19

Richard sah Nicci und Cara an und wies zur Treppe. »Geht bitte beide hinauf zu Zedd und wartet dort.«

Nicci behagte die Idee erkennbar ebenso wenig wie Cara, doch der Blick, mit dem er sie bedachte, sagte ihr, dass sie besser tat, worum er sie bat. Sie schickte ein glühend heißes Funkeln Richtung Shotas Hinterkopf. »Sollte ich aus irgendeinem Grund zu der Annahme gelangen, dass Ihr vorhabt, ihm etwas anzutun, werde ich Euch in ein Häuflein verglühter Asche verwandeln, ehe Ihr auch nur Gelegenheit habt, einen Finger zu rühren.«

»Warum sollte ich ihm etwas antun wollen?« Shota sah über ihre Schulter. »Richard ist der Einzige, der die Chance hat, der Imperialen Ordnung Einhalt zu gebieten.«

»Eben.«

Richard sah zu, wie Nicci und Cara wortlos kehrtmachten und die Stufen hinaufstiegen. Von Cara hätte er mehr Widerstand erwartet, allerdings war er froh, sich damit nicht abgeben zu müssen. Er wechselte einen langen Blick mit seinem Großvater; Zedd wirkte uncharakteristisch schweigsam, und, was das anbelangte, ebenso Nathan und Ann. Alle drei betrachteten sie ihn, als studierten sie ein merkwürdiges, unter einem Stein gefundenes Objekt. Bis Zedd ihn schließlich mit einem kaum merklichen Nicken aufforderte, fortzufahren und sich in das Unvermeidliche zu fügen. Richard hörte, wie der Brunnen hinter seinem Rücken unvermittelt wieder zu sprudeln anfing. Als er sich umwandte, sah er das Wasser hoch hinauf in die Luft bis zum Scheitelpunkt schießen, zurückfallen und sich über die Ausgüsse der Schalen bis ins letzte Becken ergießen, wo es zu guter Letzt sprudelnd endete. Shota saß mit dem Rücken zu ihm auf der niedrigen Marmorumrandung des Beckens und spielte müßig mit den Fingern einer Hand im Wasser. Irgendetwas an ihrer Körperhaltung bewirkte, dass Richard sich die Nackenhaare sträubten.

Als sie sich umwandte und über ihre Schulter sah, blickte Richard auf einmal in das Gesicht seiner Mutter.

Er erstarrte am ganzen Körper.

»Richard.« Ihrem traurigen Lächeln war deutlich anzusehen, wie sehr sie ihn liebte und vermisste. Seit dem Tag seiner letzten Erinnerung an sie als kleiner Junge schien sie kein bisschen gealtert zu sein.

Während Richard wie erstarrt auf der Stelle verharrte, erhob sie sich vor ihm mit einer fließenden Bewegung.

»Ach, Richard«, sagte sie mit einer Stimme, klar und wohltönend wie die Wasser des Brunnens, »wie hab ich dich vermisst.« Sie legte ihm einen Arm um die Hüfte, fuhr ihm mit der anderen Hand zärtlich durchs Haar und blickte ihm voller Sehnsucht in die Augen. »Ich hab dich ja so sehr vermisst.«

Augenblicklich unterdrückte Richard alle aufkommenden Gefühle. Er war klug genug, sich nicht zu dem Glauben verleiten zu lassen, dies sei tatsächlich seine Mutter.

Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen war Shota ihm als seine Mutter erschienen, die, als er noch ein kleiner Junge war, bei einem Brand den Tod gefunden hatte. Damals hätte er ihr wegen dieser in seinen Augen grausamen Hinterlist am liebsten mit seinem Schwert den Kopf abgeschlagen. Shota hatte seine Absicht durchschaut, ihm Vorhaltungen gemacht und erklärt, dass sie sich so vor ihm zeige, sei das harmlose Geschenk einer lebendigen Erinnerung an die Liebe, die er für seine Mutter empfand, sowie ihrer Liebe für ihn; eine Gefälligkeit, für den sie einen hohen Preis bezahlt habe, den er weder jemals werde ermessen können noch offenbar zu schätzen wisse.

