlegen bestimmten toten Tieren oder das Drehen der schweren Spieße. Sie alle schufteten wie von Sinnen inmitten der tosenden Küchenfeuer und dampfenden Kessel, als hinge ihr Leben davon ab, was natürlich durchaus zutraf. Ich wurde kaum bemerkt, als ich die Küchenräume betrat, da alle, von den unterschiedlichsten Tätigkeiten völlig in Anspruch genommen, hektisch Durcheinanderliefen. Da jeder bereits in fieberhafter Hektik schuftete, schnappte ich mir einen großen mit Fleischspeisen Vollgehäuften Servierteller und erbot mich, diesen zu den Offizieren hinaufzubringen. Die Leute in der Küche waren nur zu froh, dass jemand sich bereit erklärte, sich mitten unter die Soldaten zu wagen.
Als ich mit den Speisen zurückkehrte, ließen die Offiziere alles stehen und liegen, sprangen, offensichtlich völlig ausgehungert, von ihren Sofas und Sesseln auf und machten sich mit bloßen, völlig verdreckten Fingern über das Fleisch auf dem Servierteller her. Während ich den schweren Teller auf einem der großen Tische abstellte, blickte einer der Offiziere, einen Fleischbrocken zwischen seinen mahlenden Kiefern, zu mir hoch und fragte mich, wieso ich keinen Ring in meiner Unterlippe trüge. Ich hatte keine Ahnung, wovon er überhaupt sprach ...«
»Nun, Sklaven bekommen einen Ring durch die Unterlippe gebohrt«, erklärte Nicci. »Er weist sie als Eigentum ranghoher Soldaten aus und hält gewöhnliche Soldaten davon ab, sie als Beute zu nehmen. Dadurch wird gewährleistet, dass den Kommandeuren für alle niederen Tätigkeiten Bedienstete zur Verfügung stehen.«
Jebra nickte. »Der Offizier blaffte einen Befehl. Ein Soldat packte mich und hielt mich fest, während ein anderer vor mich hintrat, meine Unterlippe vorzog und einen Eisenring hindurchstieß.«
Nicci starrte blicklos in die Ferne. »Eisen gilt bei ihnen als Hinweis auf die Eisenkessel und Ähnliches mehr. Ein Eisenring steht also für das Küchenpersonal und verwandte Bereiche.«
Richard konnte sehen, wie sich ein Schleier unterdrückten Zorns über Niccis blaue Augen legte. Auch sie hatte einst einen Ring in ihrer Unterlippe getragen, wenngleich ihrer aus Gold gewesen war, um sie als persönlichen Besitz von Kaiser Jagang zu kennzeichnen. Eine Ehre war das keineswegs. Nicci war auf eine Weise missbraucht worden, die weit schlimmer war als alle niederen Tätigkeiten.
»Das ist völlig richtig«, bestätigte Jebra. »Nachdem man mir den Ring durch die Lippe gebohrt hatte, wurde ich in die Küche zurückgeschickt, um Wein und weitere Speisen zu holen. Dabei fiel mir auf, dass die anderen in der Küche ebenfalls Ringe trugen. Die ganze Zeit, während ich hin und her lief, um den Offizieren zu bringen, was immer sie verlangten, befand ich mich in einem Zustand apathischer Benommenheit. Wann immer ich konnte, stibitzte ich hier einen Schluck Wasser, dort einen Happen zu essen. Es reichte gerade, um zu verhindern, dass ich zusammenbrach. Ich fand kaum Zeit, darüber nachzudenken, dass ich nur dank glücklicher Umstände einem sehr viel schlimmeren Schicksal entgangen war. Sosehr die Wunde auch pochte und blutete, ich war froh, den Ring in meiner Lippe zu tragen, denn jeder Soldat, der ihn erblickte, besann sich hinsichtlich seiner Absichten augenblicklich eines Besseren und ließ mich in Ruhe.
Nicht lange, und man schickte mich beladen mit schweren Taschen voller Speisen und Getränke für die Offiziere in den anderen Teilen der Stadt los. Draußen, in den ländlichen Gebieten rings um die Stadt, bekam ich dann nach und nach einen Eindruck von dem wahren Ausmaß des Grauens, das über Ebinissia hereingebrochen war.«
Als Jebra in einen Zustand entrückter Benommenheit sank, hakte Richard nach. »Was genau habt Ihr dort gesehen?«
Sie sah zu ihm hoch, als hätte sie fast vergessen, dass sie dabei war, ihre Geschichte zu erzählen, doch dann schluckte sie ihren Schmerz hinunter und fuhr fort. »Draußen vor den Mauern der Stadt lagen Zehntausende von Toten, die in der Schlacht ihr Leben gelassen hatten. So weit das Auge reichte, war der Erdboden mit verstümmelten Körpern bedeckt, viele von ihnen, dort wo sie den letzten Widerstand geleistet hatten, in Gruppen zusammengedrängt. Das Bild hatte etwas Unwirkliches, und doch hatte ich es schon einmal gesehen ... in meiner Vision.
