3

Abrupt sprang Richard auf. Die Füße des schweren hölzernen Sessels, auf dem er gesessen hatte, scharrten über den groben Steinfußboden, als er nach hinten geschoben wurde. Seine Fingerspitzen ruhten noch immer auf der Kante des Tisches, auf dem, vor der silbernen Lampe, aufgeschlagen und wartend das Buch lag, in dem er gelesen hatte.

Mit der Luft stimmte irgendetwas nicht.

Weniger mit ihrem Geruch oder der Temperatur, auch nicht mit der Feuchtigkeit, obwohl der Abend warm und drückend war. Nein, vielmehr fühlte sich irgendetwas an der Luft selbst nicht so an, wie es sollte.

Richard hatte keine Ahnung, wieso er plötzlich auf diesen Gedanken kam; er konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, was einen so sonderbaren Gedanken ausgelöst haben könnte. Das kleine Lesezimmer hatte keine Fenster, daher konnte er nicht sehen, wie das Wetter draußen war - ob der Himmel wolkenlos war, ob es windig war oder gar stürmisch. Er wusste nur eins: Es war mitten in der Nacht.

Unweit hinter ihm erhob sich Cara aus dem dick gepolsterten braunen Ledersessel, in dem sie ebenfalls gelesen hatte, und wartete, enthielt sich aber jeglichen Kommentars.

Richard hatte sie gebeten, einige Geschichtsbücher durchzuarbeiten, die er entdeckt hatte. Was immer sie über die alten Zeiten in Erfahrung brachten, in denen das Feuerketten-Buch verfasst worden war, konnte sich möglicherweise als hilfreich erweisen. Sie hatte über die Aufgabe nicht geklagt. Es kam ohnehin höchst selten vor, dass Cara sich über irgendetwas beklagte, solange es sie nicht davon abhielt, ihn zu beschützen. Und da sie mit ihm im selben Raum bleiben konnte, hatte sie nichts dagegen einzuwenden gehabt, die Bücher zu studieren, die er ihr in die Hand drückte. Eine der anderen Mord-Sith, Berdine, die Hoch-D’Haran entziffern konnte, hatte ihnen in der Vergangenheit schon mehrfach bei in dieser alten Sprache verfassten Passagen weiterhelfen können, wie man sie recht häufig in seltenen Schriften antraf, aber Berdine weilte weit entfernt im Palast des Volkes. Dennoch blieben Cara letztlich noch Unmengen von in ihrer eigenen Sprache verfasste Schriften, die sie durchsehen konnte. Cara beobachtete ihn, wie er seinen Blick suchend an den Holzgetäfelten Wänden entlangwandern ließ und dabei methodisch eine der dekorativen Sonderbarkeiten in den Regalen nach der anderen in Augenschein nahm: die Lackkästchen mit den Einlegearbeiten aus Silber, die kleinen, aus Bein geschnitzten Tänzerfiguren, die glatten, in mit Samt ausgekleideten Schachteln liegenden Steine und schmückenden Glasvasen.

Schließlich fragte sie: »Lord Rahl, ist irgendetwas nicht in Ordnung?«

Richard sah über seine Schulter. »Allerdings. Irgendetwas stimmt mit der Luft nicht.«

Als er den Ausdruck angespannter Besorgnis in ihrem Gesicht bemerkte, wurde ihm klar, dass seine Bemerkung einigermaßen absurd geklungen haben musste.

Doch so absurd sie auch geklungen haben mochte, für Cara zählte eigentlich nur eins: Er war der Meinung, dass irgendwoher Arger drohe, und Ärger bedeutete womöglich Gefahr. Ihr Lederanzug knarzte, als sie ihren Strafer in die Hand schnellen ließ. Die Waffe einsatzbereit in der Hand, ließ sie den Blick suchend durch den kleinen Raum wandern und lotete die Schatten aus, als könnte jeden Moment ein Geist aus der Vertäfelung hervorbrechen. Die Sorgenfalten auf ihrer Stirn furchten sich noch tiefer. »Was meint Ihr, ist es die Bestie?«

Die Möglichkeit hatte Richard noch gar nicht in Betracht gezogen. Die Bestie, die Jagang von den von ihm gefangen genommenen Schwestern hatte herbeizaubern und Jagd auf ihn machen lassen, war stets eine mögliche Gefahr. Schon mehrfach in der Vergangenheit war sie scheinbar völlig unvermittelt aus dem Nichts heraus aufgetaucht.

