Das verwirrende Murmeln von Stimmen sowohl aus der Nähe als auch der Ferne drang nur langsam und nach und nach zu Kahlan vor. In ihrer Benommenheit war sie sich jedoch ungewiss, ob es wirklich da war oder ob sie es sich nur einbildete. Einige der Gedanken, die endlos in ihrem Kopf kreisten, mussten Einbildung sein, gleichgültig, wie real sie wirkten. Ganz bestimmt lag sie nicht im einen Augenblick auf einer Blumenwiese zwischen Sternen und stand im nächsten in einer offenen Feldschlacht mit vertrockneten Soldatenleichen auf ausgemergelten Pferden, um dann im Folgenden auf einem roten Drachen durch die Wolken zu fliegen. Alles erschien wirklich, aber nein, das konnte nicht sein.
Letztlich gab es keine Drachen. Das waren nur Fabelwesen. Doch falls sie tatsächlich Stimmen hörte, so konnte sie keine Worte unterscheiden. Es waren eher geisterhafte Laute, und jeder Ton ließ schmerzhaft etwas tief in ihr mitschwingen.
Schließlich war sie sich sicher, dass ihr Kopf in langsamem Rhythmus pochte, und jedes Mal, wenn der schmerzende Pulsschlag kam, fühlte es sich an, als würde ihr der Schädel unter dem Druck platzen. Sobald dieser nachließ, stellte sich Übelkeit ein, nur um sofort wieder verdrängt zu werden, sobald der quälende Druck von Neuem zunahm.
So sehr sich Kahlan bemühte, sie konnte die schweren Lider nicht heben. Es hätte mehr Kraft erfordert, als sie im Moment aufbringen konnte. Außerdem fürchtete sie, es könne hell sein, und Licht hätte ihr wie lange Nadeln in die wehrlosen Augen gestochen. Um die Schmerzen aus dem Kopf zu bekommen, öffnete Kahlan zaghaft die Augen, gerade genug, um vorsichtig in den Raum zu spähen. Sie befand sich in einer Art Behausung, die einem Zelt aus hellbrauner Leinwand ähnelte, doch falls es sich tatsächlich um ein Zelt handelte, hatte sie in ihrem Leben noch kein so großes gesehen. Schwere Teppiche hingen an einer Seite und schienen als Türen zu dienen.
Sie lag auf dicken Fellen, die nicht auf dem Boden;, sondern auf einer kleinen Erhebung ausgebreitet waren. In der schwülheißen Luft schwitzte sie darauf. Wenigstens hatte man sie nicht zugedeckt. Ihr gegenüber stand ein Holzstuhl mit geschnitzter Lehne, dort jedoch saß niemand.
Mehrere Lampen waren im Raum verteilt, manche standen auf Truhen, andere hingen an Ketten. Allerdings gelang es ihnen nicht, die düstere Atmosphäre im Zelt zu vertreiben. Immerhin überdeckte der Geruch des brennenden Öls den schweren Geruch von Schweiß, Tieren und Dung. Erleichtert stellte Kahlan fest, dass das Licht ihr nicht, wie befürchtet, in den Augen schmerzte.
Eine der Schwestern schritt im trüben Schein hin und her wie ein Geist, der sein Grab nicht finden konnte.
Wirr und gedämpft drang Lärm von draußen durch die dicken Zeltwände und Teppiche herein. Es klang, als würde sie sich in einer stillen Zuflucht inmitten einer ganzen Stadt aufhalten. Kahlan hörte das Murmeln unzähliger Männer, dazu Hufgeklapper, das Rattern von Wagen, das Schreien von Maultieren und das metallische Klirren von Waffen und Rüstung. In der Ferne brüllten Männer Befehle, es wurde gelacht und geflucht, während näher bei ihr Geschichten erzählt wurden, die Kahlan kaum verstehen konnte. Kahlan wusste, welche Armee da lärmte. Sie hatte schon einige Male aus der Ferne einen Blick darauf erhascht, war durch Orte gekommen, durch die sie marschiert war, und hatte jene gesehen, die von ihr gefoltert, vergewaltigt und ermordet worden waren. Und Jagang war da. Sie bemerkte, dass er in ihre Richtung sah, gab vor, noch bewusstlos zu sein und atmete gleichmäßig, lag vollkommen still und schloss die Augen fast ganz. Da er offensichtlich glaubte, sie schlafe noch, ließ er seinen Blick zurück zu Ulicia schweifen, die weiter hin und her ging.
