Shota schwebte die Stufen hinab und blieb vor dem Brunnen stehen. Der durchsichtige Stoff, der ihre stattliche Figur bedeckte, bewegte sich ganz sacht, wie in einer sanften Brise. Schäumend stürzten die hervorsprudelnden Fluten in die Tiefe, tanzten und glitzerten im Licht, das durch die Oberlichter hoch über ihren Köpfen fiel, und boten dem versammelten Publikum ein prächtiges Schauspiel. Abwesend, als hinge sie ihren eigenen ganz persönlichen Gedanken nach, schaute Shota einen Moment lang zu, dann wandte sie sich zu der kleinen Gruppe um, die unmittelbar jenseits der riesigen Flügeltür wartete. Alle standen schweigend da und musterten sie, wie in Erwartung der öffentlichen Verkündigung einer Königin. Das Wasser des Brunnens schoss hinter Shotas Rücken hoch in die Luft. Dann, ganz unvermittelt, brach der üppige Wasserstrahl ab. Der letzte Wasserrest, der noch im Aufsteigen begriffen war, ehe der Zufluss unterbrochen wurde, erreichte als sterbender, fließender Bogen seinen Scheitelpunkt und fiel zurück wie abgeschnitten. Dutzende gleichförmiger Katarakte, die aus den nach unten gebogenen Mündungen in die übereinander angeordneten Schalenreihen hinabstürzten, kamen langsam zum Erliegen, als wäre ihnen ihr heiter schäumendes Spiel auf einmal unangenehm, und versiegten schließlich ganz.
Zedd trat vor bis an den Rand der Treppe, wobei sich ein bedrohlicher Ausdruck in die Züge seines Gesichtes grub. Als er stehen blieb, sammelte sich der wirbelnde Stoff seines schlichten Gewandes um seine Beine. In diesem Moment fiel Richard auf, dass sein Großvater seinem Amt als Oberster Zauberer mit seinem Auftreten alle Ehre machte. Hatte er bislang gedacht, Nicci und Shota wirkten gefährlich, so wurde ihm schlagartig klar, dass dies auf Zedd nicht minder zutraf. In diesem Moment war er eine Gewitterwolke, die bislang noch verborgene Blitze in sich barg.
»Ich werde nicht zulassen, dass Ihr Euch an irgendetwas an diesem Ort zu schaffen macht. Bislang habe ich Euch gegenüber Nachsicht walten lassen, denn Ihr seid aus Gründen hierher gekommen, die möglicherweise für uns alle von Bedeutung sind, doch meine Langmut reicht nicht so weit, dass ich irgendwelche Einmischungen Eurerseits hier dulden werde.«
Shota wies seine Drohung mit einer Handbewegung von sich. »Ich war ohnehin davon ausgegangen, dass Ihr es nicht hinnehmen würdet, mich weiter als bis in diesen Vorraum vordringen zu lassen. Der Brunnen ist recht laut. Ich wollte vermeiden, dass Richard irgendetwas nicht mitbekommt, was Jebra oder ich zu sagen haben.«
Mit gestrecktem Arm wies sie auf Ann, die fast unsichtbar in den tiefen Schatten der Galerie und den hoch aufragenden roten Pfeilern neben Nathan stand und das Geschehen verfolgte. »Es geht um eine Angelegenheit, die Euch die Hälfte Eures Lebens sehr am Herzen gelegen hat, Prälatin.«
»Ich bin nicht mehr Prälatin«, gab Ann mit der ruhigen, Achtung gebietenden Stimme zurück, die ganz so klang, als wäre sie es noch.
»Warum wart Ihr eigentlich hinter Samuel her?«, fragte Cara und lenkte damit die Aufmerksamkeit der Hexe auf sich.
»Weil er mein Tal in Agaden nicht hätte verlassen dürfen. Zumal er dazu ohne meine ausdrückliche Erlaubnis auch gar nicht hätte imstande sein sollen.«
»Und doch hat er es getan«, bemerkte Richard.
