48

Richard stolperte wie benommen vorwärts und betrachtete den Boden vor seinen Füßen, den der Mond erhellte. Durch diesen Dämmer konnte nur ein einziger Funken zu ihm vordringen. Kahlan.

Er vermisste sie so sehr. Diesen ganzen Kampf hatte er satt. Er hatte es satt, zu streben und zu scheitern.

Sie wollte er zurückhaben. Sein Leben mit ihr. Er wollte sie in den Armen halten ... einfach nur in den Armen halten.

Er dachte an die Zeit vor Jahren im Haus der Seelen, als er noch nicht gewusst hatte, dass sie die Mutter Konfessor war und sie sich wegen der bedrückenden Geheimnisse, die sie wahren musste, einsam und verlassen gefühlt hatte. Sie hatte ihn gebeten, sie einfach nur im Arm zu halten. Er erinnerte sich an den Schmerz, der in ihrer Stimme mitschwang, an den Schmerz, der nach Trost verlangte. Jetzt würde er alles geben, wenn er sie trösten könnte.

»Halt«, zischte ihn jemand an. »Warte.«

Richard blieb stehen. Es fiel ihm schwer, Interesse dafür aufzubringen, was um ihn herum geschah, obwohl er wusste, dass er den Ereignissen seine Aufmerksamkeit zuwenden musste. An der Haltung der Frau konnte er ihre Anspannung ablesen; sie wirkte wie ein Raubvogel, der den Kopf schief legt und die Flügel leicht hebt. Es gelang ihm nicht, die Lethargie abzuschütteln, die ihn niederdrückte, damit er wieder klar denken konnte. Die Gebärde schien vor allem Aggressivität auszustrahlen, doch darunter spürte er einen Hauch Angst.

Schließlich brachte er zumindest so viel Konzentration auf, um sich einen Überblick zu verschaffen. Dann sah er im Mondlicht, was Sechs betrachtete: ein riesiges Lager, das sich über das ganze Tal ausbreitete. Jetzt, mitten in der Nacht, herrschte dort unten Ruhe. Und nun nahm, trotz der betäubend wirkenden Anwesenheit dieser Frau, seine Aufmerksamkeit zu.

Er hatte noch etwas bemerkt. Hinter dem Lager auf den Anhöhen dahinter sah er ein Schloss, das er zu erkennen glaubte.

»Komm weiter«, zischte Sechs ihm zu, während sie an ihm vorbeiglitt.

Richard trottete hinter ihr her und versank wieder in dem Dunst der Gleichgültigkeit, in dem er an nichts anderes denken konnte als an Kahlan.

Stundenlang zogen sie durch die nächtliche Landschaft. Sechs war so still wie eine Schlange, bewegte sich, hielt an, bewegte sich weiter, immer auf der Suche nach unscheinbaren Wegen durch den dichten Wald. Richard tröstete der Geruch von Springkraut und Tannen. Moos und Farne hellten seine Laune mit Kindheitserinnerungen auf. Die Freude währte nicht lange. Bald gingen sie über gepflasterte Straßen an geschlossenen Läden und dunklen Häusern vorbei. Im Schatten standen Männer, jeweils paarweise und mit Piken bewaffnet. Richard fühlte sich, als würde das alles nur im Traum vor seinem inneren Auge vorbeiziehen. Halb glaubte er, sich den Wald bloß fest vorstellen zu müssen, damit dieser wiedererscheinen würde. Er stellte sich Kahlan vor. Sie erschien nicht wieder. Zwei Männer in blitzender Metallrüstung liefen aus einer Seitenstraße. Sie fielen vor Sechs auf die Knie und küssten den Saum ihres schwarzen Kleides. Sie verlangsamte kaum den Schritt für ihr kriecherisches Flehen. Die beiden folgten ihnen durch die Straßen und wurden ihre Eskorte in der Dunkelheit der Nacht. Er fühlte sich wie in einem Traum gefangen. Richard wusste, er sollte dagegen ankämpfen, aber er konnte sich nicht überwinden. Er achtete nur auf das, was Sechs ihm sagte. Von sich aus brachte er für nichts Interesse auf. Ihre dahinschwebende Gestalt verzauberte ihn, ihr Blick schlug ihn in Bann, ihre Stimme verhexte ihn. Da er seine Gabe nicht mehr hatte, füllte sie die Leere in seiner Seele. Ihre Gegenwart ergänzte ihn irgendwie und gab ihm ein Ziel. Die beiden Wachen klopften leise an ein Eisentor in einer großen Steinmauer. Eine kleinere Klappe über kleinen Schlitzen wurde geöffnet. Augen spähten heraus. Sie wurden größer, als sie den bleichen Schatten vor sich sahen. Richard hörte Männer auf der anderen Seite, die sich beeilten, den schweren Riegel aus der Halterung zu wuchten.