Diesmal hatte er nicht den Eindruck, dass sie ihm irgendeinen Gefallen tun wollte. Was genau sie beabsichtigte oder was ihre Beweggründe waren, wusste er nicht, beschloss aber, sich dem in aller Ruhe zu stellen und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

»Ich danke Euch für die wundervolle Erinnerung, Shota, aber warum müsst Ihr ausgerechnet als meine Mutter erscheinen?«

Shotas Stirn, dem Aussehen nach die seiner Mutter, legte sich nachdenklich in Falten. »Sagt dir der Name ... Baraccus etwas?«

Die Härchen in seinem Nacken, die sich gerade erst wieder gelegt hatten, sträubten sich erneut. Vorsichtig legte er ihr die Hände auf die Hüften und schob sie überaus behutsam von sich.

»Zu Zeiten des Großen Krieges gab es einmal einen Mann mit Namen Baraccus, der damals Oberster Zauberer war.« Mit dem Finger hob er das Amulett leicht an, das vor seiner Brust hing. »Das hier hat ihm gehört.«

Seine Mutter nickte. »Genau den meine ich. Er war ein großer Kriegszauberer.«

»Das stimmt.«

»Wie du.«

Richard fühlte sich erröten bei dem Gedanken, dass seine Mutter ihn als »großen Mann« bezeichnete, auch wenn es nur Shota in ihrer Maske war.

»Er wusste seine Talente zu gebrauchen, im Gegensatz zu mir.«

Wieder nickte seine Mutter, wobei sich ihre Mundwinkel, genau wie in seiner Erinnerung, zu einem begütigenden Lächeln nach oben bogen. So hatte sie gelächelt, wenn sie stolz darauf war, dass er eine besonders schwierige Lektion im Kern verstanden hatte. Er fragte sich, ob Shota diese Erinnerung tatsächlich für so wichtig hielt.

»Weißt du, was aus ihm wurde, aus besagtem Baraccus?«

Beruhigt atmete er tief durch. »Ja, das weiß ich in der Tat. Es gab Ärger mit dem Tempel der Winde, nachdem er mitsamt seinem unschätzbar wertvollen Inhalt zur sicheren Verwahrung in eine andere Welt geschickt worden war.«

»In die Unterwelt«, stellte sie richtig.

»Richtig. Dorthin ging Baraccus, um den Ärger aus der Welt zu schaffen.«

Lächelnd fuhr sie ihm erneut mit den Fingern durchs Haar. »Genau wie du.«

»Ja, mag sein.«

Schließlich hatte sie lange genug an seinem Haar herumgenestelt und richtete ihre wunderschönen Augen wieder auf seine. »Er ist deinetwegen dorthin gegangen.«

»Meinetwegen?« Richard bedachte sie mit einem schrägen Blick.

»Wie meint Ihr das?«

»Die subtraktive Magie war im Tempel, in der Unterwelt, weggeschlossen worden; demzufolge war sie der Welt des Lebens entzogen, sodass kein Zauberer jemals wieder mit ihr geboren werden konnte.«

Richard wusste nicht, ob sie einfach nur wiedergab, was er damals in Erfahrung gebracht hatte, oder ob sie ihm mitteilte, was ihrer Ansicht nach die Tatsachen waren. »Zu dieser Vermutung bin ich durch das Studium der Berichte aus jener Zeit gelangt. Die Folge davon war, dass die Menschen nicht mehr mit der subtraktiven Seite der Gabe geboren wurden.«

Sie musterte ihn mit einer Art ruhigem Ernst, den er als überaus verstörend empfand. »Du dagegen sehr wohl«, sagte sie schließlich, auf eine Art, deren Schlichtheit die ungeheuerliche Tragweite ihrer Bemerkung kaum erkennen ließ.