Shota nickte. »Also habe ich mich auf die Suche nach ihm gemacht.«
Richard verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. »Und was hat Euch, Shota, daran gehindert zu bemerken, dass Samuel Euch verlassen wollte? Ich meine, angesichts Eurer Macht, Eures umfassenden Wissens und dieser ganzen Geschichte, von der Ihr mir erzählt habt, dass eine Hexe die Dinge im Strom der Zeit vorherzusehen vermag. Wie konnte er es trotz alledem dann ohne Eure Einwilligung tun?«
Shota ließ sich von seiner Frage nicht beirren. »Da gibt es nur eine einzige Möglichkeit.«
Richard verkniff sich die sarkastische Erwiderung, die ihm in den Sinn kam, und fragte stattdessen: »Und die wäre?«
»Samuel wurde verhext.«
Richard war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Verhext. Aber Ihr seid doch die Hexe; Ihr seid die Einzige, die so etwas tut.«
Shota verschränkte die Hände und blickte einen Moment zu Boden, während sie ihre Finger ineinander schlang. »Er wurde von einer anderen verhext.«
Richard kam die fünf Stufen hinab. »Einer anderen Hexe?«
=»Ja.«=
Richard atmete einmal tief durch, schaute sich um und sah die anderen besorgte Blicke wechseln. Niemand schien sonderliche Lust zu verspüren, die Frage zu stellen, also tat er es. »Wollt Ihr damit andeuten, es gibt noch eine andere Hexe, und die hat Samuel von Euch fortgehext?«
»Ich dachte, ich hätte mich in diesem Punkt klar ausgedrückt.«
»Und ... wo befindet sie sich?«
»Ich habe keine Ahnung. Gewisse Dinge im Strom der Zeit fallen in mein Gebiet - dafür habe ich gesorgt. Dass ich so blind gegen Geschehnisse bin, die in unmittelbarer Nähe meines Wirkungskreises vorüberwirbeln, kann nur bedeuten, dass eine andere Hexe diese Ereignisströme absichtlich vor mir hat verschwinden lassen.«
Richard stopfte seine Hände in die Hosentaschen und versuchte, seine Schlüsse daraus zu ziehen. Nach kurzem Umherwandern wandte er sich wieder zu ihr herum.
»Vielleicht war es ja gar keine Hexe. Vielleicht war es eine Schwester der Finsternis oder jemand Ähnliches. Eine mit der Gabe gesegnete Person, vielleicht sogar ein Zauberer. Auch solche Leute hat Jagang in seinen Reihen.«
»Eine Hexe zu beeinflussen, und sei es nur geringfügig, ist alles andere als ein leichtes Unterfangen.« Sie schickte einen kurzen Blick hinauf zu Zedd. »Frag deinen Großvater.«
»Mit der Gabe gesegnete Personen, selbst solche wie die hier Anwesenden«, Shota deutete auf einige der Personen im Raum, ehe ihr Blick zu Richard zurückkehrte, »wären, ganz gleich, wie fähig sie ansonsten sein mögen, nicht einmal ansatzweise imstande, eine so umfassende Täuschung wie diese zu erzeugen. Nur eine andere Hexe wäre imstande, unbemerkt in meinen Herrschaftsbereich einzudringen, nur eine andere Hexe wäre fähig, meinen Blick zu trüben und Samuel anschließend so zu verhexen, dass er eine solche Tat begeht.«
»Wenn Euer Blick getrübt ist«, warf Cara ein, »wie könnt Ihr dann so sicher sein, dass Samuel verhext wurde? Vielleicht hat er ja aus eigenem Antrieb gehandelt. Nach dem, was ich von ihm mitbekommen habe, hat er keine mysteriöse Hexe nötig, die ihn zu triebhaften, ungestümen Handlungen verleitet. Mir schien er schon von sich aus reichlich hinterhältig.«
Langsam schüttelte Shota den Kopf. »Ihr braucht Euch nur vor Augen zu führen, was Ihr eben zu mir gesagt habt, um zu erkennen, dass dafür nicht bloß primitive Gerissenheit nötig wäre, sondern ein Wissen, das Samuels Fähigkeiten bei weitem übersteigt. Zunächst einmal, woher hätte Samuel wissen sollen, dass diese Frau etwas Wertvolles besitzt? Ich wusste es ja selbst nicht, da dies zu den vor mir verborgenen Dingen gehört. Ich kann es ihm also nicht verraten haben - nicht einmal aus Unbedachtheit oder Leichtsinn, wie Ihr offenbar zu glauben scheint. Von mir kann Samuel es also nicht haben. Aber sollte er zufällig auf eine Art Schatz gestoßen sein, so ist Samuel ohne jeden Zweifel absolut fähig, alles in seiner Macht Stehende zu versuchen, um ihn in seinen Besitz zu bringen, so viel bin ich gerne bereit einzuräumen.«
»Ihr meint, etwa so, wie er das Schwert in seinen Besitz gebracht hat?«, stichelte Zedd.