Aber sosehr er sich bemühte, er konnte einfach nicht genau beschreiben, was sich nach seinem Empfinden falsch anfühlte. Er konnte einfach nicht den Finger auf die Ursache des Gefühls legen, und doch schien es ihm, als müsste es etwas sein, an das er sich erinnern, das er kennen, vielleicht sogar wieder erkennen sollte. Er war unsicher, ob dieses Gefühl real war oder nur in seiner Einbildung existierte.

Er schüttelte den Kopf. »Nein ... ich glaube nicht, dass es die Bestie ist. Es muss irgendeine andere Ursache haben.«

»Lord Rahl, Ihr seid jetzt schon den größten Teil der Nacht wach und habt gelesen. Vielleicht seid Ihr ja einfach übermüdet.«

Es kam mitunter tatsächlich vor, dass er, wenn er gerade einzudämmern begann, schlagartig und noch ganz benommen und orientierungslos von dem immer rascheren Absinken in die dunkle Macht von Albträumen, an die er sich im Wachzustand niemals zu erinnern vermochte, aus dem Schlummer hochfuhr. Diesmal aber war die Empfindung anders; diesmal war es kein aus der Dumpfheit des Hinübergleitens in den Schlaf geborenes Gefühl. Zumal er trotz seiner Müdigkeit gar nicht im Begriff gewesen war einzunicken. Er war viel zu unruhig und besorgt, um zu schlafen.

Erst am Vortag war es ihm endlich gelungen, die anderen davon zu überzeugen, dass Kahlan real war, dass sie tatsächlich existierte und nicht etwa ein Produkt seiner Phantasie oder eine durch seine Verletzung hervorgerufene Wahnvorstellung war. Immerhin wussten jetzt alle, dass Kahlan nicht irgendein verrückter Traum seinerseits war. Jetzt, da er endlich Hilfe hatte, ließ ihn das dringende Bedürfnis, sie zu finden, nicht mehr ruhen und hielt ihn hellwach. Der Gedanke, eine Pause einzulegen und sich auszuruhen, war ihm unerträglich nicht jetzt, da er endlich die ersten Stücke dieses Verwirrspiels in Händen hielt.

Bei ihrem Verhör mit Tovi, kurz vor deren Tod ganz in der Nähe des Palasts des Volkes, hatte Nicci in allen schauderhaften Einzelheiten erfahren, wie die vier Schwestern - Ulicia, Cecilia, Armina und Tovi - eine Feuerkettenreaktion ausgelöst hatten. Mithilfe einer Entfesselung von Kräften, die jahrtausendelang in einer alten Schrift unter Verschluss gehalten worden waren, war Kahlan schlagartig aus der Erinnerung aller - mit Ausnahme Richards - gelöscht worden. Irgendwie hatte sein Schwert seinen Verstand davor bewahrt, sodass er zwar noch seine Erinnerung an Kahlan besaß, sein Schwert dagegen bei dem Versuch, sie wieder zu finden, eingebüßt hatte. Ursprünglich ging die Theorie der Feuerketten-Reaktion auf einige Zauberer aus grauer Vorzeit zurück. Diese Männer hatten damals nach einer Methode gesucht, die es ihnen erlaubte, ungesehen, unbehelligt und ohne dass sich jemand ihrer erinnerte, durch feindliche Linien zu schlüpfen. Sie gingen davon aus, es müsse eine Methode geben, das menschliche Gedächtnis mittels subtraktiver Magie so zu beeinflussen, dass in der Folge alle nicht miteinander verknüpften Teile des Erinnerungsvermögens einer Person sich spontan rekonstruierten und miteinander verbanden, wodurch augenblicklich eine falsche Erinnerung geschaffen wurde, die sämtliche bei der Löschung des Objekts des Zaubers aus dem Gedächtnis der Menschen entstandenen Leerstellen füllte. Die Zauberer, die diese Theorie entwickelt hatten, gelangten schließlich zu der Überzeugung, dass das Auslösen einer solchen Reaktion durchaus imstande sei, eine Flut von Ereignissen hervorzubringen, die weder vorhersehbar noch beherrschbar waren. Sie glaubten, sie würde über die Verbindungen zu anderen Menschen, deren Erinnerung ursprünglich gar nicht manipuliert worden war, etwa nach Art eines Flächenbrandes immer weiter um sich greifen. Letztendlich gelangten sie zu dem Schluss, dass eine Feuerkettenreaktion angesichts solch unberechenbarer, umfassender und verhängnisvoller Folgen das ganz reale Potenzial besaß, die Welt des Lebens selbst aufzulösen, weshalb sie sie nicht einmal auszuprobieren wagten.