Das Allerschlimmste aber war, dass eine ganze Reihe Galeanischer Soldaten trotz ihrer schweren Verletzungen noch lebte. Verwundet lagen sie da und dort über das gesamte Schlachtfeld verteilt an der Seite ihrer toten Kampfgefährten, unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Manche, bereits auf der Schwelle des Todes, stöhnten leise vor sich hin, andere befanden sich in einem Zustand gesteigerter Aufmerksamkeit, waren aber aus dem einen oder anderen Grund bewegungsunfähig. Ein Mann lag unter einem zusammengebrochenen Wagen eingeklemmt, dessen Gewicht ihm die Beine zerquetscht hatte, einen anderen hatte ein durch seinen Unterleib gestoßener Speer am Boden festgespießt. Trotz seiner ungeheuren Schmerzen war er von einem so großen Lebenswillen beseelt, dass er es nicht wagte, sich vom Schaft zu ziehen und damit freizugeben, was der Speer notdürftig zusammenhielt. Wieder andere hatten so stark zertrümmerte Arme oder Beine, dass sie nicht einmal fähig waren, über das chaotische Durcheinander aus toten Soldaten, Pferdeleibern und Trümmerteilen hinwegzukriechen. Wäre ich stehen geblieben, um diesen verwundeten Männern Trost oder Hilfe zu geben, wären sie, da mittlerweile überall Soldaten patrouillierten, entdeckt und auf der Stelle abgestochen worden.
Ich musste auf meinen Wegen von und zu diesen Außenposten quer durch dieses grauenhafte Schlachtfeld. Die Hügel, in denen dieses letzte Gefecht stattgefunden hatte, waren von Hunderten von Personen übersät, die sich gemächlich einen Weg durch diese Toten bahnten und dabei ganz systematisch deren Habseligkeiten durchwühlten. Später erfuhr ich, dass dies eine kleine Armee von Leuten war, die hinter den Truppen der Imperialen Ordnung herzog - die Schlachtengänger - und sich von den Abfällen und Resten ernährte, die die Imperiale Ordnung auf ihrem Weg zurückließ. Diese Geier in Menschengestalt durchwühlten Taschen und Kleider der Toten und bestritten demzufolge mit Tod und Zerstörung ihren Lebensunterhalt. Ich erinnere mich, wie eine ältere Frau in einem schäbigen weißen Schal auf einen noch lebenden Galeanischen Soldaten stieß. Neben anderen Verletzungen war sein Bein bis auf den Knochen aufgeschlitzt, und seine Hände zitterten von der endlosen einsamen Anstrengung, die riesige Wunde zusammenzupressen. Es grenzte an ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte.
Als die Alte in dem schäbigen Schal auf der Suche nach irgendetwas Verwertbarem an seinen Kleidern zerrte, bat er sie um einen Schluck Wasser. Ohne ihn zu beachten, riss sie sein Hemd auf, um zu sehen, ob er, wie manche Soldaten, eine Halskette mit einem Geldbeutel daran trug. Mit matter, heiserer Stimme bettelte er erneut um einen Schluck Wasser. Stattdessen zog sie eine lange Stricknadel aus ihrem Gürtel hervor und stieß sie dem hilflos daliegenden Soldaten ins Ohr. Das Herumfuhrwerken mit der langen Metallnadel in seinem Gehirn war offenbar so anstrengend, dass ihre Zunge aus dem Mundwinkel hervorlugte. Seine Arme zuckten noch einmal, dann rührten sie sich nicht mehr. Eine gemurmelte Klage auf den Lippen, das werde ihm wohl das Maul stopfen, zog sie ihre Stricknadel der Länge nach wieder heraus und wischte sie an seinem Hosenbein ab, schob sie zurück in ihren Gürtel und widmete sich wieder dem Filzen seiner Taschen. Mir fiel auf, mit welch offenkundiger Geübtheit sie bei dieser schauerlichen Tat zu Werke ging.