Shota begegnete kurz seinem Blick, entschied sich dann aber, zum anstehenden Problem zurückzukehren, statt auf die Provokation einzugehen. »Zweitens, woher sollte Samuel wissen, wo er eine Schwester finden konnte, die ein Kästchen der Ordnung bei sich trägt? Ihr wollt doch nicht ernsthaft andeuten, Ihr glaubt, er sei fernab von D’Hara - einfach durch die Gegend gezogen, dabei zufällig auf jene Schwester der Finsternis gestoßen, habe sie niedergestochen und dessen beraubt, was sie bei sich trug, und dann hätte sich diese Beute am Ende als eines der Kästchen der Ordnung entpuppt?«
»Ich muss gestehen«, sagte Richard, »von Zufällen habe ich noch nie viel gehalten. Und in diesem Fall scheint es mir auch nicht gerade einleuchtend.«
»Genau das war auch mein Gedanke«, sagte Shota. »Und dann ist da noch Chase. Viel war aus ihm wegen seines kritischen Zustands nicht herauszubekommen, aber immerhin konnte ich in Erfahrung bringen, dass er in einen Hinterhalt gelockt worden war. Wieder so ein Zufall: Zufällig begegnet Samuel einer Person, die er auf gut Glück überfällt, und wie es der Zufall will, ist es wieder jemand, den Ihr kennt? Das mag ich nicht glauben. Bleibt also die Frage, warum Samuel einem Euch bekannten Mann auflauern sollte. Warum sollte er ihn überfallen? Was besaß Chase Wertvolles?«
Zedd, den Blick in die Ferne gerichtet, rieb sich nachdenklich das Kinn. »Rachel«, sagte er schließlich.
»Aber was sollte er mit einem kleinen Mädchen anfangen wollen?«, fragte Cara. Als einige mit besorgter Miene in ihre Richtung blickten, fügte sie hinzu: »Ich meine, ausgerechnet mit diesem kleinen Mädchen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Shota.
»Kennt Ihr sie?«, fragte Richard. »Wisst Ihr, wer sie ist oder zumindest, wer in Frage käme?«
Shota bedachte ihn mit einem geringschätzigen Blick. »Sie ist mir ein völliges Rätsel.«
»Woher könnte sie gekommen sein? Habt Ihr wenigstens eine Vermutung, was das anbetrifft?«
Shotas finstere Miene verdüsterte sich nur noch mehr. »Oh, ich denke ja. Ich glaube, ursprünglich stammt sie aus der Alten Welt. Nachdem du vor einigen Jahren die Große Barriere eingerissen hattest, erkannte sie zweifellos ihre Chance und drang in mein Territorium ein - ganz ähnlich wie auch die Imperiale Ordnung ihre Chance gekommen sah, in die Neue Welt einzufallen und sie zu erobern. Mit der Verhexung Samuels will sie mir zu verstehen geben, dass sie im Begriff ist, meinen Platz zu übernehmen und das, was mir gehört, für sich selbst zu beanspruchen - mein Territorium eingeschlossen.«
Richard wandte sich herum zu Ann, die etwas abseits auf der Seite der Vestibüls stand. »Wisst Ihr etwas über eine Hexe aus der Alten Welt?«
»Ich habe den Palast der Propheten geleitet, junge Zauberer und einen ganzen Palast voller Schwestern auf den Weg des Lichts gebracht, eine Aufgabe, bei deren Ausübung ich den Prophezeiungen stets größte Beachtung geschenkt habe. Aber von den Prophezeiungen einmal abgesehen, habe ich mich aus den Geschehnissen im Rest der Welt weitgehend herausgehalten. Von Zeit zu Zeit sind mir vage Gerüchte über Hexen zu Ohren gekommen, aber niemals mehr. Wenn es sie tatsächlich gab, hat sie sich nie so auffällig benommen, dass ich von ihr erfahren hätte.«
»Mir war auch nie etwas von einer Hexe bekannt«, setzte Nathan seufzend hinzu. »Ich habe nicht einmal gerüchteweise von einer solchen Frau gehört.«
Shota verschränkte die Arme. »Wir sind hier wohl ein recht verschwiegener Haufen.«
Richard hätte gerne mehr über diese Dinge gewusst - auch wenn sich seine Bekanntschaft mit einer Hexe bei mehr als einer Gelegenheit als reichlich unheilvoll erwiesen hatte. Jetzt sah es ganz so aus, als hätte sich dieses Unheil noch verdoppelt.