Doch genau das hatten die vier Schwestern der Finsternis getan -bei Kahlan. Es war ihnen nicht nur völlig einerlei, wenn sie dadurch die Welt des Lebens auflösten, in Wirklichkeit war genau das ihr erklärtes Ziel!

Richard hatte also gar keine Zeit zu schlafen. Jetzt, nachdem er Nicci, Zedd, Cara, Nathan und Ann endlich davon überzeugt hatte, dass er nicht verrückt war und Kahlan wirklich - wenn auch nicht in ihrer Erinnerung - existierte, waren sie entschlossen, ihm zu helfen. Und auf diese Hilfe war er dringend angewiesen. Er musste Kahlan unbedingt wieder finden, sie war sein Leben, durch sie wurde er erst zu einer vollständigen Person. Sie bedeutete ihm alles. Vom Augenblick ihrer ersten Begegnung an hatte ihre einzigartige Klugheit ihn für sie eingenommen. Die Erinnerung an ihre grünen Augen, ihr Lächeln, ihre Berührung verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. Jeder wache Augenblick kam dem leibhaftigen Albtraum gleich, mehr für sie tun zu sollen.

Während sich sonst niemand an Kahlan zu erinnern vermochte, hatte er das Gefühl, an nichts anderes denken zu können. Sie schien ihm geradezu die einzige Verbindung zur Welt zu sein, und nicht selten beschlich ihn das unheimliche Gefühl, sie könnte, wenn er jemals aufhörte, sich ihrer zu erinnern und an sie zu denken, tatsächlich zu existieren aufhören ... für immer.

Gleichzeitig war er sich bewusst, dass er, wenn er überhaupt etwas erreichen und er sie jemals wieder finden wollte, die Gedanken an sie verdrängen und sich auf die nahe liegenden Dinge konzentrieren musste.

Er wandte sich an Cara. »Spürt Ihr nichts Merkwürdiges?«

Sie musterte ihn erstaunt. »Wir befinden uns in der Burg der Zauberer, Lord Rahl. Wer würde sich da nicht merkwürdig fühlen? An diesem Ort überläuft es mich eiskalt.«

»Ist es schlimmer als sonst?«

Sie seufzte schwer und strich mit der Hand über ihren langen, über der Vorderseite ihrer Schulter liegenden Zopf.

»Das nicht.«

Richard schnappte sich eine Laterne. »Dann kommt.«

Entschlossen verließ er den kleinen Raum und trat auf den langen Flur hinaus, der mit einer Fülle von Teppichen ausgelegt war, so als wären zu viele davon verfügbar gewesen und dieser Flur der einzige Ort, den man für ihre Unterbringung hatte finden können. Meist handelte es sich um klassische Muster in gedämpften Farben, ab und an jedoch lugten ein paar unter den anderen hervor, die in hellen Orange- und Gelbtönen gehalten waren.