»So einfach kann es nicht sein«, beharrte Schwester Armina, die neben einem Tisch stand. Hochmütig reckte sie die Nase in die Luft. Kahlan konnte die Umrisse eines Buches auf diesem Tisch ausmachen. Schwester Arminas lange Finger ruhten auf dem Ledereinband.
»Armina«, fragte Jagang ruhig, fast freundlich, »kannst du dir überhaupt vorstellen, wie unterhaltsam es für mich wäre, in den Gedanken einer lästigen Schwester zu sein, die ich meinen Männern überlassen habe?«
Die Frau erbleichte und wich einen Schritt bis zur Zeltwand zurück.
»Nein, Exzellenz.«
»Dabei zu sein und ihre Pein mitzuerleben? Dabei zu sein, wie hilflos sie ist, wenn kräftige Hände ihr die Kleider vom Leib reißen, ihren Körper betatschen, sie auf den nackten Boden drücken, die Beine auseinander zwingen, wenn Männer sie besteigen, für die sie nur eine lustvolle Unterhaltung darstellt? Männer, denen es an jeglichem Mitleid fehlt und die sich keinen Deut darum scheren, welche Qualen sie anrichten, wenn sie nach dem jagen, was sie wollen? Kannst du dir vorstellen, wie befriedigend es für mich wäre, gewissermaßen als Augenzeuge bei dieser wohlverdienten Bestrafung dabei zu sein?«
Voller Panik riss Schwester Armina die Augen auf und antwortete kaum vernehmlich: »Nein, Exzellenz.«
»Dann möchte ich mir jeden Widerspruch von dir verbitten, der nicht darauf beruht, was du meinst, sondern auf dem, was ich deiner Meinung nach hören möchte. Deine Speichelleckerei interessiert mich nicht. In meinem Bett magst du mir schmeicheln, wenn du glaubst, es würde dir meine Gunst einbringen, was jedoch nicht der Fall ist, aber in dieser Sache bin ich nur an der Wahrheit interessiert. Deine kriecherischen Einwände verhelfen uns auch nicht zum Erfolg. Nur die Wahrheit. Falls du etwas zu sagen hast, sag es, aber höre auf, ständig Ulicia zu unterbrechen, indem du ihre Meinung mit dem kritisiert, was ich deiner Ansicht nach hören möchte. Sonst landest du früher oder später wieder in den Zelten. Hast du mich verstanden?«
Schwester Armina senkte den Blick. »Ja, Exzellenz.«
Schwester Ulicia seufzte, als Jagang ihr seine Aufmerksamkeit zuwandte. Sie blieb stehen und deutete auf das Buch.
»Das Problem ist folgendes, Exzellenz: Wir haben keine Möglichkeit zu entscheiden, ob diese Abschrift authentisch ist oder nicht. Ich weiß, das wünscht Ihr von uns, und glaubt mir, wir haben es versucht. Aber die Wahrheit ist eben, dass wir nichts haben, was uns bei der Lösung dieses Problems helfen würde.«
Kahlan zog die Lider noch enger zusammen, als Schwester Ulicia auf sie zeigte. »Sie hat den Makel gefunden. Warum hat ihn keiner von uns entdeckt? Nur sie hat ihn bemerkt. Ohne sie wäre es uns vielleicht gar nicht aufgefallen, oder wenn, hätten wir es womöglich für unwichtig gehalten und nicht beachtet. Sie hat getan, was das Buch von ihr verlangt. Sie hat den Fehler gefunden. Ihrer Meinung nach ist es eine falsche Abschrift. Genau aus diesem Grund besteht das Buch darauf, sie zur Prüfung einzusetzen.
