32

Cara neben sich, hastete Nicci den von Fackeln beleuchteten Flur entlang, lief über kunstvoll gemusterte, ihre Schritte dämpfende Teppiche, vorbei an Zimmern, in denen Öllampen das nur spärlich vorhandene Mobiliar in warmes Licht tauchten. Die Burg der Zauberer, nahezu ebenso gewaltig wie der Berg, der ihr unter seinen unerschütterlichen steinernen Schultern Schutz bot, wirkte verlassen und unheimlich. Nicci hatte mehrere Jahrzehnte in dem unter dem Namen Palast der Propheten bekannten Gebäudekomplex verbracht, der in mancher Hinsicht an die Burg der Zauberer erinnerte, nur dass dort ein reges Treiben von Hunderten von Menschen jeglicher Art geherrscht hatte, die ausnahmslos dort lebten, angefangen bei der Prälatin bis hin zu den jungen Burschen, die sich um die Ställe kümmerten. Auch das war ein Ort der Zauberer gewesen - Zauberer, die noch in der Ausbildung waren, jedenfalls. Die Burg existierte zum Wohle der Menschheit, und doch stand sie jetzt stumm und verlassen von allen, die ihr hätten Leben einhauchen können. Wenn es einen Ort gab, von dem man behaupten konnte, dass er verlassen wirkte, dann ganz gewiss das gewaltige Bauwerk der Burg der Zauberer.

Getrieben von ihrer Treue und Liebe zu Richard, von der Angst, ihm könnte das Allerschlimmste zugestoßen sein, gab Cara ihr Äußerstes. Nicci, die von der Angst getrieben war, womöglich gar seinen Tod in Betracht ziehen zu müssen, rannte nicht minder schnell, so als wollte sie ihm um jeden Preis zuvorkommen. Und doch durfte sie diesen Gedanken eigentlich nicht denken, denn sonst wäre sie vor Verzweiflung zusammengebrochen. Eine Welt ohne Richard war in ihren Augen eine tote Welt.

Das Geräusch ihrer Schritte hallte durch die Burg wie das gespenstische Geflüster der längst verstorbenen Seelen derer, die einst in diesen Hallen gewandelt waren, einst diese Stufen erklommen hatten, hier an diesem Ort gelacht, geliebt und gelebt hatten. Am Ende der dritten Treppenflucht führte Nicci, deren Beine mittlerweile von der übermenschlichen Anstrengung schmerzten, sie in eine breite Passage. Als sie an den in einem freundlichen, rötlich braunen Kirschton gehaltenen Pfeilern vorüberkam, welche die ausgedehnten, bunten, bleiverglasten Flächen unterteilten, gab sie Cara mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie im nächsten Seitengang nach rechts abbiegen würden.

Endlich im Labyrinth kleinerer Flure angekommen, durch das man in ihre Wohnquartiere gelangte, erspähte Nicci in der Ferne Zedd, der ihnen, dicht gefolgt von Rikka, bereits entgegengeeilt kam. Einen finsteren Ausdruck im Gesicht, blieb der alte Zauberer stehen und wartete, bis sie das letzte Stück des Weges zurückgelegt hatten.

»Was ist los?«, fragte er. Offenbar hatte er ihren Mienen bereits angesehen, dass irgendetwas schiefgegangen war.

»Wo ist Lord Rahl?«, verlangte Rikka zu wissen, kaum war sie hinter ihm stehen geblieben.

Nicci kannte den ängstlich sorgenvollen Blick in ihren Augen nur zu gut. Es war derselbe Ausdruck, den auch Cara im Gesicht trug, seit sie festgestellt hatte, dass ihr Strafer nicht mehr funktionierte. Ein kurzer Blick nach unten zeigte ihr, dass Rikka, genau wie Cara, ihren Strafer mit der geballten Faust umklammert hielt, so fest, dass deren Knöchel weiß hervortraten. Nur waren die Talismane ihrer Verbundenheit mit Lord Rahl jetzt erloschen.

»Wo ist mein Enkelsohn?«, fragte Zedd zurück. »Wieso ist er nicht bei euch?«

In seiner Frage schwang ein Vorwurf mit, so als wollte er sie an Niccis Versprechen erinnern, und an die Warnung, die Jebra ihnen vor ihrem Aufbruch mit auf den Weg gegeben hatte.