Die Teppiche dämpften das Geräusch seiner Stiefel, als er an offen stehenden, in dunkle Räume führende Flügeltüren zu beiden Seiten vorbeimarschierte. Dank ihrer langen Beine hatte Cara keine Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Richard wusste, ein Teil dieser Räume enthielt Bibliotheken, andere dagegen waren verschwenderisch gestaltete Vorzimmer, deren einziger Zweck darin zu bestehen schien, in andere Räume zu führen, durch die man in wieder andere, manchmal schmucklose, dann wieder reich verzierte Gemächer gelangte, allesamt Teile des undurchschaubaren und verworrenen Labyrinths, welches die Burg der Zauberer darstellte. An einer Kreuzung bog Richard rechts ab in einen Flur, dessen Wände dick in spiralförmigen Mustern verputzt waren, über die Jahrhunderte zu einem warmen goldenen Braunton nachgedunkelt. Zu guter Letzt gelangten sie an eine Treppe. Eine Hand um den Endpfosten aus poliertem weißem Marmor gelegt, begann Richard die Stufen hinabzusteigen. Ein flüchtiger Blick nach oben zeigte, dass sie, um einen quadratischen Treppenschacht angeordnet, sich im Dunkel der höher gelegenen Gefilde der Burg verlor.

»Wohin gehen wir eigentlich?«, wollte Cara wissen.

Die Frage versetzte Richard in mildes Erstaunen. »Das weiß ich nicht.«

Cara schickte einen missmutigen Blick in seine Richtung. »Ihr dachtet einfach, durchsuchen wir mal eben ein Gebäude mit Tausenden und Abertausenden von Räumen, ein Gebäude, groß wie ein Berg und teilweise hineingebaut in diesen, bis Ihr durch irgendeinen Zufall auf irgendetwas stoßt?«

»Mit der Luft hier stimmt wie gesagt etwas nicht, und diesem Gefühl gehe ich eben nach.«

»Ihr verfolgt also Luft«, sagte Cara mit spöttisch-ausdruckslosem Ton. Sofort flammte ihr Argwohn wieder auf. »Ihr habt doch nicht etwa die Absicht, Magie anzuwenden, oder?«

»Cara, Ihr wisst so gut wie jeder andere, dass ich nicht weiß, wie ich meine Gabe nutzen kann. Ich könnte nicht einmal dann Magie heraufbeschwören, wenn ich es wollte.«

Und er wollte es ganz bestimmt nicht.

Würde er sich seiner Gabe bedienen, wäre es für die Bestie einfacher, ihn zu finden, weshalb die stets auf seine Sicherheit bedachte Cara sich sorgte, er könnte aus Unbedachtheit etwas tun, das die auf Geheiß Kaiser Jagangs erschaffene Bestie auf den Plan rief.

Richard richtete sein Augenmerk wieder auf das anstehende Problem und versuchte festzustellen, was genau ihm an der Luft so merkwürdig erschien. Er bemühte sich, exakt zu analysieren, was er spürte, und gelangte zu dem Schluss, dass sie ein wenig an die Luft während eines Gewitters erinnerte. Sie besaß die gleiche, unverwechselbare Schärfe.

Nachdem sie mehrere Fluchten der weißen Marmortreppe hinabgestiegen waren, gelangten sie in einen schlichten, aus Steinquadern bestehenden Gang. Diesem folgten sie geradeaus über mehrere Kreuzungen hinweg und blieben schließlich stehen, als Richard eine dunkle Wendeltreppe aus Steinstufen mit einem Eisengeländer an der Seite hinabstarrte. Als er diese hinabzusteigen begann, folgte Cara ihm. Unten angelangt, passierten sie einen kurzen Durchgang mit einer fassartigen Gewölbedecke aus Eichenbohlen, ehe sie schließlich einen Raum betraten, der den Ausgangspunkt einer Reihe nabenförmig davon abgehender Flure bildete. Der kreisrunde Raum war an der Außenseite von Pfeilern aus grauem gesprenkeltem Granit gesäumt, die vergoldete, jeden der in die Dunkelheit hineinführenden Gänge überspannende Querbalken stützten.