Andere Schlachtengänger sah ich den Schädel eines jeden Soldaten, den sie lebend antrafen, mit einem Stein einschlagen, nur um sicherzugehen, er werde sie auf ihrer Beutesuche nicht damit überraschen, dass er unerwartet nach ihnen schlug. Einige dieser Aasgeier machten sich dagegen gar nicht erst die Mühe, den Verwundeten etwas anzutun, es sei denn, sie konnten ihre Hände noch gebrauchen und versuchten, sich ihrer zu erwehren. Wenn sie noch lebten, aber keinen Widerstand mehr leisten konnten, bedienten sie sich einfach bei allem, was sie finden konnten, und zogen weiter. Es gab aber auch welche, die triumphierend die Faust gen Himmel reckten, sobald sie einen noch lebenden Soldaten entdeckten, einen, den sie ins Jenseits befördern konnten, so als machte diese Tat sie zu Helden. Gelegentlich traf man auch auf Bösewichte, die auf einen hilflos Verwundeten stießen und sich einen Spaß daraus machten, ihn auf abscheulichste Weise zu quälen, wobei es ihnen besondere Freude bereitete, wenn der Betreffende weder weglaufen noch sich gegen sie wehren konnte. Es war jedoch nur eine Frage von wenigen Tagen, dann waren alle verwundeten Überlebenden ebenfalls tot, sei es, weil sie ihren Verletzungen erlegen waren oder die Schlachtengänger sie ins Jenseits befördert hatten.«
Jebra hielt kurz inne und brach dann in Tränen aus. Es dauerte eine Weile, bis sie weitererzählen konnte. »Keine junge Frau sollte jemals ertragen müssen, was man diesen beklagenswerten Geschöpfen antat. Die gefangen genommenen Galeanischen Soldaten, wie auch die Männer und Jugendlichen aus der Stadt, waren sich nur zu bewusst, was ihren Müttern, Ehefrauen, Schwestern und Töchtern widerfuhr - dafür hatten die Truppen der Imperialen Ordnung gesorgt. Nicht lange, und man schickte die Gefangenen in großen Arbeitskolonnen los, um scheinbar endlose Gruben für die Toten auszuheben. Kaum waren sie mit dem Ausheben der Gruben fertig, zwang man sie, alle verwesenden Leichen zu bergen und für ein Massenbegräbnis herbeizuschaffen. Wer Widerstand leistete, endete ebenfalls in der Grube.
Nachdem alle Toten zusammengetragen und in die Gruben geworfen waren, mussten die Männer lange Gräben ausheben. Anschließend begannen die Hinrichtungen. Nahezu jeder Mann über fünfzehn wurde umgebracht. Zehntausende von Menschen waren der Imperialen Ordnung ins Netz gegangen; daher war mir klar, dass es Wochen dauern würde, sie alle hinzumetzeln.
Frauen und Kinder wurden unter Androhung von Waffengewalt gezwungen zuzusehen, wie ihre Mannsleute ermordet und anschließend in die großen offenen Gruben geschmissen wurden. Während sie zuschauten, setzte man sie darüber in Kenntnis, dies sei ein Beispiel dafür, was all jenen drohte, die sich den gerechten und sittlichen Gesetzen der Imperialen Ordnung widersetzten. Während der gesamten, schier endlosen Hinrichtungen hielt man ihnen einen Vortrag, es sei eine Blasphemie gegen den Schöpfer, ein Leben wie sie zu führen, ausschließlich ihren selbstsüchtigen Zielen verpflichtet. Man erklärte ihnen, die Menschheit müsse von dieser Verderbnis geläutert werden, und dass es so nur zu ihrem Besten sei. Einige der Männer wurden enthauptet, andere zwang man, vor den Gräben niederzuknien, woraufhin Muskelbepackte Kerle mit Knüppeln, deren dickes Ende mit Eisenkappen beschlagen war, die Reihen abschritten und mit kraftvollem Schwung nacheinander jedem Mann den Schädel einschlugen, während einige mit Ketten gefesselte Gefangene ihnen folgten und jeden der soeben Getöteten in den Graben beförderten. Wieder andere Gefangene wurden zum Scheibenschießen mit Pfeilen oder Speeren missbraucht. Gelang es einem betrunkenen Scharfrichter aufgrund seines nachlässigen Zielens einmal nicht, einen Mann sauber zu töten, verfielen seine Kumpane in höhnisches Gelächter. Es war ein Spiel für sie. Trotzdem glaube ich, dass das schiere Ausmaß dieses schauerlichen Tuns nicht wenige Soldaten der Imperialen Ordnung in eine bedrückte Stimmung versetzte, sodass sie sich dem Trunk ergaben, um ihren Ekel hinunterzuspülen, aber auch, um sich, wie es von ihnen erwartet wurde, daran beteiligen zu können. Schließlich ist es eine Sache, in der Hitze des Gefechts zu töten, eine ganz andere aber, es kaltblütig zu tun. Aber genau das taten sie. Kaum waren die Opfer in die Gräben gefallen, wurden sie von denen, die ihnen schon bald nachfolgen würden, mit Erde bedeckt.