»Ihr Name lautet Sechs«, sagte Nicci in die Stille der Eingangshalle hinein.
Shota legte die Stirn in Falten. »Was sagtet Ihr da gerade?«
»Die Hexe aus der Alten Welt. Ihr Name ist Sechs, wie die Zahl.«
Wieder ließ Niccis Miene dieses abweisende Fehlen jeglicher Regung erkennen, waren ihre Züge so vollkommen unbewegt wie ein Waldsee in der Morgendämmerung nach dem ersten schweren Frost des Winters. »Ich bin ihr nie begegnet, aber die Schwestern der Finsternis haben hinter vorgehaltener Hand über sie getuschelt.«
»Wer auch sonst«, brummte Ann.
Shota ließ die Arme sinken und entfernte sich einen Schritt vom Brunnen, hin zu der Stelle, wo Nicci oben an der Treppe auf der weiten Fläche des Marmorbodens stand. »Was wisst Ihr über sie?«
»Nicht viel. Ich hörte nur ihren Namen, Sechs. Er blieb mir nur deshalb im Gedächtnis, weil er so ungewöhnlich war. Einige meiner Ranghöheren - meiner Ranghöheren unter den Schwestern der Finsternis - kannten sie ganz augenscheinlich. Ich hörte sie mehrfach ihren Namen erwähnen.«
Mittlerweile hatte Shotas Miene die düstere Bedrohlichkeit einer Viper mit entblößten Zähnen angenommen. »Was hatten diese Schwestern der Finsternis mit einer Hexe zu schaffen?«
»Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete Nicci. »Möglicherweise haben sie mit ihr verkehrt, aber wenn, dann war mir nichts davon bekannt. Ich war in ihre Machenschaften nicht immer eingeweiht. Durchaus möglich, dass sie sie einfach nur kannten, ohne ihr jemals begegnet zu sein.«
»Es ist aber auch möglich, dass sie sie gut kannten.«
Nicci zuckte die Achseln. »Mag sein. Da müsst Ihr sie schon selber fragen. In diesem Fall würde ich Euch zur Eile raten - eine von ihnen hat Samuel ja bereits umgebracht.«
Shota überging die Stichelei und wandte sich ab, um in das vollkommen stille Wasser des Brunnens zu starren. »Ihr müsst sie doch irgendetwas über sie sprechen gehört haben.«
»Nein, nichts Bestimmtes«, antwortete Nicci.
»Nun«, hakte Shota übertrieben geduldig nach, während sie sich wieder herumdrehte, »was war denn der allgemeine Tenor dessen, was so über sie geredet wurde?«
»Mitbekommen habe ich nur zwei Dinge. Ich hörte, dass diese Hexe mit Namen Sechs angeblich tief unten im Süden lebt. Die Schwestern unterhielten sich darüber, dass sie weit unten in der Alten Welt lebte, in irgendeinem weglosen Wald- und Sumpfgebiet.«
Mit einem beherzten Blick in Shotas Augen fügte sie hinzu: »Und dass sie Angst vor ihr hätten.«
Wieder verschränkte Shota die Arme vor der Brust. »Angst vor ihr«, echote sie mit ausdrucksloser Stimme.
»Fürchterliche Angst.«
Eine Zeit lang taxierte Shota Niccis Augen, ehe sie sich schließlich abermals herumwandte, um in den Brunnen zu starren, so als hoffte sie, die stillen Wasser würden ihr ein Geheimnis offenbaren.