»Zedd«, begann Nicci, »das wissen wir nicht genau.«

Fragend neigte der Zauberer seinen Kopf mit den unordentlich nach allen Seiten abstehenden Haaren zur Seite. Der Blick, mit dem er sie dabei bedachte, war eindeutig der des Zauberers, der die Oberhand über den besorgten Großvater gewann.

»Kommt mir jetzt nicht mit Ausflüchten, Kind.«

Wäre die Lage nicht so todernst gewesen, hätte Nicci ihm ob dieser Bezeichnung wahrscheinlich ins Gesicht gelacht.

»Wir befanden uns alle zusammen in der Sliph und waren auf dem Weg zurück in die Burg der Zauberer«, erklärte Nicci, »als wir irgendwo unterwegs - wenn man in der Sliph reist, lässt sich nie genau sagen, wo man sich gerade befindet - plötzlich von der Bestie angegriffen wurden.«

Einen fragenden Ausdruck im Gesicht, sah Zedd kurz zu Cara. »Von der Bestie?«

Cara nickte bestätigend.

»Und weiter, was geschah dann?«

»Das weiß ich nicht.« In einer hilflosen Geste, weil sie nicht die richtigen Worte fand, um das Erlebnis zu beschreiben, breitete Nicci die Arme aus. »Wir haben noch versucht, uns gegen sie zu wehren. Sie hatte überall diese schlangengleichen Arme. Wir haben noch gegen sie gekämpft, und als ich dann versuchte, mein Han gegen sie zu benutzen ...«

»In der Sliph?«

»Ja, nur hat es wenig genützt, eigentlich gar nichts. Ich habe eben alles versucht, was mir in den Sinn kam. Schließlich riss die Bestie mich und Cara von Richard los. In der Dunkelheit war es unmöglich, ihn wieder zu finden. Wir haben alles versucht, konnten aber überhaupt nichts erkennen - wir hatten uns ja selbst schon aus den Augen verloren. Wie ich bereits sagte, in der Sliph ist es unmöglich zu bestimmen, wo man sich gerade befindet. Man sieht nichts und hört nicht einmal wirklich etwas. Es ist ein ziemlich verwirrender und letztlich leerer Ort. So sehr wir uns auch bemühten, Richard war nirgends zu finden.«

Zedd schien mit jedem Augenblick ärgerlicher zu werden. »Und wieso seid ihr dann hier, anstatt in der Sliph nach ihm zu suchen?«

»Die Sliph hat uns ausgespien«, mischte Cara sich ein. »Und auf einmal waren wir wieder hier, in der Burg der Zauberer. Nicci und ich, wir haben beide, jede auf ihre Art, versucht, Lord Rahl zu finden, aber da war ... nichts. Weder die Bestie noch Lord Rahl. Anschließend hat die Sliph uns hier abgesetzt, was ja ohnehin unser Ziel gewesen war, bevor wir angegriffen wurden.«

»Und was habt ihr dann hier oben verloren?«, wiederholte er seine Frage in drohendem Tonfall. »Wieso seid ihr nicht längst wieder in der Sliph und sucht ihn, oder besser noch, bringt sie dazu, euch zu verraten, wo er sich befindet?«

Niccis Blick fiel auf seine geballten Fäuste; sie wusste nur zu gut, wie er sich fühlte. Sachte fasste sie ihn am Arm.

»Die Sliph hat sich geweigert, uns seinen Aufenthaltsort zu verraten. Glaubt mir, wir haben es versucht. Vielleicht kann man sie irgendwie dazu zwingen, das weiß ich nicht, aber ich glaube, ich weiß eine bessere Möglichkeit - jemand, der uns verraten könnte, wo Richard ist: Jebra.«