Ein regnerischer Tag ist mir besonders im Gedächtnis geblieben; ich musste einigen Offizieren Essen bringen, die im Schutz der ehemaligen, jetzt mit Lanzen abgestützten Segeltuchmarkise eines Ladengeschäfts standen. Sie hatten sich dort eingefunden, um einer Hinrichtung beizuwohnen, die man als ausgefeiltes Spektakel aufgezogen hatte. Die völlig verängstigten Frauen, die die Vollstreckung der Todesstrafe bezeugen sollten, wurden von ihren Häschern dorthin geschleift. Viele der gerade vergewaltigten Frauen waren gar nicht oder bestenfalls halb bekleidet.
Angesichts der zahlreichen Rufe des Wiedererkennens und der lauthals gerufenen Namen wurde mir schon bald klar, dass man bei den Verhören die Ehegatten der Frauen ermittelt und anschließend ausgesondert hatte. Die Paare wurden zu einer makabren Wieder-Vereinigung zusammengeführt, getrennt zwar, aber deutlich füreinander sichtbar.
Man zwang die zusammengekauerten und hilflosen Frauen, zuzusehen, wie man ihren Männern mit Lederriemen die Handgelenke auf den Rücken fesselte. Dann wurden die Männer gezwungen, das Gesicht ihren Frauen zugekehrt, vor den frisch ausgehobenen Gruben niederzuknien. Soldaten schritten die Reihe ab, packten den Kopf eines jeden Mannes bei den Haaren und schnitten ihm die Kehle durch. Ich sehe die Henker noch vor mir, mit ihren kräftigen, vom Regen glänzenden Muskeln. Nachdem sie ihnen die Kehlen durchtrennt hatten, wuchteten sie ihre Opfer einen nach dem anderen in die Grube und gingen dann weiter zum nächsten in der Reihe.
Weinend, am ganzen Körper zitternd, riefen die ihrer Ermordung harrenden Männer die Namen ihrer Liebsten, schrien sie ihre unvergängliche Liebe heraus. Die Frauen taten es ihnen nach, während sie zusehen mussten, wie ihre Männer hingemetzelt wurden. Es war das Grauenhafteste, das Abartigste, was ich je gesehen habe.
Hat man euch jemals die ewige Frage gestellt, wie die Welt eurer Meinung nach wohl enden wird? Dort konnte man es sehen. Für Tausende und Abertausende von Menschen war dies das Ende der Welt - nur dass sie für einen nach dem anderen endete. Es war ein einziges, endlos in die Länge gezogenes Dahinscheiden von Menschenleben, das endgültige Ende der Welt für jedes einzelne dieser Individuen.«
Richard fasste sich fest an die Schläfen, weil er glaubte, sein Schädel sei kurz davor zu zerbersten. Dank einer gewaltigen Willensanstrengung gelang es ihm, seines Atems und seiner Stimme Herr zu werden. »Hat es denn niemand geschafft, zu entkommen?«, fragte er in die dröhnende Stille hinein. »Konnte denn niemand während all dieser Vergewaltigungen und Hinrichtungen fliehen?«
Jebra nickte. »Doch. Ich glaube, einige wenige haben es geschafft zu entkommen, aber natürlich konnte ich das nie mit absoluter Sicherheit wissen.«
»Es gab genug, die entkommen sind«, warf Nicci mit ruhiger Stimme ein.
»Genug?«, brüllte Richard und richtete seinen ganzen Zorn auf sie. Dann bekam er den kurzen Zornesausbruch, der ihm bei aller Selbstbeherrschung herausgerutscht war, wieder in den Griff, und er senkte seine Stimme. »Genug wofür?«
»Genug für ihre Zwecke«, antwortete Nicci, blickte ihm fest in die Augen und ließ das, was sie dort erblickte, in würdevollem Ernst über sich ergehen. »Die Imperiale Ordnung weiß, dass es immer wieder Leute gibt, die fliehen. Auf dem Höhepunkt der Brutalität, wenn die schlimmsten Gräuel begangen werden, lockern sie ganz bewusst die Sicherheitsvorkehrungen, damit sie gewiss sein können, dass zumindest ein paar wenige entkommen.«
Richards Verstand fühlte sich an, als triebe er steuerlos inmitten Tausender verzagter Gedankentrümmer. »Aber warum?«
Nicci blickte ihm lange in die Augen, ehe sie schließlich antwortete.