Richard blinzelte verständnislos. »Wollt Ihr etwa behaupten, er hat bei seinem Besuch im Tempel der Winde irgendetwas getan, damit wieder jemand mit subtraktiver Magie geboren werden konnte?«

»Ich nehme an, mit diesem ›jemand‹ meinst du ... dich selbst?« Sie hob eine Braue, wie um die Ernsthaftigkeit der Frage noch zu betonen.

»Was wollt Ihr damit andeuten?«

»Seit damals, seit der Entfernung des Tempels der Winde aus dieser Welt, ist niemand mehr mit subtraktiver Magie, ja überhaupt niemand mehr als Kriegszauberer geboren worden.«

»Hört zu, ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich zutrifft, aber selbst wenn, bedeutet das nicht...«

»Weißt du, was Kriegszauberer Baraccus tat, nachdem er vom Tempel der Winde zurückgekehrt war?«

Die Frage machte ihn ein wenig stutzig, zumal er sich fragte, wieso sie von Bedeutung sein sollte. »Nun, ja. Nach seiner Rückkehr vom Tempel der Winde beging er ... Selbstmord.« Mit einer matten Handbewegung erfasste er den gewaltigen Gebäudekomplex, der sich über ihnen erhob. »Er stürzte sich von der Burg der Zauberer in die Tiefe, von jener Außenmauer, die das Tal und die Stadt Aydindril unten überblickt.«

Seine vermeintliche Mutter nickte bedrückt. »Und auch die Stelle, an der später der Palast der Konfessoren errichtet wurde.«

»Ja, vermutlich.«

»Aber bevor er sich von dieser Mauer stürzte, hat er dir noch etwas hinterlassen.«

Richard, der sich nicht vollkommen sicher war, ob er richtig gehört hatte, starrte sie an. »Hinterlassen, mir? Seid Ihr sicher?«

Seine Mutter nickte. »Der Bericht, den du gelesen hast, war nicht ganz vollständig. Schau, als er vom Tempel der Winde zurückkehrte und ehe er sich von der Außenmauer der Burg der Zauberer stürzte, gab er seiner Frau ein Buch, mit dem er sie in seine Bibliothek schickte.«

»Seine Bibliothek?«

»Ja. Baraccus besaß eine eigene Geheimbibliothek.«

Richard fühlte sich, als ob er sich auf Zehenspitzen über eine eben erst gebildete Eisfläche tastete. »Ich wusste nicht einmal, dass er eine Frau hatte.«

»Aber Richard, du kennst sie sogar.« Seine Mutter lächelte auf eine Weise, dass sich die ohnehin schon aufgestellten Haare in seinem Nacken noch mehr sträubten.

Er wagte kaum zu atmen. »Ich kenne sie? Wie sollte das möglich sein?«

»Nun«, sagte seine Mutter mit einem einseitigen Achselzucken,

»sagen wir besser, du hast von ihr gehört. Ist dir der Zauberer ein Begriff, der die erste Konfessorin schuf?«

»Ja«, antwortete Richard verwirrt über ihren Themenwechsel. »Sein Name war Merritt. Die erste Konfessorin war eine Frau mit Namen Magda Searus. Unten im Palast der Konfessoren existiert ein Deckengemälde von den beiden.«

Seine Mutter nickte - auf eine Art, die ihm den Magen zusammenschnürte. »Das ist besagte Frau.«

»Welche Frau?«

»Die Frau von Baraccus.«

»Nein ...« Richard legte die Finger an die Stirn und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Nein, sie "war Merritts Frau, jenes Zauberers, der sie zur Konfessorin machte, nicht Baraccus’.«

»Das war später«, widersprach seine Mutter mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ihr erster Ehemann war Baraccus.«

»Seid Ihr da ganz sicher?«

Sie nickte entschieden. »Als Baraccus vom Tempel der Winde zurückkehrte, wartete Magda Searus auf ihn, dort wo er sie gebeten hatte zu warten, in der Enklave des Obersten Zauberers. Sie hatte dort bereits mehrere Tage ausgeharrt, ständig in Angst, er werde niemals zu ihr zurückkehren. Zu ihrer großen Erleichterung kam er dann aber doch. Er gab ihr einen Kuss und schwor ihr seine unsterbliche Liebe, dann schickte er sie, nachdem er ihr ein Gelübde ewigen Schweigens abgenommen hatte, insgeheim mit einem Buch in seine verborgene private Geheimbibliothek.