Zedd überlegte, die schmalen Lippen aufeinander gepresst. »Es wäre einen Versuch wert«, entschied er zu guter Letzt, »aber seid euch darüber im Klaren, dass sich die Gute seid eurer Abreise in einer ziemlich üblen Verfassung befindet. Sie ist in ihren besten Augenblicken zutiefst schwermütig, dann wieder befindet sie sich im eisernen Griff eines hysterieähnlichen Zustandes. Wir haben natürlich versucht, sie ruhigzustellen, allerdings ohne Erfolg. Ich fürchte, nach allem, was sie durchgemacht hat, ist es für sie nur umso erschreckender, auf einmal wieder mit diesen außergewöhnlichen Visionen konfrontiert zu werden. Offenbar bereitet es ihr große Schwierigkeiten, sich wieder mit ihnen auseinandersetzen zu müssen, und ganz besonders mit dieser einen. Also haben wir sie schließlich ins Bett verfrachtet, in der Hoffnung, dass sie, sobald sie mit ein wenig Ruhe wieder zu Kräften gekommen ist, diese verwirrenden Visionen besser verarbeiten kann. Immerhin befindet sie sich nicht in derselben Verfassung wie Königin Cyrilla; sie bemüht sich nach Kräften, nicht dem gleichen Wahnsinn zu verfallen. Sie weiß, dass sie uns helfen muss, aber im Augenblick überwiegt ihre Niedergeschlagenheit einfach noch ihren gesunden Menschenverstand. Im Übrigen bin ich sicher, dass ihr Unvermögen zum Teil auf ihre völlige Erschöpfung zurückgeht. Trotzdem sind wir zuversichtlich, dass sie, sobald sie ein wenig zur Ruhe gekommen ist, dem, was sie uns bereits erzählt hat, noch das ein oder andere hinzufügen kann.«

»Was hat sie überhaupt gesagt?«, erkundigte sich Nicci, in der Hoffnung, durch die Antwort einen ersten Hinweis zu erhalten. Einen Moment lang sah Zedd ihr forschend in die Augen. »Nun ja, sie sagte, ihr würdet ohne Richard zurückkommen.«

Nicci sah ihn unverwandt an. »Und was ist mit ihm passiert?«

Zedd senkte den Blick. »Das ist der Teil, den wir noch aus ihr herauszubekommen versuchen.«

Jetzt mischte sich auch Rikka ein. »Mein Strafer ist erloschen; ich kann die Bande nicht mehr spüren, und ebenso wenig Lord Rahl. Was, wenn er tot ist?«

Zedd wandte sich ein Stück herum und hob beschwichtigend die Hand, als wollte er sie bitten, sich wieder zu beruhigen. »Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Dafür könnte es jede Menge Erklärungen geben.«

Seine These schien Cara nicht zu ermutigen. »Zum Beispiel?«

Zedd richtete seine haselnussbraunen Augen auf sie und betrachtete die Mord-Sith einen Moment lang, während er sich seine Antwort überlegte. »Das weiß ich nicht, Cara. Ich weiß es einfach nicht. Seit Jebra mir sagte, er werde nicht mit euch zurückkehren, bin ich in Gedanken alle Möglichkeiten durchgegangen. Es gibt unzählige Alternativen, aber im Augenblick so gut wie nichts Handfestes, das uns einen Ansatzpunkt liefern würde. Doch wir werden nichts unversucht lassen, so viel kann ich euch versprechen.«

Nicci schluckte den Kloß hinunter, der ihr die Kehle zu verstopfen drohte. »Jebra ist im Augenblick unsere beste Chance, herauszufinden, wo Richard sich befindet. Wenn es uns gelingt, ihr das zu entlocken, können wir etwas unternehmen. Und wenn wir etwas unternehmen können, haben wir auch eine Chance, ihm zu helfen.«

»Wenn er dann noch lebt«, bemerkte Rikka.

Nicci biss die Zähne aufeinander und bedachte sie mit einem zornigen Funkeln. »Er lebt.«

Rikka musste schlucken. »Ich wollte doch nur sagen ...«

»Nicci hat recht«, beharrte Cara. »Wir reden hier immerhin über Lord Rahl. Er lebt.« Ein Träne lief ihr über die Wange. »Er lebt.«

»Nichtsdestoweniger«, fuhr der Zauberer mit bedrückter Stimme fort, »müssen wir vorbereitet sein, sollte es zum Schlimmsten kommen.« Als er den Ausdruck auf Caras Gesicht bemerkte, zeigte er ihr ein dünnes Lächeln. »Es offen auszusprechen bedeutet nicht, dass es auch so kommen muss. Was ist, das ist. Ich will damit nur sagen, dass wir auf alle Eventualitäten gefasst sein müssen, weiter nichts. Alles andere wäre unklug. Zudem würde Richard sich ebenso verhalten, wenn er einen von uns verloren hätte, und genau so würde er sich unser Verhalten wünschen, falls ihm etwas zugestoßen wäre. Würdet ihr nicht auch davon ausgehen, dass er weiterkämpfen würde, wenn euch etwas zustieße? Wir können die Dinge, mit denen wir konfrontiert werden, nicht einfach ignorieren. Richard würde sich wünschen, dass wir weiterkämpfen, dass wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen.«

Vielleicht mehr als jemals zuvor hatte Nicci in diesem Augenblick das Gefühl, den Obersten Zauberer sprechen zu hören. Jetzt verstand sie auch, von wem Richard seine bemerkenswerte Entschlossenheit hatte.