»Nichts deutet darauf hin, dass es sich um dieselbe Frau handelt«, gab Richard zu bedenken. »Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es diese Sechs ist, die Hexe aus der Alten Welt.«
Shota sah kurz über ihre Schulter. »Ausgerechnet du erlaubst dir, darauf hinzuweisen, es könnte sich um bloßen Zufall handeln?«
Wieder suchte ihr Blick Trost in den Fluten. »Eigentlich spielt es keine Rolle, ob sie es nun ist oder nicht. Das Einzige, was zählt, ist, dass sie eine Hexe und entschlossen ist, mir Unannehmlichkeiten zu bereiten.«
Richard trat einen Schritt auf Shota zu. »Es fällt mir ziemlich schwer zu glauben, dass diese andere Hexe Samuel von Euch fortgehext haben soll, nur um Euch bloßzustellen und sich zu nehmen, was Euch gehört. Es muss noch mehr dahinterstecken.«
»Vielleicht ist es eine Provokation«, schlug Cara vor. »Vielleicht will sie Euch dazu verleiten, Euch zu zeigen und zu kämpfen.«
»Dafür müsste sie sich zu erkennen geben«, erwiderte Shota. »Getan hat sie das genaue Gegenteil. Sie hält sich aus ganz bewusster Berechnung im Verborgenen, damit ich mich nicht gegen sie wehren kann.«
Richard stellte einen Stiefel auf die Marmorbank, die den Brunnen umlief, und dachte nach. »Ich behaupte dennoch, dass noch mehr dahinterstecken muss. Samuel eines der Kästchen der Ordnung entwenden zu lassen, hat einen tieferen, dunkleren Sinn.«
»Und die wahrscheinlichere Antwort verweist auf niemand anderen als Euch selbst, Shota.« Mit seiner Bemerkung lenkte Zedd die Aufmerksamkeit aller auf sich. »Mir klingt das eher nach einem Eurer grandiosen Täuschungsmanöver.«
»Ich kann verstehen, warum Ihr das denkt, aber wenn dem so wäre, warum sollte ich dann hierher kommen, um Euch davon zu unterrichten?«
Zedds durchdringender Blick blieb fest. »Um Euch den Anschein von Unbescholtenheit zu geben, während Ihr in Wahrheit diejenige seid, die in den dunklen Schatten die Fäden zieht.«
Shota verdrehte die Augen. »Für derlei kindische Spielereien fehlt mir die Zeit, Zauberer. Ich war es nicht, der Samuels Hand führte. Meine Zeit wurde für andere, wichtigere Dinge benötigt.«
»Die wären?«
»Ich war in Galea.«
»Galea!«, schnaubte Zedd ungläubig. »Was in aller Welt sollte Euch nach Galea geführt haben?«
Jebra legte Zedd eine Hand auf die Schulter. »Sie war dort, um mich zu retten. Ich war in Ebinissia, geriet in die Wirren der Eroberung und wurde als Sklavin verschleppt. Shota hat mich da herausgeholt.«
Zedd richtete einen misstrauischen Blick auf Shota. »Ihr wart am Sitz der Krone von Galea, um Jebra zu retten?«
Shota warf Richard einen bedeutungsvollen Blick zu und sagte: »Es war unbedingt erforderlich.«
Shota bekam einen durchsichtigen Zipfel des Stoffes zu fassen, aus dem ihr Kleid bestand, als dieser sich ganz sachte hob, gleich einer Katze, die, um eine zärtliche Liebkosung durch die Hand ihrer Herrin bettelnd, einen Buckel macht. »Die Ereignisse steuern unaufhaltsam auf ein bitteres Ende zu. Und wenn sich der Kurs, den die Ereignisse eingeschlagen haben, nicht noch ändert, sind wir dazu verdammt, unter die Herrschaft der Eindringlinge zu fallen, gebunden an die Erlasse eines Volkes, das unter anderem der Überzeugung ist, Magie sei eine schändliche Entartung, die es in der ganzen Welt auszurotten gilt. Eines Volkes, das glaubt, die Menschheit sei ein sündiges und korruptes Etwas, das von Rechts wegen unscheinbar und angesichts des allmächtigen Schauspiels der Natur hilflos zu sein hat. Wer von uns Magie besitzt, wird ausnahmslos, und zwar gerade weil er nicht unscheinbar und hilflos ist, verfolgt und schließlich ausgerottet werden.«
Shotas Blick schweifte nacheinander über die ihr entgegenstarrenden Gesichter. »Aber das ist nur unser persönliches, tragisches Schicksal, nicht die wahre Geißel der Imperialen Ordnung.
