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Nicci zog den Umhang fester um sich und lehnte sich mit der Schulter an die große Steinzinne. Sie spähte zur Straße tief unter ihr und beobachtete die vier Reiter, die den Berg herauf zur Burg kamen. Noch hatten sie ein Stück vor sich, doch konnte sich Nicci recht gut vorstellen, um wen es sich handelte.

Sie gähnte und schaute hinüber zur Stadt Aydindril und den ausgedehnten Wäldern. Die leuchtenden Farben des Herbstes verblassten langsam. Beim Anblick der Bäume, die die Berghänge der Umgebung bedeckten und den Wechsel der Jahreszeiten so kühn ankündigten, musste sie an Richard denken. Er liebte Bäume. Nicci mochte sie inzwischen ebenfalls, eben weil sie der Wald an Richard erinnerte.

Auch aus einem weiteren Grund sah sie Bäume mittlerweile in einem anderen Licht. Sie markierten den Lauf der Zeit, das Verstreichen der Jahreszeiten, den Wechsel der Muster, die nun Teil ihrer Welt geworden waren, weil sie eben mit all dem verbunden waren, das sie im Buch des Lebens gelesen hatte. Alles war auf komplizierte Weise miteinander verwoben - wie die Macht der Ordnung funktionierte und wie diese Macht durch die Verbindung zur Welt des Lebens funktionierte. Die Welt, die Jahreszeiten, die Sterne, die Stellung des Mondes waren Teil dieser Gleichung, Teil dessen, was die Macht der Ordnung ausmachte und lenkte. Je mehr sie gelesen und gelernt hatte, desto intensiver spürte sie diesen Puls der Zeit und des Lebens um sich herum.

Außerdem war sie eindeutig zu dem Schluss gekommen, dass Richard den falschen Schlüssel auswendig gelernt hatte. Das erzählte sie Zedd allerdings nicht. Im Augenblick erschien es ihr nicht wichtig. Zudem war es nicht leicht zu erklären. Denn ihre Klarheit rührte nicht aus dem, was Das Buch des Lebens sagte, sondern aus der Weise, wie es gesagt wurde. Das Buch war in einer anderen Sprache verfasst, und das bezog sich nicht nur auf das Hoch-D’Haran. Natürlich war es Hoch-D’Haran, aber die wahre Sprache des Buches war das Zusammenwirken zu der Kraft, die daraus beschworen wurde. Die Formeln, Banne und Verfahren waren nur ein Aspekt.

In vielerlei Hinsicht erinnerte es sie daran, wie Richard so überzeugend über die Sprache von Symbolen und Emblemen geredet hatte. Inzwischen verstand sie langsam, was er meinte, indem sie es selbst im Buch des Lebens wieder fand. Sie sah die Linien und Winkel in bestimmten Formeln als eigene Sprache. Sie begann zu begreifen, worum es Richard eigentlich gegangen war.

Das Buch des Lebens hatte Nicci dazu gezwungen, die Welt des Lebens mit neuen Augen zu betrachten - und das erinnerte sie daran, wie Richard die Welt stets gesehen hatte, durch ein Prisma aus Wundern, Begeisterung und Liebe zum Leben. In gewisser Weise ging es um die gründliche Erkenntnis der genauen Natur der Dinge, der Wertschätzung der Dinge als das, was sie waren, und nicht als das, was sich die Menschen darunter vorstellten.

Teilweise lag dies daran, weil Das Buch des Lebens nicht nur additive, sondern auch subtraktive Magie beinhaltete, so wie der Tod zum Leben gehörte. Es handelte vom Ganzen. Aus diesem Grund konnte Nicci es Zedd nicht erklären; er besaß die Gabe der subtraktiven Magie nicht. Ohne diese Gabe fehlte etwas Wesentliches, um Das Buch des Lebens zu verstehen. Sie konnte die Formeln erläutern, die Verfahren darlegen, ihm die Banne zeigen, aber vieles würde er nur durch die Filter seiner begrenzten Fähigkeiten sehen. Obwohl er manches davon mit dem Kopf verstehen würde, konnte er nicht umsetzen, was damit verbunden war.