Cara funkelte ihn zornig an. »Ihr redet über ihn, als wäre er schon tot. Aber das ist er nicht.«

Zedd schenkte ihr ein Lächeln und pflichtete ihr mit einem Nicken bei; es geriet allerdings nicht sonderlich überzeugend.

»Ich muss unbedingt mit Jebra sprechen«, sagte Nicci. »Im Augenblick ist das unser bester Ansatzpunkt. Hat sie sonst noch etwas über ihre Vision gesagt?«

Zedd seufzte. »Nicht eben viel. Ihre letzte Vision liegt schon Jahre zurück, und diese kam nicht nur völlig überraschend, sondern war offenbar auch noch von überwältigender Grauenhaftigkeit. Allmählich habe ich die Befürchtung, dass der Grund für ihr zeitweiliges Ausbleiben jeglicher Visionen mit dem zu tun hat, was Richard über das schleichende Versagen der Magie sagte. Wenn das zutrifft, spricht es Bände, dass sich trotz ihrer nachlassenden Fähigkeiten ausgerechnet diese durchgesetzt hat. Selbst in den Phasen, in denen sie bei Bewusstsein und klarem Verstand war, schien ihre Fähigkeit, die Vision mitsamt allen darin vorkommenden Geschehnissen in vollem Umfang zu erfassen, bruchstückhaft und unvollständig.«

»Vielleicht können wir ihr ja helfen, alles wieder zusammenzusetzen«, schlug Nicci so behutsam wie möglich vor, obwohl sie im Grunde absolut entschlossen war, die Frau notfalls zu zwingen, zu tun, was man von ihr verlangte.

Zedd dagegen hielt das offenbar nicht für eine erfolgversprechende Idee, trotzdem schien er seine Kräfte lieber in den Versuch investieren zu wollen, als sich in das Unvorstellbare zu fügen.

»Hier entlang«, sagte er, machte schwungvoll kehrt und eilte los, den schwach beleuchteten Flur entlang.

Flankiert von Nicci und den beiden Mord-Sith, klopfte Zedd leise an die eher kleine, oben abgerundete Mahagonitür, deren Fächer Schnitzereien von kunstvoll verschlungenen Ranken und dichtem Blattwerk zierten. Während er auf Antwort wartete, sagte er zu Rikka: »Geht und holt Nathan. Sagt ihm, es sei wichtig, und dass er packen soll. Er wird schnellstmöglich aufbrechen müssen.«

Während Rikka durch den Flur davoneilte, klopfte Zedd erneut, ein wenig lauter diesmal. Als wieder keine Reaktion erfolgte, sah er über seine Schulter zu Nicci und fragte, am Aufschlag seines einfachen Gewandes nestelnd: »Habt Ihr auch dieses ... merkwürdige Gefühl?«

Nicci ging ein solches Chaos aberwitziger Gedanken durch den Kopf, dass sie gar nicht darauf geachtet hatte; schließlich befanden sie sich in der Burg der Zauberer. Überall gab es Alarmsysteme, die sie vor unerwünschten Besuchern schützen sollten.

Sie schob die Gedanken beiseite, als ihre Wahrnehmung in einen Zustand erhöhter Bewusstheit überging.

»Jetzt, da Ihr es erwähnt, da ist tatsächlich etwas, das sich ... merkwürdig anfühlt.«

»Merkwürdig? Inwiefern?«, fragte Cara und ließ ihren Strafer erneut in die Hand schnellen. Einen winzigen Augenblick lang wirkte sie verblüfft, ehe plötzliche Einsicht ihrer Verwunderung ein Ende machte.