Das Tor ging auf, und Sechs schlüpfte mit Richard hindurch. Im Mondlicht sah er hohe Mauern, doch zollte er ihnen wenig Beachtung. Mehr faszinierte ihn die schlangengleiche Gestalt, die ihn durch die samtweiche Nacht führte.

Hinter dem großen Tor liefen Männer herum, öffneten weitere Türen, riefen Befehle und brachten Fackeln.

»Hier entlang«, sagte ein Mann und geleitete sie in ein Treppenhaus. Sie stiegen in Wendeln hinab, immer tiefer. Richard fühlte sich, als würde er vom Schlund einer großen Steinbestie verschlungen. Solange Sechs ihn bei sich behielt, störte ihn das jedoch wenig. In einem der untersten Stockwerke führten die Männer sie durch einen feuchten Gang zu einem düsteren Ort. Heu lag auf dem schmutzigen Boden. Von irgendwo aus der Ferne hallte das Echo von Wassertropfen heran.

»So, wie Ihr es verlangt habt«, sagte eine der Wachen. Die schwere Tür quietschte vor lauter Rost, als der Mann sie aufzog. Im Inneren zündete er mit der Fackel eine Kerze auf einem Tisch an.

»Dein Zimmer für die Nacht«, erklärte Sechs Richard. »Bald wird es hell. Dann komme ich zurück.«

»Ja, Herrin.«

Sie beugte sich leicht zu ihm vor, und ein dünnes Lächeln spielte über ihr blutleeres Gesicht. »Wie ich die Königin kenne, wird sie sofort anfangen wollen. Sie ist ein wenig ungeduldig, um nicht zu sagen impulsiv. Ohne Zweifel wird sie die großen Männer mit den Peitschen mitbringen. Nun, vermutlich wird der Morgen kaum vorüber sein, bis dir das Fleisch in Streifen vom Rücken hängt.«

Richard starrte sie an. Er konnte das nicht begreifen. »Herrin?«

»Die Königin ist nicht nur boshaft, sondern auch noch rachsüchtig. Und du wirst das Ziel ihrer Gehässigkeit sein. Doch sorge dich nicht; ich brauche dich lebendig. Du wirst zwar unerträgliche Schmerzen leiden, aber nicht sterben.«

Sie drehte sich mit Schwung um und rauschte zur Tür hinaus wie ein Schatten, der von der Dunkelheit verschluckt wird. Männer traten nach ihr hinaus. Die Tür schlug mit einem Knall zu. Richard hörte das Klicken eines Schlosses. Ehe er es sich versah, stand er plötzlich allein in der steinernen Zelle, verlassen, verloren, vergessen. In der Stille schlich sich der Schrecken heran. Warum wollte ihm eine Königin Schmerzen bereiten? Warum brauchte Sechs ihn lebend?

Richard blinzelte. Während die Zeit verstrich, merkte er, dass sein Verstand wieder zu arbeiten begann. Anscheinend konnte er besser nachdenken, je weiter sich Sechs entfernte.