Einige von uns betrachten diesen Makel nicht als komplex genug, um der entscheidende Faktor zu sein, aber darum geht es nicht. Tatsache bleibt, sie muss die Echtheit bestätigen, und aufgrund eines Makels erklärte sie es zur falschen Abschrift. Das ist entscheidend. Wir müssen dieses Urteil annehmen.«
Jagang ließ sich die Worte durch den Kopf gehen, rieb sich mit der fleischigen Hand den bulligen Hals und schritt vor dem Tisch hin und her. Eine Weile lang starrte er das Buch an.
»Es gibt nur eine Möglichkeit sicherzugehen.« Er starrte nacheinander die Schwestern an. »Wir müssen andere Abschriften finden und dieses Buch damit vergleichen. Wenn alle oder auch nur einige den gleichen Fehler im Titel haben, ist dieser vermutlich bedeutungslos. Wenn jedoch alle außer einem diesen Makel haben, wäre dieses vermutlich die richtige Abschrift. Dann können wir die verschiedenen Fassungen des Textes vergleichen, und falls sich das ohne Fehler im Titel von den anderen unterscheidet, dürften wir das Richtige gefunden haben.«
»Exzellenz«, sagte Schwester Armina und neigte ehrerbietig den Kopf, »das ist eine hervorragende Idee. Falls wir die anderen entdecken und nur dieses einen Fehler hat, würde es ja meinen Standpunkt stützen, dass es sich bloß um den dummen Fehler eines Buchbinders handelt.«
Jagang starrte sie einen Moment lang an, ehe er den Augenkontakt abbrach und zu einer Truhe ging. Er öffnete den Deckel und nahm ein Buch heraus. Dieses warf er den Schwestern auf den Tisch. Schwester Armina las den Titel. Selbst im trüben Licht der Öllampen sah Kahlan, wie ihr Gesicht einen dunkelroten Ton annahm.
»Das Buch des gezählten Schattens«, flüsterte sie ungläubig.
»Schattens?«, fragte Schwester Ulicia ungläubig. »Nicht Schatten}«
»Nein«, antwortete Jagang. »Es ist Das Buch des gezählten Schattens, genau wie das aus Caska.«
»Aber, aber«, stotterte Schwester Armina, »das verstehe ich nicht. Woher stammt diese Abschrift?«
Er lächelte herablassend. »Aus dem Palast der Propheten.«
Schwester Armina fiel vor Schreck die Kinnlade herab. Schwester Ulicia runzelte die Stirn. »Wie bitte? Das ist unmöglich. Seid Ihr Euch sicher?«
»Ob ich mir sicher bin?« Er grunzte höhnisch. »O ja, da bin ich mir sicher. Versteht ihr, dieses Buch befindet sich bereits seit einiger Zeit in meinem Besitz. Es ist einer der Gründe, weshalb ich euch Närrinnen überhaupt erlaubt habe, eure Suche fortzusetzen. Ich brauchte die gleiche Frau, hinter der ihr her wart, um zu der Erkenntnis zu gelangen, ob ich es mit einer richtigen oder einer falschen Abschrift zu tun habe.
Die ganze Zeit, seit ich das Buch habe, ist mir der Singular des ›Schattens‹ niemals aufgefallen. Ich habe es einfach nicht bemerkt. Unsere bewusstlose Freundin dort drüben ist allerdings sofort darauf gestoßen.«
»Wie habt Ihr das Buch aus dem Palast der Propheten bekommen?«, fragte Schwester Ulicia. »Nach dem, was wir gehört haben, wurden diese Abschriften mit Knochen begraben, wie in Caska, in verborgenen Katakomben. Und diese Katakomben wurden nicht entdeckt, bevor der Palast zerstört wurde.«
Jagang lächelte vor sich hin, als müsste er einem Kind etwas erklären. »Du hältst dich für so schlau, Ulicia, weil du alles über die Kästchen herausbekommen hast, über das Buch, das man braucht, um sie zu öffnen, und über die Person, die den Text auf seine Echtheit überprüfen muss. Aber ich weiß bereits seit Jahrzehnten, worauf du erst kürzlich gestoßen bist.