Behutsam löste Nicci die Hand des Zauberers vom Hebel, ehe dieser die Tür öffnen konnte. »Es ist doch niemand bei ihr, oder? Tom oder Friedrich vielleicht?«

Zedd sah sie stirnrunzelnd an. »Nicht dass ich wüsste. Die beiden machen draußen ihre Runde. Ich wachte gerade an Jebras Krankenbett, als ich euer Kommen spürte. Sie schlief tief und fest. Ich wollte in der Nähe sein, für den Fall, dass sie aufwachte und mir mehr über ihre Vision erzählen konnte. Anschließend ließ ich sie allein und kam her, um euch zu empfangen, in der Hoffnung, sie hätte sich, was Richard anbetrifft, vielleicht getäuscht. Ann und Nathan sind bereits zu Bett gegangen, es könnte also vermutlich auch einer von den beiden sein.«

Nicci, das magische Empfindungsvermögen jetzt in höchster Alarmbereitschaft, schüttelte den Kopf. »Es ist keiner von beiden. Sondern irgendetwas anderes.«

Den Blick starr in die Ferne gerichtet, etwa so, wie man auf einen Laut horcht, dachte Zedd angestrengt darüber nach, doch Nicci wusste, dass er eigentlich gar nicht auf verräterische Geräusche lauschte. Vielmehr tat er dasselbe wie sie; er versuchte mithilfe seiner Gabe zu erkunden, was ihren anderen Sinnen verborgen blieb, versuchte die Gegenwart von Leben zu spüren. Doch soweit Nicci es spüren konnte, befanden sich nur drei Personen in unmittelbarer Nähe; sie selbst, Zedd und Cara, sowie, ein wenig schwächer auf der anderen Seite der Tür, Jebra.

Aber da war auch noch etwas anderes, obwohl das Gefühl keinen rechten Sinn ergab. Es war eine Anwesenheit, allerdings nicht die Art der Wahrnehmung, die sie gehabt hätte, hätte eine weitere Person dort hinter der Tür gelauert.

Trotzdem war ihr, als hätte sie erst vor Kurzem eine ganz ähnliche Wahrnehmung empfangen. Die Stirn angestrengt in Falten gelegt, versuchte sie sich zu erinnern.

»Ich habe in dem gesamten Bereich hier zusätzliche Alarmsysteme anbringen lassen«, erklärte ihr Zedd.

Nicci nickte. »Ich weiß; ich habe sie gespürt.«

»Es ist völlig ausgeschlossen, dass jemand sie passiert haben könnte. Das hätte ich bemerkt. Verdammt, nicht einmal eine Maus könnte durch die Fallen schlüpfen, die ich angebracht habe.«

»Könnte es vielleicht damit zusammenhängen, was Lord Rahl uns erzählt hat?«, frage Cara mit gesenkter Stimme. »Ich meine, dass mit der Magie womöglich etwas nicht stimmt? Könnte es nicht sein, dass mit Eurer Gabe etwas nicht stimmt und Ihr deswegen diese Wahrnehmungen empfangt?«

Zedd warf ihr einen verdrießlichen Blick zu. »Wollt Ihr damit sagen, Ihr glaubt, unsere Gabe ist... was? Verwirrt?«

Cara zuckte die Achseln, führte ihre Idee dann aber näher aus. »Viel weiß ich nicht über Magie, aber vielleicht ist es ja das, was mit meinem Strafer nicht stimmt. Vielleicht ist das schon alles. Lord Rahl hat ziemlich nachdrücklich darauf beharrt zu wissen, dass die Magie beeinträchtigt ist. Vielleicht gilt das in gleichem Maße für das Wahrnehmungsvermögen Eurer Gabe. Womöglich war der Schluss, den ich daraus gezogen habe, vollkommen falsch, und es liegt tatsächlich alles nur an dieser Beeinträchtigung.«

Zedd schnaubte verärgert, er fand die Idee ganz offensichtlich lächerlich. Zum Beweis wies er mit ausgestrecktem Arm auf die Öllampen auf den Tischchen gleich neben der Tür, die daraufhin augenblicklich erloschen. »Also, so weit funktioniert meine Kraft noch, was bedeutet, dass sie funktioniert«, entschied er mit leiser Stimme. Mit einem beherzten Blick auf Nicci legte er seine Hand wieder auf den Hebel. »Macht euch auf alles gefasst.«

»Augenblick noch«, rief Nicci.

Zedd sah über seine Schulter. Sein Gesichtsausdruck war in dem trüben Licht schlecht zu erkennen, nicht aber seine Augen. In ihnen erkannte sie etwas, das sie an Richards erinnerte.

»Was ist denn?«, fragte er unwirsch.

