Shota richtete einen glutvollen Blick auf Richard. »Wir haben soeben gehört, was uns von diesen Soldaten blüht, wenn du ihnen nicht Einhalt gebietest. Glaubst du immer noch, sie haben rationale Vorstellungen von der Bedeutung ihres Lebens? Oder sie könnten sich, wenn sie nur die Chance erhielten, einem Aufstand gegen die Imperiale Ordnung anschließen? Wohl kaum. Ich bin hergekommen, um dir zu zeigen, was vielen bereits widerfahren ist, damit du begreifst, was mit all den anderen geschehen wird, wenn du nichts tust, um es zu verhindern. Ein umfassendes Verständnis, wodurch diese Leute zu Soldaten der Imperialen Ordnung geworden sind, welche Entscheidungen sie im Leben getroffen haben, die letztendlich dazu führten, dass sie wie Wüstlinge in das Leben anderer eingefallen sind, oder was sie zu diesen Entscheidungen bewogen hat, muss uns dabei gar nicht interessieren. Sie sind, was sie sind: Menschen, die zerstören und töten. Und sie sind hier. Im Augenblick ist das alles, was zählt. Es gilt, ihnen Einhalt zu gebieten. Wenn sie erst tot sind, werden sie auch keine Gefahr mehr sein. So einfach ist das.«
Richard fragte sich, wie in aller Welt sie von ihm erwartete, etwas so »Einfaches« zu vollbringen. Ebenso gut könnte sie von ihm verlangen, den Mond vom Himmel zu holen und mit seiner Hilfe die Armee der Imperialen Ordnung zu vernichten.
Als hätte sie seine Gedanken erraten, ergriff Nicci abermals das Wort. »Gut möglich, dass wir alle mit Euch einer Meinung sind -und zwar in allem, was Ihr zu berichten hergekommen seid -, allerdings hättet Ihr uns eigentlich gar nicht erklären müssen, was wir längst wissen, so als wären wir kleine Kinder und Ihr im alleinigen Besitz der Wahrheit. Nur begreift Ihr eben nicht, was Ihr da von uns verlangt. Die Armee, die Jebra gesehen hat, die Armee, die nach Galea einmarschierte, mühelos seine Verteidigungsanlagen überrannte und so viele Menschen tötete, ist nur eine kleinere, eher unbedeutende Unterabteilung der Imperialen Ordnung.«
»Das kann nicht Euer Ernst sein«, sagte Jebra ungläubig. Endlich löste Nicci ihren durchdringenden Blick von Shota und sah Jebra an. »Habt Ihr irgendwelche mit der Gabe Gesegneten bemerkt?«
»Mit der Gabe Gesegnete? Nein, ich schätze nicht«, sagte sie nach einem Augenblick des Nachdenkens.
»Nun, der Grund dafür ist, sie wollen nicht zugeben, dass sie ihre eigenen mit der Gabe Gesegneten haben, über die sie gebieten«, erklärte Nicci. »Hätten sie mit der Gabe Gesegnete in ihren Reihen gehabt, hätte Shota nicht so ohne weiteres dort eindringen und Euch von dort fortbringen können. Aber das war nicht der Fall. Es handelt sich um eine vergleichsweise kleine Unterabteilung, die für sich genommen als entbehrlich gilt.