Nachdem sie gegangen war, ließ er seinen Anzug - denselben, den jetzt du trägst, mitsamt den ledergepolsterten Armbändern aus Silber, dem Umhang, der aussieht, als sei er aus Gold gesponnen, und dem Amulett - in der Enklave des Obersten Zauberers zurück, für ebenjenen Zauberer, dessen Geburt in der Welt des Lebens er soeben sichergestellt hatte, mit anderen Worten: für dich, Richard.«

»Für mich? Seid Ihr sicher, dass er ausdrücklich für mich gedacht war?«

»Warum, glaubst du wohl, existieren so viele Prophezeiungen, in denen von dir die Rede ist, die deiner harren und in denen du als ›der rechtmäßig Geborenes ›(ier Kiesel im Teich‹ oder auch als ›Caharin‹ bezeichnet wirst? Was meinst du, warum diese um deine Person kreisenden Prophezeiungen wohl in Erfüllung gegangen sind? Oder du imstande warst, einige von ihnen zu verstehen, obwohl sie seit mehreren Jahrhunderten, ja Jahrtausenden niemand mehr entschlüsseln konnte? Oder warum du wieder andere erfüllt hast?«

»Aber das bedeutet doch nicht, dass er ausdrücklich für meine Person bestimmt war.«

Mit einer unbestimmten Geste lehnte seine Mutter es ab, seine Behauptung zu bestätigen oder zu widerlegen. »Wer vermag schon zu sagen, was zuerst da war, die subtraktive Seite, die endlich ein Kind fand, in dem sie wiedergeboren wurde, oder der Umstand, dass sie endlich jenes ganz besondere Kind fand, in dem sie wiedergeboren werden sollte? Prophezeiungen bedürfen eines Saatkorns, das ihre Entfaltung in Gang setzt; es muss bereits irgendetwas vorhanden sein, aus dem das, was einst sein wird, hervorgehen kann, selbst wenn es nur um die Weitervererbung deiner Augenfarbe ginge. Irgendetwas muss bewirken, dass sie in Erfüllung gehen. Die Frage ist, ob es in diesem Fall Zufall oder Absicht war.«

»Ich würde sagen, eine zufällige Abfolge von Ereignissen.«

»Ganz wie du willst. Aber spielt es in diesem Stadium wirklich eine Rolle? Du bist derjenige, der mit dem Talent geboren wurde, das Baraccus aus seinem Gefängnis in einer anderen Welt befreit hat. Du bist derjenige, dessen Geburt er im Sinn hatte, ob nun zufällig oder aufgrund eines speziellen Plans. Am Ende aber zählt nur, was ist: Du bist derjenige, der mit diesem Talent geboren wurde.«

Vermutlich hatte sie recht, überlegte Richard; wie es genau zustande gekommen war, änderte nichts daran, was war.

Mit einem Seufzen fuhr seine Mutter mit ihrer Geschichte fort. »Wie auch immer. Erst dann, nachdem er seine Vorbereitungen für ein Ereignis getroffen hatte, dessen Zustandekommen er sichergestellt hatte, verließ Baraccus seine Enklave und stürzte sich in den Tod. Die Leute, die damals die Berichte niederschrieben, wussten nicht, dass er bereits lange genug zurück war, um seine Frau auf eine wichtige geheime Mission zu schicken. Und bei ihrer Rückkehr war er bereits tot.«

Richard drehte sich der Kopf. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Diese ungeahnte Schilderung von Ereignissen aus grauer Vorzeit hatte ihn schwindeln gemacht. Immerhin, von seinem eigenen Besuch im Tempel der vier Winde wusste er, dass dergleichen möglich war. Das dort erlangte Wissen war der Preis dafür gewesen, in die Welt des Lebens zurückkehren zu können, und obwohl ihm dieses Wissen wieder abhanden gekommen war, war ihm eine Ahnung davon geblieben, wie umfassend es gewesen sein musste. Damals war es der Geist Darken Rahls, seines Vaters, gewesen, der diesen Preis - das dort erlangte Wissen im Tausch gegen seine Rückkehr zu Kahlan - von ihm eingefordert hatte.