»Um eine so ungeheure Angst zu verbreiten, dass auch die nächste Stadt von diesem Schrecken ergriffen wird. Ein Schrecken, der bewirkt, dass die Menschen entlang der Route der vorrückenden Armee eher die Waffen strecken, als sich der gleichen brutalen Behandlung auszusetzen. Auf diese Weise fällt ihnen der Sieg in den Schoß, ohne dass sie ihn sich Zoll für Zoll erkämpfen müssten. Der Schrecken, den die Geflohenen mit ihren Augenzeugenberichten verbreiten, ist eine mächtige Waffe, die den Mut derer, denen der Angriff noch bevorsteht, in sich zusammenfallen lässt.«
Angesichts seines heftig pochenden Herzens konnte Richard mühelos verstehen, welches Grauen es bedeutete, auf den Angriff der Imperialen Ordnung zu warten. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Jebra.
»Wurden alle Gefangenen umgebracht?«
»Einige wenige Männer - die man aus dem einen oder anderen Grund für nicht gefährlich hielt - wurden zusammen mit anderen Stadtbewohnern in Arbeitskolonnen aufs Land geschickt, um die Farmen zu bewirtschaften. Was aus diesen Leuten wurde, habe ich nie herausgefunden, aber vermutlich sind sie noch immer dort und rackern sich als Sklaven ab, um Lebensmittel für die Imperiale Ordnung zu produzieren.«
Jebras Blick sank zum Boden, während sie sich das wirre Haar aus dem Gesicht strich. »Die meisten Frauen, die überlebt hatten, wurden Eigentum der Truppen. Einige der jüngeren und attraktiveren Frauen bekamen einen Kupferring durch die Unterlippen gestochen und waren den höheren Rängen vorbehalten. Nicht selten fuhren Karren auf der Suche nach Leichen durch das Feldlager, um die Frauen einzusammeln, die im Zuge ihrer ständigen Misshandlungen zu Tode gekommen waren. Keiner der Offiziere protestierte jemals wegen der brutalen Behandlung, die diesen Frauen in den Zelten der gewöhnlichen Soldaten zuteil wurde. Die Toten wurden zu den Gruben verbracht und achtlos hineingeschmissen. Niemand, nicht einmal die gefallenen Soldaten der Imperialen Ordnung, bekam einen Stein aufs Grab, der seinen Namen trug. Bei der Imperialen Ordnung glaubt man nicht an den Wert des Individuums, weshalb man dem Tod des Einzelnen auch keinerlei Bedeutung beimisst.«
»Was ist mit den Kindern?«, fragte Richard. »Ihr sagtet, die jüngeren Knaben wären verschont worden.«
Jebra holte tief Luft, ehe sie abermals ansetzte. »Nun, die Knaben hatte man gleich zu Beginn Zusammengetrieben und gezielt als - ich weiß kein besseres Wort dafür - jugendliche Rekruten in Altersgruppen zusammengefasst. Man betrachtete sie nicht als gefangene Galeaner, nicht als Eroberte, sondern als junge Ordensmitglieder der Imperialen Ordnung, die man aus einem Volk befreit hatte, das sie nur unterdrückt, das nur ihren Geist verdorben hatte. Die Schuld an der Sündhaftigkeit, welche die Eroberung ja überhaupt erst notwendig gemacht hatte, gab man der älteren Generation, nicht diesen jungen Leuten, die angeblich frei von den Sünden ihrer Eltern waren. Auf diese Weise wurden sie sowohl räumlich als auch geistig von den Erwachsenen getrennt, was gleichzeitig der Beginn ihrer Ausbildung markierte. Die Knaben wurden auf eine Weise gedrillt, die, so erbarmungslos sie vielen erschienen sein muss, doch auch etwas Spielerisches hatte. Man behandelte sie vergleichsweise gut und beschäftigte sie jeden Augenblick mit Wettbewerben, in denen es um Körperkraft und Geschicklichkeit ging. Jegliche Trauer um ihre Eltern war verpönt, so etwas galt als Zeichen der Schwäche. Der Orden wurde zu ihrer Familie, ob es ihnen gefiel oder nicht.
Nachts konnte ich, während mir die Schreie der Frauen in den Ohren klangen, gleichzeitig die Knaben unter der Anleitung spezieller Ausbildungsoffiziere beim gemeinsamen Gesang hören.« Mit einer Armbewegung setzte sie erklärend hinzu: »Ich musste den Offizieren ja das Essen und dergleichen bringen, daher hatte ich, während die Wochen und schließlich Monate ins Land gingen, reichlich Gelegenheit zu sehen, was mit diesen Knaben geschah. Obwohl ich nie wirklich Gelegenheit hatte, im Einzelnen herauszufinden, was man diesen Knaben beibrachte, ist mir doch eine Passage in Erinnerung geblieben, die sie unablässig lauthals in strammer Körperhaltung rezitierten: ›Alleine bin ich nichts. Mein Leben erlangt Bedeutung nur durch die Hingabe an andere. Gemeinsam sind wir eins, stets einer Meinung, für ein gemeinsames Ziel.‹«
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Blick starr in die stillen Fluten des Brunnens gerichtet, stand Richard da, während Jebra fortfuhr, in endlosen Einzelheiten die Ereignisse zu schildern, die sich an den triumphalen Sieg der tapferen Soldaten der Imperialen Ordnung anschlössen. Die Sinnlosigkeit all dessen war fast zu monumental, um sie mit dem Verstand zu erfassen, geschweige denn zu ertragen.