Wenn sich die Entwicklung nicht noch ändert, werden sich die ungeheuerlichen Glaubensüberzeugungen, die uns die Imperiale Ordnung aufzwingt, wie ein Leichentuch über die gesamte Welt legen. Es wird keinen sicheren Ort mehr geben, keine Zuflucht. Das eiserne Mandat der Gleichförmigkeit wird sich um die Kehlen derer legen, die man am Leben lässt. Alles Gute und Erhabene wird dem heuchlerischen Trugbild eines allgemeinen Wohlstands in Gestalt hochfliegender Phrasen und sinnleerer Ideale geopfert werden, das den nichtsnutzigen Pöbel zu geistloser Gier nach dem Unverdienten aufstachelt und den zivilisierten Menschen zu wenig mehr als einem wohl organisierten Mob von Plünderern abstumpfen lässt. Aber wenn dann alles, was irgendwie von Wert war, geplündert ist, was bleibt ihnen dann noch vom Leben? Mit ihrer Verachtung für das Erhabene, ihrer Geringschätzung für alles Gute, machen sie sich Armseligkeit und Ungehobeltheit zu eigen. Und weil sie jeden hassen, der sich irgendwie hervortut, wird die gesamte Menschheit dank der Glaubensüberzeugungen der Imperialen Ordnung dazu verdammt, im Morast zu wühlen, wenn sie überleben will. Die unerschütterliche Auffassung von einer der Menschheit angeborenen Sündhaftigkeit wird zum anerkannten Glauben werden. Dieser Glaube, erzwungen mit dem Mittel rücksichtsloser Brutalität und unsäglichem Elend, wird ihr bleibender Leitgedanke sein. Ihr Erbe wird der Niedergang des Menschen in ein dunkles Zeitalter voller Leid und Elend sein, aus dem er sich womöglich nie wieder wird befreien können. Darin besteht das Grauen der Imperialen Ordnung - nicht im Tod, sondern in einem von ihren Glaubensüberzeugungen geprägten Leben.« Shotas Worte senkten sich wie ein Leichentuch über den Raum. »Die Toten können schließlich nichts mehr fühlen, kein Leid empfinden. Das können nur die Lebenden.«
Shota wandte sich um. »Was sagt Ihr dazu, Prophet? Verheißen es die Prophezeiungen anders, oder spreche ich die Wahrheit?«
Nathan antwortete mit ruhiger Stimme. »Soweit es die Imperiale Ordnung betrifft, fürchte ich, können die Prophezeiungen keinerlei Beleg für das Gegenteil anführen. Ihr habt mit angemessenen und knappen Worten mehrere Tausend Jahre der Vorhersage zusammengefasst.«
»Diese alten Schriften sind nicht immer leicht verständlich«, gab Ann zu bedenken. »Das geschriebene Wort kann recht doppeldeutig sein. Prophezeiungen sind kein Thema, das sich für Unerfahrene eignet. Dem ungeübten Blick mag es so scheinen, als ...«
»Ich hoffe aufrichtig, Prälatin, Euer Urteil beruht auf einer oberflächlichen Einschätzung meiner äußeren Erscheinung und nicht meiner Fähigkeiten.«
»Ich wollte lediglich ...«, begann Ann.
Shota machte eine wegwerfende Handbewegung, wandte sich ab und richtete den Blick auf Richard, als wäre er der Einzige im Raum. Sie sprach, als wären ihre Worte ausschließlich an ihn gerichtet.