»Mir ist gerade etwas eingefallen, was mir schon seit einiger Zeit zu denken gibt.«

Die Finger aneinandergelegt, versuchte sie sich rasch die Einzelheiten in Erinnerung zu rufen. Schließlich sprach sie und fuchtelte dabei mit dem Finger. »Als die Bestie uns auf unserer Reise in der Sliph attackierte, spürte ich etwas Merkwürdiges. Zunächst habe ich dem keine Bedeutung beigemessen, da der Aufenthalt in der Sliph von vornherein so sonderbar ist, dass man schwer unterscheiden kann, ob eine Wahrnehmung dort bedeutsam oder sogar gänzlich außergewöhnlich ist. Ganz alltägliche Gefühle erscheinen einem dort manchmal phantastisch, ja geradezu übernatürlich. Man weiß einfach nie, ob das nur an der Konzentration der unvertrauten Wahrnehmungen liegt oder vielleicht an etwas ganz anderem.«

»Wann genau hattet Ihr diese Wahrnehmung?«, hakte Zedd nach. Plötzlich schien er sich brennend für ihre Ausführungen zu interessieren. »Die ganze Reise über oder nur zu einem bestimmten Zeitpunkt?«

»Nein, wie ich schon sagte, es war gleich nachdem die Bestie uns attackiert hatte.«

»Ein bisschen genauer, bitte. Denkt nach. War es, als die Bestie angriff? War es vielleicht, als sie Richard packte? Oder eher, als sie Euch zu greifen versuchte?«

Die Fingerspitzen an die Schläfe gepresst, schloss sie fest ihre Augen und versuchte verzweifelt, sich präzise zu erinnern. »Nein ...nein, es war, nachdem ich von Richard fortgerissen wurde. Nicht unmittelbar danach, sondern kurze Zeit später.«

»In welcher Reihenfolge haben sich diese Vorfälle ereignet?«

»Nun, die Bestie griff an, dann haben wir uns gegen sie gewehrt. Ich machte Gebrauch von meiner Gabe, allerdings ohne dass es etwas genutzt hätte. Dann tat die Bestie mir weh, und Richard durchtrennte mit seinem Messer einige der Tentakel, womit er mich davor bewahrte, zerquetscht zu werden.

Kurz darauf riss die Bestie Cara von ihm los, und nicht viel später auch mich. Da ist es passiert - nicht unmittelbar danach, aber wenige Augenblicke später. Ich erinnere mich so genau, weil ich gerade wie von Sinnen nach Richard suchte, als ich diese merkwürdige Wahrnehmung spürte.«

Nicci sah zu dem Zauberer hoch. »Die Sache ist die, unmittelbar nachdem ich diese Wahrnehmung hatte, konnte ich die Anwesenheit der Bestie nicht mehr spüren. Ich habe es versucht, ich habe Richard zu finden versucht, aber es war unmöglich. Als die Sliph uns dann zurück zur Burg der Zauberer jagte, klang das Gefühl so rasch ab, dass ich es ganz vergessen habe.«

»Wie hat es sich denn angefühlt - diese Wahrnehmung?«

Nicci gestikulierte. »Genau so wie das, was sich hinter dieser Tür befindet.«

Zedd starrte sie einen Moment lang an. »Es fühlt sich genau so an? Etwa wie eine Art... summender Energiestrom?«

Nicci nickte. »Wie eine magische Entladung, für die es jedoch keinerlei Anlass gibt.«

»Magie scheint sich oft vollkommen grundlos zu entfalten«, warf Cara ein. »Was ist daran so merkwürdig?«

Zedd schüttelte den Kopf. »Magie entfaltet sich nicht einfach so, ohne einen bestimmten Zweck. Magie besitzt kein Bewusstsein, diese Empfindung dagegen ahmt in gewisser Weise ebendiese bewusste Zielgerichtetheit nach.«

»Genau«, bestätigte Nicci. »Genau das war auch mein Eindruck. Es fühlte sich deswegen so sonderbar an, weil Magie mit einer derartigen Ausrichtung nicht völlig absichtslos sein kann. Es handelt sich hier um eine beherrschende Kraft, die ihre charakteristischen steuernden Präsenzfelder selbst erzeugt, allerdings ohne dass für den Vorgang Leben erforderlich wäre.«