Nachdem die Männer mit den Fackeln hinausgegangen waren, brauchte er eine Weile, bis sich seine Augen an den Dämmerschein einer einzigen Kerze gewöhnt hatten. Er blickte sich in der steinernen Zelle um. Es gab nur einen Stuhl und einen Tisch. Der Boden bestand aus Stein. Die Wände bestanden aus Stein. Die Decke hatte dicke Balken.

Dann traf es ihn wie der Blitz.

Denna.

In diesen Raum hatte Denna ihn gebracht, als sie ihn gefangen genommen hatte. Er erkannte den Tisch. Denna hatte immer auf dem Stuhl gesessen. Er blickte auf, und dort sah er den großen Eisennagel, ganz so, wie er sich erinnerte.

Damals hatte man ihn mit eisernen Handschellen gefesselt. Denna hatte die Kette dazwischen über den Eisennagel gehängt. So hatte er dort gehangen, während Denna ihn mit ihrem Strafer folterte. Schreckliche Bilder der Nacht, in der Denna ihn gebrochen hatte, zogen vor seinem inneren Auge dahin. Der Nacht, von der sie glaubte, ihn gebrochen zu haben. Er hatte seinen Verstand geteilt. Dennoch entsann er sich der Dinge, die sie ihm in jener Nacht angetan hatte.

Und er erinnerte sich, was sie zu solcher Brutalität veranlasst hatte. Dort hatte er gehangen, als Prinzessin Violet zum Zuschauen kam. Die Prinzessin hatte entschieden, bei der Folterung mitzumachen. Denna gab dem kleinen Ungeheuer ihren Strafer und zeigte Violet, wie man ihn bei Richard benutzen musste.

Er erinnerte sich, wie Violet damit geprahlt hatte, sie würde Kahlan vergewaltigen, foltern und schließlich töten lassen. Richard hatte so heftig nach Violet getreten, dass er ihr den Kiefer zerschmetterte, wobei auch ihre Zunge abgetrennt worden war. Genau in diesem Raum war das geschehen.

Richard lehnte sich an die Steinwand, glitt nach unten und setzte sich. Er musste nachdenken und verstehen, was hier eigentlich vor sich ging.

Sein Bündel drückte im Rücken, also nahm er es ab und legte es sich auf den Schoß. Plötzlich fiel ihm etwas ein, und er durchsuchte das Bündel, schob seine Kriegszaubererkleidung und den Goldumhang beiseite, bis er das Buch von Baraccus fand. Das blätterte er durch. Die Seiten waren immer noch leer. Wenn er nur seine Gabe nicht verloren hätte, könnte er das Buch lesen! Wenn er nur wüsste, wie er seine Fähigkeiten einzusetzen hätte, wäre er in der Lage gewesen, sich aus eigener Kraft zu retten. Wenn.

Dann hatte er eine Idee. Er durfte nicht zulassen, dass sie das Buch fanden. Sechs verfügte über die Gabe, in einer bestimmten Form jedenfalls. Daher durfte sie es nicht zu Gesicht bekommen. Baraccus hatte es dreitausend Jahre lang versteckt. Es war nur für Richards Augen bestimmt. Solches Vertrauen durfte er nicht enttäuschen. Niemand sollte etwas von dem Buch erfahren.

Also stand er auf und durchsuchte den Raum nach einem geeigneten Versteck. Es gab keins. Der Raum war eine einfache Zelle aus Stein, ohne Nebenraum, ohne Nischen, ohne lockere Steine. Hier konnte man nichts verstecken.

Während Richard in der Mitte stand und nachdachte, schaute er hoch und sah den Eisennagel. Er ging einige Schritte und betrachtete die Balken. Einer der Balken verlief in verhältnismäßig kleinem Abstand parallel zur Wand. Wie bei den meisten anderen hatte das frisch geschlagene Holz Spalten bekommen, als es getrocknet war. Richard hatte einen Einfall.