Die Streifen hellen Sonnenlichts, die durch die Oberlichter fielen, krochen gemächlich über Marmorbank und Becken hinweg, über den weitläufigen Fußboden und schließlich die granitenen Stufen hinauf. Der blutrote Stein der Säulen erstrahlte leuchtend, als das Sonnenlicht unaufhaltsam und immer mehr zunehmend der Länge nach an ihnen in die Höhe kroch, während Jebra die Geschehnisse in ihrer Zeit als Gefangene der Imperialen Ordnung in allen Einzelheiten schilderte, soweit sie ihr bekannt waren. Fast die ganze Zeit über hatte Shota unbeweglich ausgeharrt, meist mit verschränkten Armen, das Gesicht erstarrt zu einem vagen Zug von Bitterkeit, während sie Jebra bei der Schilderung ihrer Erlebnisse oder Richard beim Zuhören beobachtete - so wollte sie sichergehen, dass seine Aufmerksamkeit nicht nachließ.
»Galea besaß Nahrungsmittelreserven in Hülle und Fülle für seine Bürger«, fuhr Jebra fort, »aber nicht einmal annähernd genug für die gewaltigen Horden von Eindringlingen, die jetzt die Stadt besetzt hielten und die selbst nicht eben reich mit Vorräten ausgestattet waren. Die Truppen beraubten jedes Magazin seiner Lebensmittelvorräte, sie leerten jede Speisekammer, jedes Lagerhaus. Jedes Tier in meilenweitem Umkreis, darunter auch die zahllosen Schafe, die man wegen ihrer Wolle hielt, sowie die Milchkühe, wurden um ihres Fleisches willen geschlachtet. Anstatt die Hühner eines steten Nachschubs mit Eiern wegen zu verschonen, wurden auch sie getötet und gefressen.
Als die Nahrungsmittel schließlich knapp wurden, schickten die Offiziere Boten mit immer dringlicher klingenden Forderungen nach frischen Vorräten los. Doch diese blieben monatelang aus zweifellos nicht zuletzt deswegen, weil der Winter angebrochen war und sie aufgehalten hatte.
Doch dann, Anfang letzten Frühjahrs, trafen endlich die ersten Vorratswagen ein. Sie führten gewaltige Mengen an Lebensmittel für die Soldaten mit, gleichwohl war mir sofort klar, dass sie, obwohl die mit Vorräten beladenen Wagenkolonnen scheinbar endlos waren, nicht lange reichen würden.
Außer den Vorräten kamen auch Verstärkungen, als Ersatz für die in der Schlacht zur Niederwerfung Galeas gefallenen Soldaten. Bereits jetzt war die ungeheure Übermacht der Truppen der Imperialen Ordnung so überwältigend, dass die zusätzlichen Truppen mein dumpfes Gefühl von Hoffnungslosigkeit noch zu steigern schienen. Zufällig hörte ich eben eingetroffene Soldaten berichten, es seien weitere Vorräte unterwegs, ebenso noch mehr Truppen. Noch während sie von Süden her herbeiströmten, wurden viele von ihnen mit Missionen zur Sicherung anderer Gebiete der Midlands beauftragt. Es mussten noch andere Städte erobert, andere Gebiete eingenommen, andere Widerstandsnester ausgehoben werden, es gab noch unzählige weitere Menschen, die als Sklaven verschleppt werden sollten.