»In ihrem Kummer meldete sich Magda Searus freiwillig als Versuchsperson für ein gefährliches Experiment, das Merritt ersonnen hatte - aus freien Stücken erbot sie sich, Konfessorin zu werden. Sie war sich darüber im Klaren, dass die Aussicht, die unbekannten Gefahren dieser Zauberei nicht zu überleben, recht groß war, doch angesichts ihres Kummers über den Tod ihres geliebten Gemahls, des Obersten Zauberers, war für sie die bisherige Welt ohnehin zu Ende gegangen. Sie fand, das Einzige, wofür es sich jetzt noch zu leben lohnte, war, den Verantwortlichen zu finden, der die Schuld an den schicksalhaften Ereignissen trug, die letztendlich zum Tod ihres Gemahls geführt hatten, also meldete sie sich freiwillig für ein Experiment, das, wie allgemein erwartet wurde, wahrscheinlich tödlich ausgehen würde.

Doch sie überlebte. Erst viel später verliebte sie sich in Merritt, und dieser in sie. Durch ihn wurde ihre Welt zu neuem Leben erweckt. Die Chroniken aus der damaligen Zeit sind stellenweise vage, Stücke fehlen oder fügen sich nicht recht in die Chronologie der Ereignisse, eins aber ist gewiss: Merritt war ihr zweiter Ehemann.«

Richard musste sich auf das Marmorbänkchen setzen. Das alles überstieg beinahe sein Auffassungsvermögen. Die Folgen waren Schwindel erregend. Er hatte Mühe, all diese auffälligen Übereinstimmungen miteinander in Einklang zu bringen: dass er seit Tausenden von Jahren als Erster wieder mit subtraktiver Magie geboren worden war, Baraccus als Letzter vor ihm den Tempel der Winde aufgesucht hatte und besagter Baraccus mit einer Frau verheiratet gewesen war, die später die erste Konfessorin werden sollte, während er selbst sich in eine Konfessorin verliebt und diese später geheiratet hatte - noch dazu die Mutter Konfessor höchstselbst, nämlich Kahlan.

»Als Magda Searus ihre frisch erlangte Konfessorinnenkraft bei Lothain benutzte, kam man dahinter, was er im Tempel der Winde angerichtet hatte und von dem bislang nur Baraccus Kenntnis hatte.«

Richard sah auf. »Und, was hatte er getan?«

Seine Mutter sah ihm in die Augen, als blickte sie bis auf den Grund seiner Seele. »Lothain hatte sie bei seinem Aufenthalt im Tempel verraten, und zwar indem er dafür sorgte, dass eine ganz spezielle Magie, die dort weggeschlossen gewesen war, zu einem späteren Zeitpunkt in die Welt des Lebens gelangen würde. Durch niemand anderen als durch die Person Kaiser Jagangs, der mit ebenjener magischen Kraft zur Welt kommen würde, die Lothain in einer anderen Welt ganz langsam hatte aus ihrem sicheren Gewahrsam austreten lassen. Bei dieser Magie handelte es sich um die Macht eines Traumwandlers.«

»Aber warum hätte Lothain, der Oberste Ankläger, so etwas tun sollen? Schließlich hatte er alles darangesetzt, dass die Teilnehmer der Tempelmission für den von ihnen angerichteten Schaden hingerichtet wurden.«

»Wahrscheinlich war Lothain, wie die Feinde in der Alten Welt auch, zu der Überzeugung gelangt, dass es möglich sei, die Magie aus dem Menschengeschlecht zu eliminieren. Ich vermute, dass sein religiöser Eifer darin eine neue Bestimmung fand: Er betrachtete sich als Erlöser der Menschheit. Zu diesem Zweck sorgte er für die Rückkehr des Traumwandlers in die Welt des Lebens, um auf diese Weise die Welt von aller Magie zu läutern.