Seit langer, langer Zeit dringe ich in die Gedanken anderer ein, um unserer Sache zu dienen. Du wärest überrascht, wenn du erführest, was mir alles zur Kenntnis gelangt ist. Während ihr Schwestern euch noch mit den Intrigen im Palast beschäftigt habt, mit den Rangeleien um die Macht auf eurer kleinen Insel, damit, dem Schöpfer oder dem Hüter den Hof zu machen und damit, die Gunst des einen oder anderen im Tausch gegen ein Treueversprechen zu erlangen, habe ich daran gearbeitet, die Alte Welt für die Glaubensgemeinschaft der Ordnung zu einen. Denn sie ist das wahre Ziel des Schöpfers und somit das einzig rechtmäßige Ziel der Menschheit.
Während ihr junge Männer zu Zauberern ausgebildet habt, zeigte ich den gleichen jungen Männern das wahre Licht. Ohne dass die Schwestern es überhaupt bemerkten, widmeten sich viele dieser jungen Zauberer bereits der zukünftigen Erlösung der Menschheit, indem sie dem Orden beitraten. Sie verbrachten Jahrzehnte im Palast der Propheten, genau unter der Nase der Schwestern, während sie Brüder der Glaubensgemeinschaft der Ordnung waren. Und ich war in ihren Gedanken dabei, als sie in den Gewölben des Palastes die geheimen Bücher lasen.
Ich, der Traumwandler, leitete sie an und gab ihren Studien ein Ziel. Ich wusste, was gebraucht wurde, und ließ sie für mich suchen. Als Brüder des Ordens hatten sie schon vor langer Zeit den geheimen Eingang zu den Katakomben gefunden - er verbarg sich unter einem unbenutzten und lange vergessenen Lagerbereich im alten Teil der Stallungen. Sie ließen dieses Buch zusammen mit weiteren wertvollen Bänden verschwinden, und als ich schließlich am Palast eintraf, nachdem ich im Triumph die Alte Welt geeint hatte, übergaben sie mir die Bücher. Diese spezielle Abschrift befindet sich schon seit Jahrzehnten in meinem Besitz.
Was mir fehlte, war ein Weg durch die Große Barriere, damit ich die Kästchen und das Mittel der Verifizierung in die Hand bekäme. Doch durch ihre Einmischung halfen mir die Schwestern, und ihre Handlungen endeten in der Vernichtung der Barriere. Da der Palast der Propheten nun zerstört ist, fürchte ich, sind diese Katakomben und die Bücher darin für alle Zeiten verloren, aber diese jungen Männer haben die meisten von ihnen gelesen, und ich durch ihre Augen. Den Palast und die Katakomben gibt es nicht mehr, doch das Wissen, welches dort aufbewahrt wurde, konnte zum Teil überdauern. Denn von diesen jungen Brüdern leben viele noch und dienen uns in unserem Kampf.
Dann beobachtete ich euch dabei, wie ihr den Plan ausgebrütet habt, die Mutter Konfessor zu entführen, und ich erkannte, dass ich das ausnutzen könnte, um sie selbst in die Hand zu bekommen und sie für meine Zwecke einzusetzen. Daher ließ ich euch in dem Glauben, ihr würdet genau das tun, was ihr wolltet, während ihr eigentlich für mich gearbeitet habt. Jetzt habe ich das Buch und die Mutter Konfessor, von der das Buch sagt, sie müsse die Richtigkeit bestätigen.«
Beiden Schwestern stand der Mund offen.
Kahlan drehte sich der Kopf. Mutter Konfessor. Sie war die Mutter Konfessor.
Was in aller Welt war eine Mutter Konfessor?
Jagang zeigte den Schwestern ein gerissenes Lächeln. »Ihr habt euch aufs Beste zum Narren gemacht.«
»Ja, Exzellenz«, räumten beide kleinlaut ein.
»Und jetzt«, fuhr er fort, »haben wir zwei Exemplare von Das Buch der gezählten Schatten, und beide weisen den gleichen Fehler aufdas Wort ›Schatten‹ steht im Singular, nicht im Plural.«
»Allerdings sind es nur zwei«, wandte Schwester Armina ein.
»Wenn die anderen Exemplare nun den gleichen Fehler haben?«
»Das halte ich für ziemlich ausgeschlossen«, meinte Schwester Ulicia.