Mit den Vorräten und frischen Truppen trafen auch Briefe der Menschen daheim in der Alten Welt ein. Natürlich waren es keine an irgendwelche individuellen Soldaten gerichteten Briefe; in der Imperialen Ordnung hätte man gar nicht gewusst, wie man angesichts der gewaltigen Menschenmassen einen bestimmten Soldaten hätte ausfindig machen sollen, noch hätte man überhaupt ein Interesse daran gehabt, da Individuen an sich in ihren Augen ja unbedeutend waren. Vielmehr waren es ganz allgemein an die ›tapferen Soldaten‹ adressierte Schreiben, die für die Menschen daheim und zum Wohle ihres Schöpfers kämpften, dafür kämpften, die Heiden aus dem Norden zu besiegen und diese rückständigen Menschen mit den Segnungen des Ordens zu beglücken. Die Briefe wurden über einen Zeitraum von mehreren Wochen jeweils abends verlesen, vor eigens dafür versammelten Gruppen von Soldaten, von denen die meisten des Lesens selbst nicht mächtig waren. Es waren Briefe jedweder Art, von Menschen, die von den großen Opfern berichteten, die sie gebracht hatten, um Lebensmittel und andere Güter an ihre kämpfende Truppe zu schicken, bis hin zu Briefen, in denen die großen Opfer gepriesen wurden, welche die Soldaten erbrachten, um die göttlichen Lehren zu verbreiten, bis hin zu Liebesbriefen junger Frauen, die versprachen, ihren Körper all den tapferen Kämpfern zur Verfügung zu stellen, sobald diese von der Eroberung des unzivilisierten und rückwärtsgewandten Feindes hoch im Norden zurückkamen. Wie ihr euch vorstellen könnt, erfreuten sich gerade letztere Briefe besonderer Beliebtheit, weshalb sie wieder und wieder unter großem Gejohle und stürmischem Jubel vorgelesen wurden.
Sogar Erinnerungsstücke schickten die Menschen aus der Alten Welt: Talismane, die den Sieg bringen sollten, Zeichnungen als Schmuck für die Zelte ihrer Kämpfer, Kekse und Kuchen, die längst verrottet waren; Socken, Handschuhe und Mützen, Kräuter für alle nur erdenklichen Zwecke von der Teezubereitung bis hin zur Füllung von Bandagen; parfümierte Taschentücher verzückter Frauen, die es kaum erwarten konnten, sich den Soldaten anzudienen; Waffengürtel und Ähnliches, hergestellt von Scharen junger Knaben, die sich wiederum mit anderen Knabengruppen der gleichen Altersgruppe auf den Tag vorbereiteten, da auch sie endlich gen Norden ziehen durften, um jenes Volk zu strafen, das sich der Weisheit des Schöpfers und der Gerechtigkeit der Imperialen Ordnung widersetzte.
Bevor die endlosen Kolonnen von Nachschubwagen wieder in die Alte Welt zurückkehrten, um noch mehr Vorräte herbeizuschaffen, die für den Unterhalt der gewaltigen Armee hoch oben in der Neuen Welt benötigt wurden, wurden sie mit Massen von Beutegütern beladen, die in die Städte der Alten Welt verbracht werden sollten, welche die von der Armee so dringend benötigten Lebensmittel und Nachschubgüter lieferten. Es war eine Art Tauschhandel - Beute gegen Nachschub, Nachschub gegen Beute. Ich vermute, der Anblick der endlosen Wagenkolonnen voller erbeuteter Reichtümer sollte den Menschen zuhause zudem als zusätzlicher Anreiz dienen, die mittlerweile zweifellos enormen Kosten dieser Kriegsanstrengungen auch weiterhin zu tragen.
Natürlich war die in die Stadt eingefallene Armee viel zu groß, um von dieser aufgenommen zu werden, und angesichts der mit jeder Wagenkolonne eintreffenden Verstärkungen breitete sich das schon jetzt schier endlose Zeltmeer noch weiter in die Landschaft aus, wo es nun sämtliche Hügel und Täler ringsumher bedeckte. Sämtliche Bäume in weitem Umkreis waren längst geschlagen worden und hatten während des jüngsten Winters als Feuerholz Verwendung gefunden, was im gesamten Landstrich rings um den Sitz der Krone den Eindruck einer leblosen und toten Ödnis hinterließ. Unter den wogenden Massen der Soldaten, der zahllosen Pferde und der Vielfalt von Wagen hatte frisches Gras keine Chance nachzuwachsen, sodass sich ganz Galea in ein Meer aus Morast verwandelt zu haben schien.
Unterdessen schuftete ich bis zur Erschöpfung, um all die Offiziere mit Essen zu versorgen, daher hielt ich mich häufig in der Nähe des Befehlsstabes auf und konnte nicht selten Eroberungspläne, Meldungen von gefallenen Städten, Gefangenenzahlen sowie Berichte über die Anzahl der in die Alte Welt entsandten Sklaven belauschen. Ab und zu schleppte man einige der attraktiveren Frauen für die Offiziersränge herbei, damit diese sich ihrer bedienen konnten. Die Augen dieser Frauen waren irre vor Angst, was mit ihnen geschehen würde. Ich wusste, schon bald würde der sehnsüchtige Wunsch nach Erlösung durch den Tod ihren Blick trüben. Das alles schien mir eine einzige nicht enden wollende Attacke, eine endlose Barbarei, die durch nichts erkennen ließ, ob sie je enden würde.