Aus irgendeinem Grund war Baraccus außerstande, die von Lothain erzeugte undichte Stelle wieder zu verschließen und den Verrat rückgängig zu machen. Also entschied er sich für die zweitbeste Lösung. Er sorgte dafür, dass es einen Ausgleich, ein Gegengewicht zu dem verursachten Schaden geben würde, jemanden, der diesen zur Vernichtung der mit der Gabe Gesegneten entschlossenen Kräften entgegenwirken würde, jemand, der über die erforderlichen Fähigkeiten verfügte.

Und das bist du, Richard. Baraccus sorgte dafür, dass du, als Gegengewicht zu dem von Lothain angerichteten Unheil, in diese Welt hineingeboren werden würdest. Aus diesem Grund bist du, Richard Rahl, der Einzige, der imstande ist, der Imperialen Ordnung Einhalt zu gebieten.«

Richard glaubte sich übergeben zu müssen. Das alles gab ihm das Gefühl, nichts weiter zu sein als eine weltumfassende, für irgendwelche verborgenen Zwecke missbrauchte Marionette, ein willenloser Gimpel, dessen Wirken sich darauf beschränkte, den von anderen für sein Leben ersonnenen Plan in die Tat umzusetzen und seine vorherbestimmte Rolle in einer sich über die Jahrtausende hinziehenden Auseinandersetzung zu übernehmen.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, legte ihm Shota, die für alle Welt immer noch aussah und sich anhörte wie seine Mutter, mitfühlend eine Hand auf die Schulter. »Baraccus sorgte dafür, dass es einen Ausgleich für den angerichteten Schaden geben würde, ohne jedoch im Vorhinein festzulegen, wie dieser Ausgleich funktionieren oder wie die betreffende Person handeln würde. Er hat deine freie Willensentscheidung nicht aus der Gleichung entfernt, Richard.«

»Findet Ihr? Mir scheint, ich bin nur der letzte Stein in seinem üblen Spiel, der endlich zum Einsatz kommt. Meinen freien Willen, mein Leben oder meine Entscheidungsfreiheit kann ich in dem Ganzen nirgendwo erkennen. Allem Anschein nach haben andere meinen Weg für mich bereits vorherbestimmt.«

»Ich denke, das trifft nicht zu, Richard. Eher könnte man vielleicht sagen, was sie getan haben, ist vergleichbar mit der Kampfausbildung eines Soldaten. Mit der Ausbildung schafft man sich die Möglichkeit, das Ziel, also den Sieg in der Schlacht, zu erreichen, sofern es überhaupt zu einer Schlacht kommt. Aber es bedeutet nicht, dass der Soldat, so es denn zur Schlacht kommt, nicht die Flucht ergreifen, er stattdessen standhaft sein und kämpfen oder gar gewinnen wird, sofern er nach besten Kräften und so gut seine Ausbildung es ihm ermöglicht kämpft. Baraccus hat dafür gesorgt, dass du das Potenzial besitzt, Richard, die Rüstung, die Waffen und die Fähigkeit, für den Erhalt deines Lebens und deiner Welt zu kämpfen, sofern sich die Notwendigkeit ergeben sollte, mehr nicht. Er hat dir nur eine hilfreiche Hand gereicht.«

Eine hilfreiche Hand, gereicht über den Abgrund der Jahrtausende hinweg. Er fühlte sich verwirrt und leer. Fast schien es, als kenne er sich selbst nicht mehr, als wisse er nicht, wer er eigentlich war oder ob sein eigenes Leben noch sein Tun war.

Er hatte das Gefühl, als wäre Baraccus plötzlich aus dem Staub uralter Gebeine wiederauferstanden, ein Phantom, gekommen, um ihn sein Leben lang heimzusuchen.

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