»Nun, in jedem Fall wären wir ein Stück weiter, oder?« Jagang zog eine Augenbraue fragend hoch. »Ich habe zwei, und sie haben den gleichen Fehler. Wir brauchen die übrigen, um die Theorie zu bestätigen, dass bei einem der Titel richtig geschrieben ist, mit ›der gezählten Schattens Daher müssen wir die Mutter Konfessor leben lassen, bis wir wissen, ob man aufgrund dieses Fehlers tatsächlich die authentische Abschrift bestätigen kann.«
»Und wenn alle Exemplare den gleichen Fehler haben, Exzellenz?«, fragte Schwester Armina.
»Dann wissen wir wenigstens, dass es sich nicht um die richtige Methode handelt, um Das Buch der gezählten Schatten auf seine Echtheit zu überprüfen. Vielleicht müssen wir ihr Zugang zum Text selbst erlauben, damit sie ihre Überprüfung auf das gründen kann, was sie zurzeit nicht sieht.«
Schwester Armina hob die Hand. »Aber Exzellenz, ich weiß nicht einmal, ob das überhaupt möglich ist.«
Jagang antwortete nicht, sondern nahm ihr stattdessen das Buch ab und legte es neben das andere auf den Tisch. »Die Mutter Konfessor ist weiterhin wichtig für uns. Sie ist die Einzige, welche das richtige Exemplar bestätigen kann. Wir können nicht sicher sein, ob sie das bereits getan hat. Bislang hat sie ihr Urteil aufgrund nur einer einzigen Information gefällt. Deshalb brauchen wir sie lebendig.«
»Ja, Exzellenz«, sagte Schwester Armina.
»Ich glaube, sie wacht auf«, meinte Schwester Ulicia. Kahlan hatte so gebannt gelauscht, dass sie die Augen nicht mehr richtig geschlossen hielt, als Schwester Ulicia in ihre Richtung sah. Die Schwester trat zu ihr und schaute sie an.
Die drei sollten nicht erfahren, dass Kahlan ihren Titel, Mutter Konfessor, gehört hatte. Sie reckte sich, als versuchte sie, dem Reich der Bewusstlosigkeit zu entfliehen, während sie sich ausmalte, was dieser Titel wohl bedeuten mochte.
»Wo sind wir?«, murmelte sie und ließ ihre Stimme verschlafen klingen.
»Das wirst du bestimmt schon bald erfahren.« Schwester Ulicia rüttelte Kahlan unsanft an der Schulter. »Und jetzt wach auf.«
»Was ist denn los? Möchtet Ihr etwas von mir, Schwester?« Kahlan rieb sich die Augen mit den Knöcheln und bemühte sich, einen benommenen Eindruck zu machen. »Wo sind wir?«
Schwester Ulicia hakte den Zeigefinger durch den Halsring und zog daran.
Ehe Schwester Ulicia ein weiteres Wort vorbringen konnte, packte Jagang sie am Arm und zerrte sie aus dem Weg. Mit den Fäusten packte er Kahlans Hemd am Kragen und hob sie von den Füßen.
»Du hast zwei meiner getreuen Wachen ermordet«, sagte er mit knirschenden Zähnen. »Du hast Schwester Cecilia umgebracht.« Der Zorn wallte in ihm auf, die Röte stieg ihm ins Gesicht. Er kniff die düsteren Augen zusammen. Es sah aus, als würden Blitze durch die wolkigen Schemen zucken. »Hast du dir eingebildet, ich würde dir das durchgehen lassen?«
»Das habe ich mir durchaus nicht eingebildet«, erwiderte Kahlan so ruhig wie möglich. Wie sie vermutet hatte, provozierte ihn ihre Ruhe noch mehr.
Er brüllte seine Wut heraus und schüttelte sie so heftig, dass es sich anfühlte, als wären die Muskeln an ihrem Hals gerissen. Offensichtlich war er ein Mann, der seinen Zorn schon beim geringsten Anlass nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. Stand er kurz davor, sie zu töten?
Kahlan wollte nicht sterben, doch ein rascher Tod wäre vermutlich dem vorzuziehen, was er ihr in Aussicht gestellt hatte. Außerdem konnte sie ihn sowieso nicht daran hindern.