Richard streckte die Laterne vor und versuchte mit zusammengekniffenen Augen in die dunklen Gänge hineinzuspähen. Obwohl ihm der kreisrunde Raum unbekannt war, begriff er, dass sie sich in einem Teil der Burg befanden, der irgendwie anders war - auf eine "Weise anders, die ihm Caras Bemerkung verständlich machte, der Ort bereite ihr eine Gänsehaut. Im Gegensatz zu den anderen führte einer der Gänge in steilem Winkel eine lange Rampe hinab, offenbar in tiefer gelegene Bereiche der Burg. Er fragte sich, warum sich ausgerechnet hier anstelle einer weiteren endlosen Treppenflucht eine Rampe befand.

»Hier entlang«, forderte er Cara auf und führte sie die Rampe hinab in die Dunkelheit.

Die Rampe schien endlos in die Tiefe zu führen, bis sie schließlich dann doch in einen gewaltigen Gang mündete, der, obwohl nicht mehr als zwölf Fuß breit, mindestens deren siebzig in der Höhe maß. Richard kam sich vor wie eine Ameise auf dem Grund eines langen schmalen, bis tief in den Erdboden reichenden Spalts. Linker Hand ragte eine natürliche, geradewegs aus dem Berg selbst gehauene Felswand auf, während die Wand zur Rechten aus gewaltigen Steinquadern zusammengesetzt war. Sie passierten eine Abfolge von Räumen in der aus Steinquadern bestehenden Wand und arbeiteten sich immer weiter in dem Gang voran, der eine Art endloser, mitten durch das Muttergestein führender Riss zu sein schien. Obwohl sie sich beharrlich weiter vorantasteten, war das Licht der Laterne nicht hell genug, als dass man ein Ende hätte erkennen können. Auf einmal dämmerte Richard, was er gespürt hatte. Die Luft fühlte sich an wie bisweilen in der unmittelbaren Umgebung von Personen, deren Gabe sehr stark ausgeprägt war. Er fühlte sich daran erinnert, wie die Luft in der unmittelbaren Umgebung seiner einstigen Lehrerinnen, Schwester Cecilia, Armina, Merissa und vor allem Nicci zu knistern schien. Manchmal war es ihm so vorgekommen, als könnte die Luft rings um sie her in Flammen aufgehen, so ungeheuerlich war die einzigartige Energie, die diese Frau verströmte. Allerdings hatte sich dieses Gefühl stets nur in unmittelbarer Nähe der betreffenden Person eingestellt und war nie ein allgemeines Phänomen gewesen.

Noch bevor er den Lichtschein sah, der aus einem der Räume in der Ferne drang, konnte er die Luft spüren, die ihm von dort entgegenschlug. Fast erwartete er, die Luft im gesamten Korridor werde zu flimmern beginnen.

Eine offen stehende gewaltige, Messingbeschlagene Flügeltür führte in einen Raum, der eine spärlich beleuchtete Bibliothek zu sein schien. Sofort war ihm klar, dass dies der Ort war, den er suchte. Richard trat durch die mit kunstvoll ziselierten Symbolen bedeckten Türflügel und erstarrte mitten in der Bewegung, einen Ausdruck des Staunens im Gesicht.

Durch ein Dutzend Rundbogenfenster rings um den höhlenartigen Raum drang ein flackerndes Zucken wie von Blitzen und beleuchtete Reihen und Aberreihen von Regalen. Die über zwei Stockwerke reichenden Fenster erstreckten sich über die gesamte Breite der rückwärtigen Wand. Dazwischen erhoben sich zwei Stockwerke hohe Säulen aus poliertem Mahagoni, an denen man schwere grüne Samtvorhänge befestigt hatte, deren Säume mit goldenen Fransen verziert waren. Die kleinen Glasquadrate, aus denen sich die Schwindel erregend hohen Fenster zusammensetzten, waren nicht durchsichtig, sondern von beachtlicher Stärke, und wiesen zahlreiche ringförmige Verunreinigungen auf, so als sei das Glas beim Gießen überaus dickflüssig gewesen. Wann immer das Blitzen aufflammte, schien auch das Glas aufzuleuchten. Rings um den Raum verteilte Reflektorlampen verliehen dem Ort einen weichen, warmen Glanz, der sich da und dort inmitten des wirren Durcheinanders von allenthalben aufgeschlagen herumliegenden Büchern in den polierten Tischplatten widerspiegelte.