Deswegen brauchte der Nachschub auch so lange, um zu ihnen zu gelangen. Sämtliche Lieferungen gingen erst nach Norden, zu Jagangs Hauptstreitmacht. Erst nachdem man sich dort mit allem Nötigen versorgt hatte, ließ man die Vorräte auch zu anderen Einheiten weitertransportieren, etwa zu jener oben in Galea. Es ist nur ein Trupp der Expeditionsstreitkräfte Jagangs.«
»Aber Ihr versteht nicht.« Jebra sprang auf. »Es war eine riesige Armee. Ich war dort, ich habe sie doch mit eigenen Augen gesehen.«
Nervös die Hände ringend, ließ sie ihren Blick über alle Anwesenden schweifen. »Ich war dort, ich habe monatelang für sie gearbeitet. Ich habe gesehen, wie gewaltig ihre Zahl war. Wie hätte ich das Ausmaß dieser Streitmacht nicht erfassen können? Ich habe euch doch von all den Dingen berichtet, die sie getan haben.«
Nicci, unbeeindruckt, schüttelte den Kopf. »Sie waren ein Nichts.«
Jebra fuhr sich mit der Zunge über die Lippen; Verzweiflung bemächtigte sich ihrer Züge. »Mag sein, dass ich mir vielleicht nicht die nötige Mühe gegeben habe, es angemessen zu beschreiben, dass ich nicht wirklich deutlich gemacht habe, mit welch ungeheuren Soldatenmassen die Imperiale Ordnung in Galea eingefallen ist. Es tut mir leid, falls es mir nicht gelungen sein sollte, Euch begreiflich zu machen, mit welcher Mühelosigkeit sie diese zu allem entschlossenen Verteidiger überrannt haben.«
»Ihr habt es keineswegs an der nötigen Sorgfalt fehlen lassen und Eure Beobachtungen präzise wiedergegeben«, erklärte Nicci in milderem Ton und drückte ihr zur Versicherung ihres Mitgefühls die Schulter. »Aber Ihr habt eben nur einen Ausschnitt des Gesamtbildes gesehen. Der Teil, den Ihr gesehen habt, so beängstigend er zweifellos war, war unbedeutend, verglichen mit dem Rest. Was Ihr gesehen habt, könnte Euch nicht einmal ansatzweise auf den Anblick der von Kaiser Jagang geführten Streitmacht vorbereiten. Ich war lange Zeit in Jagangs Hauptlager, ich weiß, wovon ich spreche. Verglichen mit der Hauptstreitmacht kann man die Abteilung, die Ihr gesehen habt, kaum als eindrucksvoll bezeichnen.«
»Sie hat leider recht«, bestätigte Zedd mit einem Unterton von Bitterkeit in der Stimme. »Ich gebe es nur äußerst ungern zu, aber sie hat recht.«
»Nun, wie auch immer. Wenn die Ordenstruppen in Galea über keine mit der Gabe Gesegneten verfügen«, fuhr Jebra unbeirrt fort,
»könntet Ihr doch, falls sich einige mit der Gabe Gesegnete dorthin begeben sollten, diese vielleicht ausschalten und die armen Überlebenden retten, die schon so viel durchgemacht haben. Noch ist es nicht zu spät, wenigstens ein paar von ihnen zu retten.«
Was sie nach Richards Ansicht tatsächlich fragen wollte, aber Angst hatte, offen auszusprechen, war, warum einige der hier Anwesenden nichts unternommen hatten, um das Blutbad zu verhindern, dessen Zeugin sie geworden war, wenn es sich doch nur um eine unbedeutende Streitmacht ohne mit der Gabe Gesegnete in ihren Reihen handelte. Damals, bevor er die Wälder Kernlands verlassen hatte, hätte er vielleicht ein ebenso vages Gefühl von Unmut und Verärgerung über jeden verspürt, der nichts zur Rettung dieser Menschen unternommen hatte, jetzt dagegen quälte es ihn zu wissen, wie viel mehr dahintersteckte.
Nicci tat den Gedanken mit einem Kopfschütteln ab. »Es ist nicht so leicht, wie es vielleicht den Anschein hat. Die mit der Gabe Gesegneten mögen imstande sein, dem Feind große Verluste beizubringen und vorübergehend Verheerungen anzurichten, aber selbst diese Expeditionsstreitmacht ist zahlenmäßig stark genug, einem Angriff der mit der Gabe Gesegneten standzuhalten. Zedd, zum Beispiel, könnte sein Zaubererfeuer einsetzen, um die Soldaten reihenweise niederzumähen, doch sobald er auch nur kurz innehält, um seinen Zauber zu erneuern, würde der Feind eine Angriffswelle nach der anderen gegen ihn schicken. Vielleicht würde er dabei eine Menge Soldaten verlieren, aber diese Ungeheuer lassen sich von Schwindel erregenden Verlusten nicht abschrecken; sie würden unbeirrt weiter angreifen und Angriffsreihe auf Angriffsreihe in die Feuerwalze schicken. Ungeachtet ihrer Verluste würden sie in Kürze selbst einen so fähigen Mann wie den Obersten Zauberer überwältigen. Und wo würden wir dann stehen?