»Wenn du nicht geglaubt hast, damit durchzukommen, warum hast du es dann gewagt?«
»Welchen Unterschied bedeutet das schon?«, fragte Kahlan gleichgültig, während er sie so weit in die Höhe gehoben hatte, dass ihre Stiefel ein gutes Stück vom Boden entfernt "waren.
»Was redest du da?«
»Ihr habt mir bereits gesagt, Ihr würdet schlimmere Dinge mit mir anstellen, als ich je erlebt habe. Ich glaube Euch; denn das ist die einzige Art, wie Ihr Menschen für Euch gewinnen könnt: durch Drohungen und Gewalt. Weil Ihr so ein aufgeblasener Narr seid, habt Ihr den Fehler begangen und mir gesagt, ich könne mir nicht vorstellen, was Ihr mit mir vorhabt. Das war ein großer Fehler.«
»Fehler?« Er zog sie dichter zu sich heran. »Welcher Fehler?«
»Ihr habt einen taktischen Fehler begangen, Kaiser«, sagte Kahlan und betonte seinen Titel wie eine spöttische Beleidigung. Sie wollte ihn wütend machen, und sie hatte damit Erfolg.
Obwohl sie an seinen Fäusten hing, sprach Kahlan gefasst, ja, distanziert. »Ihr habt mir zu verstehen gegeben, dass ich nichts zu verlieren habe, gleichgültig, was ich tue. Mit Euch kann man nicht vernünftig reden. Ihr habt gesagt, Ihr würdet mir das Schlimmste antun. Damit brauchte ich nicht mehr auf Eure Gnade zu hoffen. Und damit habt Ihr mir einen Trumpf in die Hand gespielt. Durch diesen Fehler habe ich gewusst, dass ich nichts verliere, wenn ich Eure Wachen töte, denn mir blüht sowieso ein unvorstellbar schreckliches Schicksal. Und da konnte ich mich auch gleich an Schwester Cecilia rächen. Und Ihr seid längst nicht so klug, wie Ihr glaubt, sondern nur ein brutaler Rohling, der leicht zu übertölpeln ist.«
Er ließ Kahlan ein Stück tiefer sinken, bis sie den Boden wieder mit den Zehenspitzen erreichte.
»Du bist mir ja wirklich eine«, sagte er. Ein verschlagenes Lächeln vertrieb die Wut aus seinem Gesicht. »Ich werde es genießen, was ich mir für dich vorgenommen habe.«
»Da habe ich Euch Euren Fehler erklärt, und Ihr wiederholt ihn? Offensichtlich lernt Ihr nicht besonders schnell.«
Als er sie in die Höhe gehoben und ihr Gesicht zu seinem herangebracht hatte, waren seine Hände so damit beschäftigt gewesen, sie festzuhalten, dass Kahlan den unbeobachteten Moment nutzte und vorsichtig das Messer aus der Scheide an seinem Gürtel zog. Vor lauter Wut hatte er es nicht bemerkt.
Anstatt nach ihrer letzten Beleidigung erneut dem Zorn zu verfallen, lachte er schallend.
Kahlan hielt das Messer fest in der Hand.
Ohne Vorwarnung stach sie, so heftig sie konnte, auf ihn ein. Sie hatte ihn unter den Rippen treffen und die Eingeweide aufschlitzen wollen, vielleicht bis zu seinem Herzen, falls sie es schaffte. Doch leider war sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und erwischte nur die unterste Rippe, in der die Messerspitze stecken blieb.
Ehe sie Zeit bekam, die Klinge herauszuziehen und erneut zuzustechen, packte er sie am Handgelenk und verdrehte ihr den Arm. Dann schleuderte er sie herum, und ihr Rücken krachte gegen seine Brust. Noch bevor sie Gelegenheit bekam, etwas zu unternehmen, hatte er ihr das Messer aus der Hand gerungen. Er legte ihr den Arm um den Hals und drückte ihr die Luft ab. Sie spürte, wie seine Brust vor Wut bebte.