»Womöglich sind wir die Letzten, denen ein Leben in Freiheit vergönnt ist. Es könnte sein, dass dies für alle Zeiten das Ende der besten aller Möglichkeiten ist, des Strebens nach Werten und der Chance für jeden von uns, aufzusteigen und nach Höherem zu streben. Nehmen die Ereignisse keinen anderen Verlauf, werden wir alsbald Zeugen der schlechtesten aller Möglichkeiten sein, eines Zeitalters, in dem die Menschheit - aus Furcht, ein jeder könnte sich erdreisten, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und eigene Ziele zu verfolgen - gezwungen wird, das von der Imperialen Ordnung glorifizierte Dasein unwissender Wilder zu führen.«
»Das wissen wir doch alle längst«, sagte Richard, die Hände neben dem Körper zu Fäusten geballt. »Begreift Ihr nicht, wie hart wir dafür gekämpft haben, genau das zu verhindern? Macht Ihr Euch überhaupt eine Vorstellung, welche Mühen wir alle auf uns genommen haben? Was glaubt Ihr eigentlich, wofür ich kämpfe?«
»Ich weiß es nicht, Richard. Du behauptest, absolut entschlossen zu sein, und doch ist es dir nicht gelungen, den Kurs der Geschehnisse zu beeinflussen oder die Horden der Imperialen Ordnung aufzuhalten. Du gibst vor zu verstehen, und doch sind die Eindringlinge noch immer auf dem Vormarsch und unterjochen mit jedem Tag, der verstreicht, mehr Menschen.
Aber selbst darum geht es nicht. Es geht um die Zukunft. Denn auch in Zukunft wirst du uns im Stich lassen.«
Richard meinte seinen Ohren nicht zu trauen. Er war nicht nur wütend, er war entsetzt, dass Shota sich zu einer solchen Äußerung hinreißen ließ. Es war, als wäre alles, was er getan hatte, jedes Opfer, das er gebracht, jede Mühe, die er auf sich geladen hatte, für sie bedeutungslos, und das nicht nur in diesem Augenblick, sondern auch in Zukunft.
»Seid Ihr gekommen, um mir Eure Prophezeiung meines Scheiterns mitzuteilen?«
»Nein. Ich bin gekommen, um dir mitzuteilen, dass wir, wenn du nichts änderst, alle nach der augenblicklichen Lage der Dinge in diesem Kampf scheitern werden.«
Shota wandte sich von Richard ab und wies mit gestrecktem Arm auf Nicci. »Ihr habt ihm das dumpfe, abgestumpfte Ende gezeigt, das bestenfalls aus den von der Imperialen Ordnung vertretenen Glaubensüberzeugungen resultieren kann. Ihr habt ihm das freudlose Dasein gezeigt, das einzige, das unter ihren Lehren erlaubt sein wird, die besagen, dass der Wert des Lebens sich einzig nach der Größe des Opfers bemisst, das man erbringt, und sich der Sinn des Lebens in einem jenseitigen Ziel erschöpft: der leblosen Ewigkeit in einer anderen Welt.
Darin habt Ihr uns allen einen großen Dienst erwiesen, und dafür gebührt Euch unser Dank. Ihr habt Eure Rolle als Richards Ausbilderin wahrhaftig erfüllt, wenn auch nicht so, wie Ihr erwartet hattet. Aber auch das ist noch nicht alles.«
Richard verstand nicht recht, wie man seine Gefangenschaft während der er gezwungen war, ein entbehrungsreiches Leben unten in der Alten Welt zu führen - als Dienst betrachten konnte. Um die hoffnungslose Sinnlosigkeit eines Lebens unter der Herrschaft der Imperialen Ordnung zu begreifen, hätte er das alles nicht am eigenen Leib erfahren müssen. Er bestritt nicht ein einziges Wort von Shotas Ausführungen, was ihnen allen im Falle einer Niederlage blühte, trotzdem ärgerte es ihn, dass sie offenbar glaubte, er müsse sich das alles noch einmal anhören, so als hätte er noch nicht begriffen, wofür sie kämpften, und wäre infolgedessen auf dem besten Wege zu scheitern, statt sich mit seiner ganzen Kraft ihrer Sache anzunehmen. Wie es passiert war, hätte er nicht zu sagen vermocht, denn er hatte nicht gesehen, dass sie sich bewegt hätte, aber plötzlich stand Shota genau vor ihm, das Gesicht nur wenige Zoll entfernt von seinem.