Sofort zog er den Stuhl heran und stieg darauf, doch er war nicht hoch genug. Nun schob er den Stuhl zur Seite und zog den Tisch heran. Über den Stuhl stieg er auf den Tisch und erreichte den Eisennagel. Er zerrte daran, doch der Nagel saß fest. Aber er brauchte ihn, wenn er das Buch verstecken wollte.

Er schloss die Hände um den Nagel und sprang mit ganzer Kraft auf und ab. Endlich lockerte sich der Nagel. Schließlich gelang es Richard, ihn herauszuziehen.

Nun rückte Richard den Tisch in die dunkle Ecke und stieg hinauf. Er untersuchte den Balken und fand eine Stelle, wo der Spalt sich in Richtung Decke bis zu den Querbohlen zog. Dort rammte er den Nagel hinein und drückte, bis er gut hielt.

Nun holte er sein Bündel, das er in die enge Lücke zwischen Balken und Wand stopfte. Er presste es so flach er konnte und schob es am Balken entlang, bis er über dem Nagel eingeklemmt war. Daraufhin überprüfte er, ob es fest saß. Das Bündel bewegte sich nicht. Zufrieden, dass er alles ihm Mögliche getan hatte, um das Buch und seine Kriegszaubererausrüstung zu verstecken, damit beides nicht in die falschen Hände geriete, legte er sich auf den kalten Steinboden an der gegenüberliegenden Wand und versuchte zu schlafen. Angesichts dessen, was Sechs ihm für den nächsten Tag versprochen hatte, war das kein leichtes Unterfangen. Die Angst setzte ihm zu und ließ seine Gedanken rasen. Er brauchte Ruhe, das wusste er, dennoch fand er keine.

Immerhin war er erleichtert, dass Sechs nicht mehr in unmittelbarer Nähe war. Er hatte sein Zeitgefühl verloren, seit er bei den Irrlichtern gewesen war und Sechs ihm hinter den alten Bäumen aufgelauert hatte. Wenn sie bei ihm war, vermochte er weder eigenständig zu denken noch zu handeln. Sie saugte seinen gesamten Verstand auf. Seinen gesamten Verstand.

Er erinnerte sich daran, wie er mit Denna in diesem Raum gewesen war. Sie hatte ihm gesagt, er würde ihr Schoßhündchen sein und sie würde seinen Willen brechen. Er hatte sich gesagt, er würde sie tun lassen, was sie wollte, doch ein Stück von seinem Ich retten, verstecken und niemandem erlauben, dort einzudringen, nicht einmal sich selbst, bis er diesen sicheren Hort brauchte, um wieder er selbst zu werden.

So musste er nun abermals vorgehen. Er würde Sechs nicht sein ganzen Denken überlassen, wie es nach seiner Gefangennahme geschehen war. Noch immer spürte er ihren Einfluss, ihren Willen, doch jetzt war sie nicht mehr so gegenwärtig. Im Vergleich zu vorher fühlte er sich frei und konnte denken. Konnte bis zu einem gewissen Grad entscheiden, was er wollte.

Und er wollte sich von dieser Hexe befreien.

Er erschuf einen Ort in seinem Kopf, wie er es vor langer Zeit in genau diesem Raum getan hatte. Dort verschloss er einen Teil seines Ichs, einen Teil seiner Kraft, fast so ähnlich, wie er sein Bündel verstaut hatte.

Da er nun wieder klar denken konnte und zudem einen Plan geschmiedet hatte, verspürte er neue Zuversicht. Selbst wenn er die Zähne der Hexe noch in seinem Fleisch fühlte, hatte sie die vollkommene Kontrolle über ihn verloren. Endlich kam er ein wenig zur Ruhe.

Dann dachte er an Kahlan. Die Erinnerung rief ein trauriges Lächeln hervor. Er bemühte sich, an die glücklichen Zeiten mit ihr zu denken, daran, wie es sich anfühlte, sie im Arm zu halten, mit ihr eine Nacht allein zu verbringen, wenn sie ihm zuhauchte, wie viel er ihr bedeutete.

Mit dem Gedanken an Kahlan dämmerte er langsam in den Schlaf hinüber.

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