Bereits etwas so Simples wie ein Trupp Bogenschützen wäre in der Lage, einen mit der Gabe Gesegneten auszuschalten.« Sie sah zu Richard. »Alles, was man dazu benötigte, wäre ein Pfeil, der sein Ziel trifft, und schon stirbt ein mit der Gabe Gesegneter genau wie jeder andere.«
Zedd breitete in einer verzweifelten Geste die Hände aus. »Ich fürchte, Nicci hat recht. Am Ende würde die Imperiale Ordnung genauso dastehen wie zuvor, wenn auch mit ein paar Soldaten weniger. Wir dagegen hätten die mit der Gabe Gesegneten verloren, die wir gegen sie aufgeboten haben. Sie haben nahezu unerschöpfliche Reserven zur Verfügung, um ihre Truppen wieder aufzufüllen, uns dagegen würden keine Legionen von mit der Gabe Gesegneten zu Hilfe eilen. So hartherzig es scheinen mag, unsere Chance liegt nicht darin, unser Leben in einer sinnlosen Feldschlacht aufzuopfern, von der wir wissen, dass sie keine Aussicht auf Erfolg hat, vielmehr müssen wir uns etwas einfallen lassen, was eine echte Chance auf Erfolg verspricht.«
Nur zu gerne hätte Richard geglaubt, dass es eine Lösung gab, irgendeinen Plan, der echte Erfolgsaussichten bot. Tatsächlich jedoch war er überzeugt, dass sie wenig mehr tun konnten, als das Ende hinauszuzögern.
Jebra, deren Hoffnungsschimmer erloschen war, nickte. Die tiefen Furchen, wie auch das feine Geflecht aus Fältchen in den Winkeln ihrer blauen Augen, verliehen ihrem Gesicht einen müden, abgespannten Ausdruck und ließen sie älter aussehen, als sie nach Richards Einschätzung war. Ihre Schultern waren leicht gebeugt und ihre Hände von der harten Arbeit rau und schwielig. Die Soldaten der Imperialen Ordnung hatten sie zwar nicht umgebracht, aber all ihres Lebenswillens beraubt und sie durch das, was sie hatte durchmachen und mit ansehen müssen, für alle Zeit gezeichnet. Wie viele andere mochte es geben, die wie sie zwar noch lebten, aber durch die brutalen Methoden der Besatzungstruppen für immer zugrunde gerichtet waren - leere Hüllen ihres früheren Selbst, nach außen hin scheinbar lebendig, innerlich jedoch längst tot. Ein Schwindelgefühl überkam Richard. Er konnte kaum glauben, dass die Hexe Jebra diesen weiten Weg hierher gemacht hatte, um ihn davon zu überzeugen, wie grauenhaft die Imperiale Ordnung tatsächlich war. Das wahre Ausmaß ihrer Brutalität, das Wesen ihrer Gefährlichkeit war ihm längst bekannt. Immerhin hatte er fast ein volles Jahr in der Alten Welt unter der Tyrannei der Imperialen Ordnung gelebt und war dabei gewesen, als der Aufstand in Altur’Rang seinen Anfang genommen hatte.
Daher konnte Jebras Augenzeugenbericht ihm, wenn überhaupt, nur die Bestätigung dessen liefern, was er längst wusste - dass sie keinerlei Chance gegen Jagang und die Streitkräfte der Imperialen Ordnung hatten. Das D’Haranische Reich als Ganzes wäre unter Umständen imstande gewesen, jene Unterabteilung aufzuhalten, die über Galea hereingebrochen war; die jedoch war ein Nichts verglichen mit deren Hauptstreitmacht.
Selbst wenn es ihm gelänge, den ihm so verhassten Jagang auszuschalten, würde dies der Bedrohung durch die Imperiale Ordnung kein Ende machen - deren Ziele waren wie aus einem Guss, ideologisch starr und nicht befeuert vom Ehrgeiz eines einzelnen Individuums. Genau das machte alles ja so hoffnungslos. Shotas Vision - was sie im Strom der Zeit als hoffnungslose Zukunft der Welt vorhergesehen hatte, wenn es ihnen nicht gelang, der Imperialen Ordnung Einhalt zu gebieten - schien in Richards Augen kein besonderes Talent oder einen besonderen Scharfblick zu erfordern. Er musste kein Prophet sein, um zu erkennen, welch grässliche Gefahr die Imperiale Ordnung darstellte. Wenn man ihr nicht Einhalt gebot, würde sie die Welt beherrschen. In dieser Hinsicht hatte Jebra ihm nichts Neues erzählt, nichts, was er nicht schon wusste.