»Und doch ist dir all das noch nicht in vollem Umfang klar, zeigst du noch nicht die Entschlossenheit, die unabdingbar nötig wäre.«
Richard funkelte sie wütend an. »Ich zeige keine Entschlossenheit? Was redet Ihr denn da?«
»Ich musste einen Weg finden, es dir begreiflich zu machen, dich zu zwingen, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Ich musste einen Weg finden, dich zu der Erkenntnis zu zwingen, was den Menschen nicht nur in der Neuen, sondern auch in der Alten Welt, ja was der gesamten Menschheit bevorsteht.«
»Wie könnt Ihr glauben, ich hätte ...«
»Du bist der, auf den es ankommt, Richard Rahl. Du bist derjenige, der die letzten Truppen anführen wird, die sich den Ideen widersetzen, aus denen sich der Flächenbrand mit Namen Imperiale Ordnung speist. Aus welchen Gründen auch immer bist du derjenige, der uns in diesem Kampf anführt. Mag sein, dass du daran glaubst, wofür du kämpfst, gleichwohl weigerst du dich zu tun, was nötig ist, um den Verlauf des Krieges zu ändern, sonst wäre das, was ich im Strom der künftigen Ereignisse erblickt habe, nicht so, wie es ist. Wie die Dinge derzeit stehen, sind wir zum Untergang verdammt. Du musstest unbedingt erfahren, welches Schicksal unserem Volk, ja der gesamten Menschheit, droht. Also ging ich nach Galea, um Jebra zu finden, damit sie dir berichten kann, was sie gesehen hat - damit eine Seherin dir helfen kann zu sehen.«
Eigentlich, fand er, hätte er über diese Strafpredigt verärgert sein sollen, doch er schaffte es nicht mehr, seinen Ärger aufzubieten, er entglitt ihm zusehends. »Mir ist längst bekannt, was im Falle unseres Scheiterns geschehen wird, Shota. Ich weiß, was es mit der Imperialen Ordnung auf sich hat. Ich weiß auch, was uns erwartet, wenn wir diesen Kampf verlieren.«
Shota schüttelte den Kopf. »Du kennst das Danach, du weißt, wie es ist, die Toten zu sehen. Aber die Toten können nichts mehr spüren. Die Toten können nicht mehr brüllen, sie können nicht mehr vor Entsetzen schreien, die Toten können nicht um Gnade winseln. Du weißt, wie es ist, am Morgen nach dem Sturm die Trümmer in Augenschein zu nehmen, aber du musst von jemandem, der dabei war, hören, wie es war, als der Sturm losbrach. Du musst hören, wie es war, als die gewaltigen Horden kamen. Du musst dir anhören, welches Schicksal jedem Einzelnen von uns tatsächlich beschieden sein wird. Du musst wissen, was mit den Überlebenden geschieht, wenn du in dem versagst, was nur du tun kannst.«
Er sah kurz hoch zu Jebra. Zedd hatte seinen Arm tröstlich um ihre Schultern gelegt, Tränen liefen über ihr aschfahles Gesicht. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Bei den Gütigen Seelen«, sagte er mit leiser Stimme, »wie könnt Ihr nur so grausam sein, auch nur einen Augenblick zu denken, ich wäre mir nicht im Klaren über das Schicksal, das uns allen im Falle unseres Scheiterns blüht?«
»Ich erkenne darin den Strom künftiger Ereignisse«, erwiderte Shota in einem ruhigen Tonfall, der sich ausschließlich an ihn richtete.
»Und was ich sehe, besagt, dass du nicht genug getan hast, um zu verändern, was künftig sein wird, denn sonst wäre es nicht so, wie ich es sehe. Das hat nichts mit Grausamkeit zu tun, es geht allein um Wahrheit.
»Und was genau erwartet Ihr, soll ich tun, Shota?« »Ich weiß es nicht, Richard. Aber was immer es ist, derzeit tust du es nicht, habe ich recht? Während wir alle einem unvorstellbaren Grauen entgegenschlittern, unternimmst du nichts, um es zu verhindern. Stattdessen jagst du irgendwelchen Phantomen nach.«