Die Regale waren nicht das, was Richard zunächst vermutet hatte. Eine Reihe von ihnen diente tatsächlich der Unterbringung von Büchern, andere dagegen enthielten ein planloses Durcheinander unterschiedlichster Utensilien - von säuberlich gefaltetem glitzerndem Tuch über Eisenspiralen, grünen Glasflakons bis hin zu kompliziert aussehenden Konstruktionen aus Holzstäben sowie Stapeln von Pergamentrollen, alten Knochen und langen, gekrümmten Reißzähnen, die Richard weder erkannte, noch über die er auch nur vage Vermutungen hätte anstellen können. Als das Blitzen erneut aufloderte, erweckten die über alles im Raum, über Tische, Stühle, Säulen, Bücherregale und Lesetische zuckenden Schatten der Fensterpfosten den Anschein, als zerspringe der gesamte Raum in seine Bestandteile.

»Zedd - was in aller Welt tust du da?«

»Lord Rahl«, bemerkte Cara mit gedämpfter Stimme unmittelbar hinter seiner Schulter, »ich glaube, Euer Großvater hat den Verstand verloren.«

Zedd wandte sich herum und spähte kurz zu Richard und Cara herüber, die immer noch im Türrahmen standen. Im Schein der Lampen hatten die drahtigen Locken des alten Mannes, die ihm in allen Richtungen vom Kopf abstanden, einen blassen Orangeton, wohingegen sie strahlend weiß leuchteten, sobald das Blitzen aufflammte.

»Wir sind im Augenblick ziemlich beschäftigt, Junge.«

Mitten im Raum, ein kleines Stück über einem der massiven Tische, schwebte Nicci. Richard kniff die Augen zusammen, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich sah, was er zu sehen meinte. Niccis Füße befanden sich eindeutig eine volle Handbreit über der Tischplatte, während sie selbst vollkommen reglos mitten in der Luft verharrte.

So unglaublich und verstörend ein solcher Anblick sein mochte, er war nicht einmal das Schlimmste. Auf die Platte des Tisches war allem Anschein nach mit Blut - ein magisches Symbol gezeichnet, das unter der Bezeichnung Huldigung bekannt war.

Und über besagter Huldigung standen vollkommen reglose Linien in der Luft, die Nicci wie einen Vorhang umhüllten. Richard hatte bereits früher mehrere mit der Gabe Gesegnete Huldigungen zeichnen sehen, daher meinte er einigermaßen sicher zu wissen, was er vor sich hatte, aber noch nie hatte er etwas gesehen, was diesem frei schwebenden Labyrinth auch nur nahe gekommen wäre. Von vollendeter Komplexität, zusammengesetzt aus Linien leuchtend grünen Lichts, stand es gleich einer dreidimensionalen Bannform in der Luft.

Und mitten in diesem feinen geometrischen Geflecht schwebte bewegungslos wie eine Statue Nicci. Ihre überaus feinen Gesichtszüge schienen zu Stein erstarrt, eine Hand war leicht angehoben. Die Finger ihrer anderen, an ihrer Seite ruhenden Hand waren gespreizt. Ihre Füße waren nicht, wie beim Stehen, in waagerechter Stellung, sondern schienen zu schlenkern, so als befände sie sich mitten im Sprung. Ihr blondes, langes Haar stand ebenfalls leicht ab, so als hätte es sich mitten in besagtem Sprung, unmittelbar vor ihrer erneuten Landung, ein Stück weit von ihrem Kopf entfernt - und sie wäre, genau in diesem Augenblick, in Stein verwandelt worden.

Sie wirkte alles andere als lebendig.

Загрузка...