Zedd straffte sich. »Das ist eine sehr treffende Beschreibung dessen, was auch ich spüre.« Argwöhnisch musterte er die Tür. »Ich denke, wir sollten näher rangehen; möglicherweise können wir es dann deutlicher spüren und herausfinden, um was es sich handelt. Wenn wir nahe genug herankommen, lässt es sich vielleicht sogar analysieren.« Er warf den beiden einen Blick zu. »Aber auf jeden Fall sollten wir Vorsicht walten lassen, was meint ihr?«

Die drei drängten sich dicht aneinander, als der Zauberer behutsam den Hebel umlegte und die Tür langsam aufdrückte. Obwohl die Tür einen Spaltbreit geöffnet war, war Niccis Wahrnehmung nicht ausgeprägter als zuvor, als sie noch geschlossen war. Zedd steckte kurz seinen Kopf hinein und stieß sie dann vollends auf. Im Zimmer herrschte völlige Dunkelheit; nur das trübe Licht vom Flur ließ einige Umrisse und Schatten der darin befindlichen Gegenstände erkennen.

An der fernen Wand zu ihrer Linken konnte Nicci einen leeren Stuhl ausmachen, über dessen Lehne eine säuberlich gefaltete Steppdecke drapiert war. Unweit der Tür stand auf derselben Zimmerseite ein niedriger, runder Tisch mit einer nicht brennenden Lampe darauf. Das Bett jenseits des Tisches war leer. Die zerknüllten Laken waren seitlich aus dem Bett geschoben worden und bildeten am Fußboden ein unordentliches Knäuel. Wie Zedd und Cara, so ließ auch Nicci den Blick durch den Raum schweifen, doch Jebra war nirgends zu sehen. Falls sie sich an einer anderen Stelle des Zimmers befand, war es zu dunkel, um sie zu erkennen. Jetzt, da die sonderbare Empfindung im Zimmer stärker ausgeprägt war, war Niccis geistige Wahrnehmung nicht sehr hilfreich.

Zedd schickte ein kurzes Aufflackern seines Han in die Lampe, doch da ihr Docht heruntergedreht war, reichte das Licht nicht aus, um die tiefen Schatten in den Ecken oder hinter dem Kleiderschrank auf der anderen Seite des Zimmers zu vertreiben. Von Jebra war noch immer nichts zu sehen.

Nicci hatte sich von allen Sinneseindrücken freigemacht und konzentrierte sich stattdessen ganz auf die von ihrem Han beherrschte Wahrnehmung. Mit einem Schritt war sie an Zedd vorbei, dann blieb sie angespannt und vollkommen reglos mitten im Zimmer stehen und lauschte. Mithilfe ihrer Gabe versuchte sie sich dem Gefühl einer weiteren, irgendwo im Dunkeln lauernden Anwesenheit zu öffnen, doch da war nichts.

Eine kaum merkliche Brise ließ die Vorhänge rascheln. Beide aus kleinen Glasscheiben bestehenden Türflügel waren auf einen kleinen Balkon geöffnet. Von dem Balkon vor ihrem eigenen ganz in der Nähe gelegenen Zimmer wusste Nicci, dass auch dieser auf die lichtlose Stadt tief unten am Fuß des Berges blickte. Oben auf der Balkonbrüstung verdeckte eine dunkle Silhouette die darunterliegende mondlichtbeschienene Landschaft.

Hinter Niccis Rücken drehte Zedd den Docht der Öllampe hoch. Als das Licht aufflammte, sah Nicci, dass die Gestalt dort draußen auf dem Balkon Jebra war, die barfuss mit dem Rücken zu ihnen auf der mächtigen Steinbrüstung stand.

»Bei den Gütigen Seelen«, entfuhr es Cara flüsternd, »sie wird doch nicht etwa springen!«

»Jebra«, rief Zedd mit leiser, bedachtsamer Stimme, »wir sind gekommen, um Euch zu besuchen.«