Mittlerweile war die Stadt nahezu vollständig von den Menschen geräumt worden, für die sie einst das Zuhause gewesen war. Fast jeder männliche Einwohner über fünfzehn war umgebracht worden, und die Handvoll, auf die das nicht zutraf, hatte man als Sklavenarbeiter fortgeschickt. Viele der Frauen - alle, die entweder zu alt oder zu jung waren, um für den Orden von Nutzen zu sein waren ebenfalls getötet worden, so als wären sie im Weg, viele aber hatte man einfach zurückgelassen, um zu verhungern. Wie die Ratten hausten sie in den dunklen Winkeln und Ecken der Stadt. Vergangenen Winter sah ich eine Gruppe alter Frauen und junger Mädchen, Gerippe mit einer dünnen Schicht aus Fleisch darüber, um einen Bissen zu essen betteln. Es brach mir schier das Herz, doch ihnen zu essen zu geben wäre nur darauf hinausgelaufen, dass man sie und mich hingerichtet hätte. Trotzdem steckte ich ihnen manchmal etwas zu, wenn ich ungestraft damit davonkommen konnte - so es denn etwas gab.
Am Ende schien es, als wäre die Bevölkerung des Sitzes der Krone Galeas, Hunderttausende von Menschen, weitgehend ausgelöscht. Das einstige Herz Galeas existierte nicht mehr; es war jetzt von Hunderttausenden von Soldaten besetzt. Die Schlachtengänger gingen dazu über, sich in den vor langer Zeit geplünderten Gebäuden häuslich einzurichten, indem sie einfach den Besitz anderer übernahmen. Nach und nach zog es immer mehr Leute aus der Alten Welt dorthin, um Häuser zu übernehmen und als ihr Eigentum zu beanspruchen.
Die einzige Gruppe Galeanischer Frauen, die man am Leben ließ, bestand größtenteils aus Sklavinnen, die von den Soldaten als Huren missbraucht wurden. Viele von ihnen wurden über kurz oder lang schwanger und brachten von den Soldaten der Imperialen Ordnung gezeugte Kinder zur Welt. Diese Sprösslinge wurden zu künftigen Eiferern im Sinne der Imperialen Ordnung herangezogen. Tatsächlich ließ man von allen Galeanischen Kindern nach dem ersten Jahr der Besatzung ausnahmslos die Knaben noch am Leben. Ohne Unterlass nach den Prinzipien des Ordens unterrichtet, wurden diese Knaben das, was den Orden ausmachte. Längst hatten sie die Gewohnheiten ihrer Eltern oder ihrer Heimat, ja sogar des allgemeinen Anstands vergessen. Jetzt waren sie Rekruten der Imperialen Ordnung - frisch geprägte Ungeheuer.
Nach endlosen Monaten der Ausbildung schickte man aus diesen Knaben gebildete Gruppen als erste Angriffswelle gegen andere Städte. Sie sollten das Fleisch sein, an denen sich die Schwerter der Heiden stumpf schlugen. Sie gingen voller Ungeduld. Früher dachte ich, die Rohlinge, aus dem der Orden der Imperialen Ordnung sich zusammensetzte, wären ein eindeutig anderer, barbarischer Menschenschlag, ganz anders als die Menschen in der Neuen Welt. Doch nachdem ich gesehen hatte, wie diese Knaben sich veränderten und was aus ihnen geworden war, wurde mir klar, dass die Menschen, aus denen sich der Orden rekrutierte, sich in Wahrheit nicht von uns anderen unterscheiden, außer eben in ihren Glaubensüberzeugungen und Ideen, die ihnen als Antrieb dienen. Ein verrückter Gedanke, ja, und doch scheint es, dass aufgrund eines rätselhaften Mechanismus jeder anfällig dafür ist, der Verlockung zu erliegen und auf die Methoden der Imperialen Ordnung hereinzufallen.«
Verzweifelt schüttelte Jebra den Kopf. »Ich habe nie wirklich verstanden, wie es dazu kommen konnte, wie die Offiziere es schafften, den Knaben solch dröge Lehren einzutrichtern, wie sie ihnen beibringen konnten, stets selbstlos zu handeln und ein Leben voller Opfer zum Wohle anderer zu führen - und dann plötzlich marschieren diese jungen Burschen, wie durch Magie, mit einem fröhlichen Liedchen auf den Lippen los und sehnen sich geradezu danach, im Kampf zu fallen.«
»Die Erklärung ist im Grunde ganz einfach«, sagte Nicci beiläufig .
»Einfach?« Jebra runzelte ungläubig die Stirn. »Das kann unmöglich Euer Ernst sein.«