Andererseits war Shota alles andere als dumm, folglich wusste sie das alles, und sie musste auch wissen, dass er es wusste. Warum also, fragte er sich, war sie in Wirklichkeit gekommen? Was immer er nach Shotas Ansicht auch tun sollte, sagte sich Richard dann im Stillen, er durfte niemals außer Acht lassen, dass es außer Kahlans Verschwinden im Sog des Feuerkettenbanns auch noch andere verhängnisvolle Gefahren gab - die Kästchen der Ordnung, zum Beispiel, die ins Spiel gebracht worden waren, oder auch die von den Chimären hinterlassenen Schäden. Er konnte nicht einfach alles andere ignorieren, nur weil die Hexe unverhofft daherspaziert kam und ihm erklärte, was er ihrer Meinung nach tun sollte. Ja, es war sogar denkbar, dass Shotas eigentliches Ziel irgendeine verschlungene Intrige war, irgendein verborgener Plan, in den auch diese andere Hexe, Sechs, verstrickt war.
Dessen ungeachtet empfand er, wie damals Kahlan, mittlerweile großen Respekt für sie, auch wenn er ihr noch immer nicht ganz über den Weg traute. Obwohl es oft so aussah, als stifte sie nichts als Ärger, wollte sie ihm offenkundig nicht unbedingt absichtlich Kummer bereiten; manchmal stand dahinter einfach der Wille, ihm zu helfen, dann wieder war sie einfach nur die Überbringerin der Wahrheit. Und obwohl sie mit den Dingen, die sie ihm enthüllte, stets richtig lag, erwiesen sie sich jedes Mal auf eine von Shota nicht vorhergesagte Weise als korrekt - oder doch zumindest auf eine Weise, die sie ihm nicht enthüllt hatte. Wie Zedd es auszudrücken beliebte: Eine Hexe erklärte einem nie, was man wissen wollte, ohne nicht gleichzeitig etwas hinzuzufügen, was man nicht wissen wollte. Und so lauerte in einem verborgenen Winkel seines Verstandes noch immer Shotas Weissagung, Kahlan werde, sollten sie jemals heiraten, ein Kind zur Welt bringen, das sich als Ungeheuer entpuppen würde. Er und Kahlan waren getraut worden; gewiss würde auch diese Weissagung sich nicht auf die von Shota geäußerte Weise bewahrheiten. Kahlan würde gewiss kein Ungeheuer zur Welt bringen.
Zedd war es schließlich, der das Wort ergriff und Richard damit aus seinen Gedanken riss.
»Was ist eigentlich aus Königin Cyrilla geworden?«
Einen Augenblick lang wurde es totenstill im Raum, bis Jebra schließlich antwortete. »Es geschah genau wie in meiner Vision. Sie wurde den gemeinsten der gemeinen Soldaten überlassen, die mit ihr machen durften, was immer sie wollten. Sie konnten es kaum erwarten, über ihre Belohnung herzufallen. Es lief überaus schlecht für sie; ihre schlimmsten Albträume wurden wahr.«
Zedd, der offenbar der Ansicht war, dass mehr hinter der Geschichte stecken müsse, neigte fragend den Kopf zur Seite. »Da habt Ihr sie also zum letzten Mal gesehen?«
Jebra verschränkte die Hände. »Nicht ganz. Eines Tages, ich war gerade unterwegs, um eine Platte mit frisch geschmortem Rindfleisch auszuliefern, begegnete ich einer Gruppe heiser grölender Männer, die ein Spiel spielten, dem die Truppen der Imperialen Ordnung mit großem Vergnügen beiwohnten. Zwei Mannschaften wurden unter großem Gejohle von der versammelten Truppe angefeuert, alles setzte darauf, wer von den beiden Mannschaften gewinnen würde. Wie das Spiel hieß, weiß ich nicht...«
»Ja’La«, sagte Nicci. Als Jebra sich umwandte, um sie anzusehen, wiederholte Nicci: »Das Spiel wird Ja’La genannt. Theoretisch handelt es sich um ein Strategiespiel, das großes athletisches Können und Geschick erfordert; tatsächlich aber ist Ja’La mit den Regeln, wie es im Orden gespielt wird, all das und noch dazu überaus brutal. Ja’La ist Jagangs Lieblingssport; er besitzt selbst eine eigene Mannschaft. Ich erinnere mich, dass die gesamte Mannschaft, nachdem sie ein Spiel verloren hatte, hingerichtet wurde. Nur wenig später besaß der Kaiser eine neue Mannschaft aus den Geschicktesten, härtesten und körperlich auffälligsten Spielern, die man hatte auftreiben können. Sie verloren nie wieder. Mit vollem Namen heißt das Spiel Ja’La dh Jin, was in Kaiser Jagangs Muttersprache so viel wie ›Spiel des Lebens‹ bedeutet.«
Jebra runzelte die Stirn, als ihre Erinnerung wiederkehrte. »Ja, schätze, ich erinnere mich, dass es Ja’La genannt wurde. Es wird mit einem schweren Ball gespielt, einem Ball, so schwer, dass sich die Spieler manchmal sogar die Beine daran brachen.«
»Der Ball wird Broc genannt«, sagte Richard, ohne sich herumzudrehen.