Es war so, als würde man über Liebe hören, die Tiefe des Gefühls verstehen und auch begreifen, "wie es Menschen erfüllte, ohne es jedoch je selbst erfahren zu haben. Ohne diese Erfahrung blieb es rein theoretisch und fruchtlos.

Solange man Magie nicht fühlte, kannte man sie nicht. Richard hatte den falschen Schlüssel auswendig gelernt, das war die ganze Wahrheit.

»Was gibt es?«, fragte Zedd hinter ihr.

Nicci blickte über die Schulter, sah den alten Zauberer über den riesigen Wehrgang näher kommen und wusste, nun musste sie diese Überlegungen zunächst beiseite schieben. Wenn sie Zedd von dem falschen Schlüssel erzählte, würde er darüber diskutieren wollen. Das hatte jedoch keinen Sinn.

Denn vor allem musste Richard wissen, dass er im Besitz des falschen Schlüssels war.

»Vier Reiter«, sagte Nicci.

Zedd blieb an der Mauer stehen. Er schaute zur Straße hinunter und grunzte, um kundzutun, dass er sie gesehen hatte.

»Sieht mir nach Tom und Friedrich aus«, sagte Cara. »Anscheinend haben sie jemanden aufgestöbert, der hier herumgeschlichen ist.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Nicci. »Die sehen mir gar nicht nach Gefangenen aus. Da glitzert Stahl. Einer trägt Waffen. Tom hätte sie ihm abgenommen, wenn er ihn für eine Bedrohung gehalten hätte. Außerdem sieht mir der andere Reiter wie ein kleines Mädchen aus.«

»Rachel?«, fragte Zedd, runzelte die Stirn und beugte sich weiter vor, um besser zwischen die Bäume weit unten an der Straße blicken zu können. Es würden nicht mehr viele Tage vergehen, bis das goldbraune Laub verschwunden wäre. »Meint Ihr wirklich, das ist sie?«

»Jedenfalls vermute ich es«, sagte Nicci.

Er wandte sich um und betrachtete sie. »Ihr seht fürchterlich aus.«

»Danke«, antwortete sie. »Das hört eine Frau doch immer gern von einem Herrn.«

Er tat seine ungehobelten Manieren mit einem Schnauben ab. »Wann habt Ihr das letzte Mal geschlafen?«

Nicci gähnte erneut. »Weiß nicht. Letzten Sommer, als ich mit dem Buch aus dem Palast des Volkes zurückgekehrt bin?«

Er schnitt eine Grimasse über den lahmen Scherz. Sie hatte keine Ahnung, warum sie mit ihm scherzen wollte. Zedd konnte jemanden einfach durch ein Grunzen zum Lachen bringen. Wann immer sie etwas sagte, das ihr komisch erschien, starrte man sie bloß an, so wie Cara jetzt.

»Wie geht es voran?«, fragte er.

Nicci wusste, was er meinte. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und hielt es wegen des Windes fest. »Ich könnte Eure Hilfe bei einigen Sternkarten und Winkelberechnungen gebrauchen. Wenn ich es nicht selbst machen muss, geht es schneller, und ich könnte mich um andere Übersetzungen und Probleme kümmern.«

Zedd legte ihr sanft die Hand auf den Rücken, streichelte sie und übermittelte ihr so persönliche, tröstende Wärme. »Unter einer Bedingung.«

»Und zwar?«, fragte sie und gähnte.

»Ihr schlaft ein bisschen.«

Nicci lächelte und nickte. »Gut, Zedd.« Sie deutete mit dem Kinn nach unten. »Zunächst sollten wir uns jedoch anschauen, wer uns da besuchen kommt.«

Sie gingen gerade durch die große Tür der Burg am Seiteneingang bei der Koppel, als die Reiter in dem Gewölbe unter der Mauer eintrafen.

Tom und Friedrich begleiteten Chase und Rachel. Rachels Haar war kurz geschoren und nicht mehr lang wie früher, und Chase wirkte erstaunlich gesund für einen Mann, der mit dem Schwert der Wahrheit durchbohrt worden war.