Noch gestand sie ihre Niederlage nicht ein, und ehe sie wegen Luftmangels ohnmächtig werden würde, nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und trat ihm mit dem Stiefelabsatz gegen das Schienbein. Angesichts seines Schreis wusste sie, dass es schmerzte. Nun trieb sie ihm den Ellbogen hart in die frische Wunde. Er zuckte zusammen. Dann schlug sie ihm den Ellbogen mit Schwung unter das Kinn. Allerdings war er so groß und stark, dass sie ihn dadurch nicht außer Gefecht setzen konnte. Es war, als würde sie einen Stier boxen. Und wie ein Stier, so wurde auch Jagang immer wütender. Er packte sie am Hemd, ehe sie ihm entwischen konnte. Seine Faust traf sie in den Bauch. Kahlan krümmte sich und bekam keine Luft mehr. Keuchend versuchte sie zu atmen, um den betäubenden Schmerz zu überwinden.
Sie ging auf die Knie, doch er griff ihr ins Haar und zog sie wieder auf die Beine.
Jagang grinste. Der Zorn war durch diesen unerwarteten, gefährlichen Kampf wie weggeblasen. So langsam begann er, das Spiel zu genießen.
»Warum bringt Ihr mich nicht einfach um?«, gelang es Kahlan hervorzustoßen, während er vor ihr stand und sie betrachtete.
»Dich umbringen? Warum sollte ich dich umbringen wollen? Dann wärest du einfach nur tot. Du sollst leben, damit ich dich leiden lassen kann.«
Die beiden Schwestern rührten keinen Finger, um ihren Gebieter zu zügeln. Kahlan wusste, er konnte ihr antun, was er wollte, und sie würden keinen Widerspruch erheben. Solange er seine Aufmerksamkeit Kahlan widmete, war er von ihnen abgelenkt. Bevor er jedoch erneut zuschlagen konnte, fiel helles Licht ins Zelt und erregte seine Aufmerksamkeit.
»Exzellenz«, sagte eine tiefe Stimme. Ein großer Kerl hielt den Teppich offen und wartete. Der Mann ähnelte den beiden Wachen, die sie getötet hatte. Vermutlich verfügte Jagang über unendlichen Nachschub.
»Was gibt es denn?«
»Wir sind bereit, das Lager abzubrechen, Exzellenz. Entschuldigt die Störung, aber ich sollte Euch Bescheid sagen, sobald es so weit ist. Ihr habt uns selbst zur Eile angehalten.«
Jagang ließ Kahlans Haar los. »Sehr gut, fangt an.«
Unerwartet fuhr er herum und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Sie taumelte zurück und ging zu Boden.
Während sie da lag und versuchte, sich wieder zu sammeln, drückte er eine Hand auf die Wunde über seinen Rippen. Dann zog er sie zurück, um zu sehen, wie stark der Stich blutete. Er wischte sich die Hand an der Hose ab und hatte wohl entschieden, die Wunde sei nicht weiter schlimm und müsse nicht behandelt werden. Sein Körper war, so weit Kahlan es sehen konnte, von Narben überzogen, und die meisten deuteten auf wesentlich schwerere Verletzungen hin.
»Passt auf, dass sie nicht wieder auf dumme Gedanken kommt«, befahl er den Schwestern, während er zu dem Teppich eilte, den die Wache für ihn aufhielt.
Kahlan spürte, wie Feuer durch den Halsring lief und durch ihre Nerven bis hinunter zu den Zehen schoss. Der brennende Schmerz ließ sie unwillkürlich aufkeuchen.
Sie wollte vor Wut schreien, doch erneut durchfuhr der Schmerz ihren Körper. Es war ihr verhasst, wie die Schwestern den Halsring benutzten. Und sie hasste diese Qualen, denen sie wehrlos ausgesetzt war.
Schwester Ulicia trat näher und baute sich vor ihr auf. »Das war aber sehr töricht von dir, nicht wahr?«
Vor lauter Schmerzen konnte Kahlan nicht antworten. Wäre sie dazu in der Lage gewesen, hätte sie ihnen erzählt, es sei nicht töricht, sondern die Folgen wert gewesen.
Sie würde kämpfen, solange sie einen Atemzug tat. Wenn es sein musste, bis zum allerletzten.