Nicci sah kurz in seine Richtung. »Richtig.«
»An diesem speziellen Tag nun«, nahm Jebra ihre Geschichte wieder auf, »als ich den Kommandeuren die Platte mit Fleischspeisen brachte, musste ich zu dem Platz, auf dem das Spiel ausgetragen wurde. Tausende von Soldaten hatten sich bereits dort versammelt, um zuzuschauen. Ich wurde zu einer kleinen Tribüne für die Befehlshaber geschickt und musste mir einen Weg durch die johlenden Männerhorden bahnen. Es war Furcht einflößend. Die Männer sahen den eisernen Ring der Sklaven in meiner Lippe, daher traute sich niemand, mich zu seinem Zelt fortzuschleifen, was sie aber nicht daran hinderte, mich unablässig zu betatschen.« Jebras Blick suchte den Boden. »Das hab ich oft genug über mich ergehen lassen müssen.«
Schließlich sah sie wieder auf. »Als ich bei den Befehlshabern ganz unten am Spielfeldrand eintraf, sah ich, dass die Spieler, die gerade ein neues Spiel begannen, nicht den Ball benutzten, der üblicherweise verwendet wurde.« Sie räusperte sich. »Als Ball benutzten sie den Kopf von Königin Cyrilla.«
Jebra bemühte sich, die beklemmende Stille auszufüllen. »Wie auch immer, das Leben in Galea hatte sich für immer verändert. Einst ein blühendes Handelszentrum, ist es jetzt wenig mehr als ein riesiges Armeefeldlager, aus dem fortwährend Feldzüge gegen die noch unbesetzten Gebiete der Neuen Welt entsandt werden. Die Farmen draußen auf dem Land, bewirtschaftet durch Zwangsarbeit, erzielen nicht mehr die gewohnten Erträge. Ernten bleiben aus oder sind überaus kümmerlich. Die gewaltigen Massen der bewaffneten in Galea stationierten Streitkräfte haben einen enormen Bedarf. Es herrscht eine immerwährende Knappheit an Lebensmitteln, gleichwohl ermöglichen es die regelmäßig aus der Alten Welt eintreffenden Vorräte, die Soldaten zumindest so weit zu ernähren, dass sie weitermachen können.
Ich schuftete Tag und Nacht, um den Bedürfnissen der Befehlshaber der Imperialen Ordnung gerecht zu werden. Nach der einen, die Königin Cyrilla betraf, hatte ich nie wieder eine Vision. Es war seltsam für mich, ohne meine Visionen zu leben, denn mein ganzes Leben lang hatte ich sie gehabt. Auch meine Gabe als Seherin schien erloschen. Mein seherischer Blick war blind geworden.«
Ein kurzer Seitenblick von Nicci verriet Richard, dass sie seine Gedanken ahnte.
»Eines Tages«, fuhr Jebra fort, »wurde ich mitten aus diesen Soldaten herausgeholt. Shota war es, die es irgendwie schaffte, mich von dort fortzubringen. Ich bin nicht ganz sicher, wie es dazu kam, ich erinnere mich nur, dass sie plötzlich neben mir stand. Ich wollte gerade zu einer Bemerkung ansetzen, als sie sagte, ich solle meinen Mund halten und einfach losgehen. Einmal, erinnere ich mich, habe ich mich umgesehen, aber da lag die gewaltige Armee, die sich durch das gesamte Tal bis in die Hügel erstreckte, bereits weit hinter uns. Ich weiß wirklich nicht, wie es dazu kam, dass wir plötzlich so weit weg waren.« Die Stirn gerunzelt, schien ihr Blick auf ihre verschwommenen Erinnerungen gerichtet. »Wir gingen einfach weiter, und jetzt bin ich hier. Da sich mein seherischer Blick verdunkelt hat, werde ich euch, fürchte ich, allerdings keine Hilfe mehr sein können.«
Richard fand, dass sie ein Recht darauf hatte, die Wahrheit zu erfahren, also sagte er sie ihr. »Euer seherischer Blick ist wahrscheinlich deswegen erblindet, weil die Chimären vor ein paar Jahren eine Zeit lang in dieser Welt weilten. Sie wurden wieder in die Unterwelt verbannt, aber da war der Schaden bereits entstanden. Meiner Meinung nach hat die Auflösung der Magie mit der Anwesenheit der Chimären in der Welt des Lebens eingesetzt; wodurch auch Eure Fähigkeit zerstört worden sein muss. Vermutlich ist Eure seherische Gabe verloren, oder aber sie wird, sollte sie vorübergehend oder teilweise noch einmal zurückkehren, nach und nach ganz erlöschen.«
Die Nachricht schien eine lähmende Wirkung auf Jebra zu haben.