Falls Jebra ihn gehört hatte, ließ sie es sich durch nichts anmerken. Nicci glaubte allerdings nicht, dass sie außer dem gespenstischen Wispern der Magie überhaupt etwas hörte. Sie konnte die schwachen Wogen jener fremdartigen Kraft an sich vorbeirauschen fühlen, die sich summend auf die Seherin zubewegten. Diese stand bewegungslos wie eine Statue auf der Brüstung und schaute mit starrem Blick über die tief unten liegende Stadt Aydindril hinweg. Eine sanfte Brise zauste ihr kurz geschnittenes Haar. Obwohl der Balkon das Tal unten überblickte, befand er sich, wie Nicci wusste, nicht unmittelbar über der Außenmauer der Burg. Trotzdem hatte Jebra bis hinunter in einen der inneren Burghöfe, auf die Gehwege, die Mauergänge oder Schieferdächer des Bergfrieds einen Sturz von mehreren Hundert Fuß vor sich. Angesichts einer solchen Fallhöhe war es unerheblich, dass sie im Falle eines Sturzes oder Sprungs nicht direkt den steilen Berghang hinabstürzen würde; ein Aufprall auf den Mauern des Bergfrieds tief unten würde sie ebenso gewiss zerschmettern.

»Sterne«, sprach Jebra plötzlich mit leiser, dünner Stimme in die weite Leere vor ihr.

Zedd packte Niccis Arm, zog sie zu sich heran und brachte seinen Mund ganz nah an ihr Ohr. »Ich glaube, da sucht jemand nach denselben Antworten wie wir. Und dieser Jemand ist im Begriff, in ihren Verstand einzudringen. Das ist es auch, was wir fühlen, es ist ein Dieb, ein Gedankendieb.«

»Jagang«, entfuhr es Cara tonlos.

Nicci wusste, das war die logische Vermutung. Jetzt, da die Bande zu Richard irgendwie gekappt waren, wäre Jagang theoretisch dazu imstande. Solange Richard nicht die Rolle des Lord Rahl ausfüllte, waren sie plötzlich alle für den Traumwandler anfällig. Ein scheußliches Kribbeln eiskalter Angst kroch durch Niccis Körper, als sie sich erinnerte, wie Jagang einst von ihrem Verstand, ihrem Willen, Besitz ergriffen hatte. Ohne den Lord Rahl waren die Bande zerrissen, die sie davor bewahrten. Wenn der Kaiser durch die Nacht streifte, bestand durchaus die Möglichkeit, dass er ihre Schutzlosigkeit bemerkte und jeden Augenblick, ohne Vorwarnung und unbemerkt in Gestalt des Traumwandlers direkt in ihren Verstand eindringen und sich mit ihren Gedanken schmücken konnte.

Aber Nicci kannte Jagang. Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn er vom Verstand eines Menschen Besitz ergriff, schließlich hatte er genau das bei ihr getan. Er hatte sich ihres Verstandes bemächtigt, sie kontrolliert und mittels dieser schrecklichen Anwesenheit beherrscht. Das hier war anders.

»Nein«, sagte sie, »Jagang ist es nicht. Was ich spüre, ist etwas anderes.«

»Wie könnt Ihr dessen so sicher sein?«, flüsterte Zedd. Endlich löste Nicci ihren Blick von Jebra und sah den verdrießlich dreinblickenden Zauberer an.

»Nun, zum einen«, antwortete sie ebenso leise, »würdet Ihr gar nichts spüren, wenn es tatsächlich Jagang wäre. Der Traumwandler hinterlässt keine Spuren; es ist unmöglich festzustellen, ob er gerade zugegen ist oder nicht. Das hier ist etwas völlig anderes.«

Zedd strich über sein säuberlich rasiertes Kinn. »Trotzdem, irgendwie kommt es mir bekannt vor«, murmelte er bei sich.

»Sterne«, sprach Jebra erneut in die Nacht jenseits des Balkons. Als Zedd sich anschickte, durch die beiden offen stehenden Türflügel ins Freie zu treten, fasste Nicci ihn beim Arm und hielt ihn zurück. »Wartet noch«, raunte sie ihm zu.

»Sterne, die auf Erde fallen«, deklamierte Jebra mit gespenstischer Stimme.

Nicci und Zedd wechselten einen Blick.

»Sterne im Gras«, fuhr Jebra im selben leblosen Tonfall fort. Zedds Körper straffte sich. »Bei den Gütigen Seelen. Jetzt weiß ich, was es ist.«

Nicci beugte sich näher. »Die Anwesenheit?«

Der Zauberer nickte langsam. »Es ist das Gefühl, das man in Gegenwart einer Hexe spürt, die ihre Macht ausübt.«

Jebra breitete ihre Arme aus.

»Sie springt!«, schrie Nicci, als Jebra langsam nach vorne zu kippen begann, hinaus in die Nacht.

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