»Chase!«, rief Zedd. »Du lebst!«

»Na ja, ist schwierig, ein Pferd zu reiten, wenn man tot ist.«

Cara kicherte. Nicci sah sie an und fragte sich, woher diese plötzliche Vorliebe für Humor rührte.

»Habe sie bei der Heimkehr entdeckt«, berichtete Tom. »Die ersten Menschen, die wir seit Monaten da draußen zu Gesicht bekommen haben.«

»Es war richtig schön, Rachel wieder zu sehen«, meinte Friedrich. Der ältere Mann schenkte dem Mädchen ein Grinsen und zeigte so, wie viel es ihm tatsächlich bedeutete.

Zedd fing Rachel auf, als sie aus dem Sattel rutschte, während Cara die Zügel nahm.

»Meine Güte, du bist aber schwer geworden«, sagte Zedd.

»Chase hat mich gerettet«, erzählte Rachel. »Er war ein Held. Du hättest ihn sehen sollen. Er hat ganz allein hundert Mann getötet.«

»Hundert! Nein, was für eine Leistung.«

»Einem hast du für mich ins Bein gestochen«, sagte Chase und schwang sich aus dem Sattel. »Sonst hätte ich nur neunundneunzig erwischt.«

Rachel strampelte mit den Beinen und wollte abgesetzt werden.

»Zedd, ich habe dir etwas Wichtiges mitgebracht.«

Als sie stand, schnürte sie einen Lederbeutel los, der hinten an ihrem Sattel hing. Sie ging damit zur Granittreppe, stellte ihn ab und zog die Kordel auf.

Nachdem sie das Leder zurückgestreift hatte, strahlte Finsternis in den frischen Herbsttag. Für Nicci war es, als würde sie Jagang in die trüben schwarzen Augen sehen.

»Rachel«, stieß Zedd erstaunt hervor, »woher hast du das?«

»Von einem Mann, der Richards Schwert hat, Samuel hieß er. Er hat Chase verwundet und mich mitgenommen. Dann übergab er mich einer Hexe namens Sechs und an Violet, die Königin von Tamarang. Allerdings glaube ich, sie ist jetzt gar nicht mehr Königin. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie böse Sechs ist.«

»Ich denke doch«, erwiderte Zedd.

Da er ein wenig Schwierigkeiten hatte, ihrer Geschichte zu folgen, hob er den Lederbeutel auf, um sich den Inhalt genauer anzusehen. Beim Anblick eines der Kästchen der Ordnung schlug Nicci das Herz bis zum Hals. Nachdem sie wochenlang das Buch über die Kästchen studiert hatte, war es bestürzend, nun eines vor sich zu sehen. Theorie war eine Sache, die Realität dessen, was dieser Gegenstand repräsentierte, etwas ganz anderes.

»Ich konnte es doch nicht dalassen«, meinte Rachel zu Zedd. »Als ich dann die Chance zur Flucht hatte, habe ich es gestohlen und mitgenommen.«

Zedd zauste ihr das kurze Haar. »Gut gemacht, Kleines. Ich wusste doch immer, dass du etwas Besonderes bist.«

Rachel warf dem Zauberer die Arme um den Hals. »Sechs hat Violet Bilder von Richard malen lassen. Das hat mir fürchterliche Angst gemacht.«

»In einer Höhle?«, fragte Zedd. Auf Rachels Nicken hin blickte er Nicci an. »Das erklärt einiges.«

Nicci trat einen Schritt näher. »War Richard dort? Hast du ihn gesehen?«

Rachel schüttelte den Kopf. »Nein. Sechs ist eines Tages weggegangen. Als sie zurückkehrte, sagte sie zu Violet, sie habe ihn mitgebracht, doch die Imperiale Ordnung hat ihn gefangen genommen.«

»Die Imperiale Ordnung ...«, flüsterte Zedd.

Nicci überlegte, was schlimmer war: Richard in den Händen der Hexe oder in den Fängen der Imperialen Ordnung.

Richard verfügte nicht mehr über seine Gabe und sein Schwert, und er befand sich in Gefangenschaft der Imperialen Ordnung. Schlimmer konnte es kaum kommen, dachte sie bei sich.

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