»Mein ganzes Leben habe ich mir gewünscht, ich wäre nie mit dem Blick einer Seherin geboren worden. In mancher Hinsicht hat er mich zur Ausgestoßenen gemacht. Oft weinte ich nachts und wünschte mir, ich würde von meinen Visionen erlöst und sie würden mich endlich in Ruhe lassen.
Aber jetzt, da Ihr mir sagt, mein Wunsch sei in Erfüllung gegangen, glaube ich, es war mir nie wirklich ernst damit.«
»So ist das nun mal mit Wünschen«, meinte Zedd mit einem Seufzen. »Mitunter neigen sie dazu...«
»Die Chimären?«, fiel ihm Shota ins Wort. Sowohl ihr Tonfall als auch ihr Stirnrunzeln verrieten Richard, dass sie wenig Interesse daran hatte, sich irgendetwas über Wünsche anzuhören. »Wenn das stimmt, wieso gab es dann nie einen anderen Beweis dafür?«
»Gab es ja«, sagte Richard achselzuckend. »Während der letzten paar Jahre sind keine Geschöpfe der Magie, wie zum Beispiel Drachen, mehr gesichtet worden.«
»Drachen?« Shota wickelte eine lange, verdrehte Locke um ihren Finger, während sie ihn einen Augenblick lang wortlos musterte. »Es kommt vor, dass Menschen ihr ganzes Leben lang keinen einzigen Drachen zu Gesicht bekommen, Richard.«
»Und was ist mit dem Erblinden von Jebras seherischer Gabe? Ihre Visionen haben unmittelbar nach dem Aufenthalt der Chimären in der Welt ausgesetzt. Wie andere magische Dinge auch, ist ihr einzigartiges Talent im Begriff zu erlöschen, und in den meisten anderen Fällen, da bin ich mir sicher, sind wir uns dessen nicht einmal bewusst.«
»Ich mir schon.«
»Nicht unbedingt.« Richard strich sich das Haar aus der Stirn. »Das Problem ist, dass die Feuerkette - von der ich zum ersten Mal von Euch hörte - ein Bann ist, der von den vier Schwestern der Finsternis ausgelöst worden ist, um Kahlan aus dem Gedächtnis aller zu löschen. Dieser Bann wurde von den Chimären verunreinigt, sodass die Menschen außer Kahlan auch noch andere Dinge vergessen, wie zum Beispiel die Tatsache, dass es Drachen gibt.«
Shota schien alles andere als überzeugt. »Ich wäre mir dieser Dinge aufgrund ihrer Vorwärtsbewegung im Strom der Zeit trotzdem bewusst.«
»Und was ist mit dieser anderen Hexe, Sechs? Ich dachte, Ihr hättet gesagt, sie sei im Begriff, Eure Fähigkeit, die Dinge im Strom der Zeit zu erkennen, zu verhüllen.«
Seine Frage ignorierend, zog Shota ihren Finger aus der Strähne ihres kastanienbraunen Haars. Dann verschränkte sie die Arme, ohne ihre mandelförmigen Augen von ihm zu nehmen.
»Wenn sich die Imperiale Ordnung wie ein dunkler Schatten über die Menschheit legt, dürfte das alles wohl kaum noch eine Rolle spielen, oder? Sie werden jedweder Magie - und ebenso aller Hoffnung - ein Ende bereiten.«
Richard enthielt sich einer Antwort. Stattdessen wandte er sich den stillen Wassern zu und hing seinen düsteren Gedanken nach. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, wies Shota mit einer Handbewegung Richtung Treppe und sagte leise zu Jebra: »Geht hinauf und unterhaltet Euch mit Zedd. Ich muss mit Richard sprechen.«