Rachel zögerte. Sie war schon ein gutes Stück weit in den düsteren Eingang vorgedrungen, und mittlerweile wurde es schwierig, etwas zu erkennen. Zwar hätte sie nur zu gern darauf verzichtet zu sehen, was auf die Wände gezeichnet war, Tatsache war jedoch, sie konnte es sehen. Den ganzen Weg ins Innere der Höhle hatte sie sich bemüht, nicht allzu genau auf die merkwürdigen Szenen zu achten, mit denen die Felswände rings um sie her bedeckt waren. Von einigen der Darstellungen hatte sie an den Armen eine Gänsehaut bekommen. Ihr war einfach unverständlich, wieso irgendjemand das Verlangen haben konnte, solch abstoßende, grausame Dinge zu zeichnen, auch wenn sie durchaus nachvollziehen konnte, dass diese Leute sie hier unten in einer Höhle untergebracht hatten; offenbar wollten sie diese düsteren Phantasien vor dem Tageslicht verbergen. Unvermutet versetzte der Mann ihr einen Stoß. Rachel stolperte vorwärts und schlug mit dem Gesicht auf den Boden. Viel zu wütend, um loszuheulen, spuckte sie den Staub aus und stemmte sich mit den Armen hoch.
Als sie über die Schulter linste, sah sie, dass der Mann sie nicht etwa beobachtete, sondern mit seinen beängstigenden goldenen Augen geradeaus in das Dunkel starrte, so als wären seine Gedanken auf Wanderschaft gegangen und er hätte sie vollkommen vergessen. Rachel sah sich zu dem Lichtpunkt um und überlegte kurz, ob sie es wohl schaffen würde, sich an seinen langen Beinen vorbeizudrücken. Sie könnte ja so tun, überlegte sie, als wollte sie in die eine Richtung, und dann blitzschnell in die andere Richtung abtauchen. Es könnte klappen. Allerdings war er um einiges größer als sie und konnte zweifellos schneller laufen, selbst wenn sie nach dem langen Gefesselt sein nicht noch wackelig auf den Beinen gewesen wäre. Wenn er ihr nur nicht ihre Messer weggenommen hätte. Doch bevor sie Gelegenheit hatte, es zu versuchen, fiel der Blick des Mannes wieder auf sie. Er packte sie am Kragen, hievte sie auf die Beine und stieß sie vor sich her, tiefer und tiefer in den dunklen Schlund der Höhle hinein. Rachel hatte einige Mühe, auf den überall hervorstehenden Felsen Halt zu finden und über die Felsspalten hinwegzuspringen. Schließlich bemerkte sie weiter vorne eine schemenhafte Bewegung und blieb stehen.
»Sieh an, sieh an ...«, erklang eine schneidend dünne Stimme aus der Tiefe des Dunkels. »Gäste.«
Das letzte Wort war so gedehnt gesprochen worden, dass es ein wenig an das Zischeln einer Schlange erinnerte.
Rachel überlief es eiskalt, als sie mit weit aufgerissenen Augen in das Dunkel starrte und sich bange fragte, wer wohl der Besitzer einer solchen Stimme sein mochte.
Schließlich, so als käme er aus der Unterwelt selbst, schälte sich ein Schatten aus dem Dunkel und schob sich in einer gleitenden Bewegung nach vorne in den trüben Lichtschein.
Bloß lächelten Schatten nicht, erkannte Rachel. Dies war eine Frau, eine hochgewachsene Frau in einem langen, schwarzen Kleid. Auch ihr langes, drahtiges Haar war schwarz. Im Gegensatz dazu war ihre Haut so bleich, dass ihr Gesicht fast völlig losgelöst in der Dunkelheit zu schweben schien. Rachel fühlte sich an die Haut eines Albino-Salamanders erinnert, der sich, gänzlich unberührt vom Sonnenlicht, tagsüber unterm Laub versteckt. Alles an ihr, vom groben schwarzen Stoff ihres Kleides über ihre ausgetrocknete, fest über den Knöcheln spannende Haut bis hin zu ihrem widerspenstigen Haar, wirkte so trocken wie ein von der Sonne ausgedörrter Leichnam.
Dazu hatte sie ein Lächeln wie das eines Wolfes aufgesetzt, stellte sich Rachel vor, eines Wolfes, dem unerwartet das Abendessen über den Weg läuft.
Ihre Augen waren blau, wenngleich von einem Blau, das ebenso verblichen war wie ihre Haut, sodass es fast so aussah, als könnte sie möglicherweise blind sein. Gleichwohl ließ ihre Art, Rachel in aller Seelenruhe und bewusst zu mustern, keinen Zweifel daran, dass sie nicht nur im Hellen ausgezeichnet sehen konnte, sondern vermutlich auch bei tiefster Dunkelheit.
»Ich kann nur hoffen, es hat sich gelohnt«, knurrte der Mann hinter Rachel. »Das kleine Gör hat mir ein Messer ins Bein gerammt.«
Rachel blickte über ihre Schulter. Wie der Mann hieß, wusste sie nicht, er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich vorzustellen. Überhaupt hatte er nur sehr wenig gesprochen, seit er sie aufgegriffen hatte, so als wäre sie kein Mensch, sondern irgendein Gegenstand, ein lebloses Ding, das er bloß aufgelesen hatte. Durch seine Behandlung hatte er ihr das Gefühl gegeben, nicht mehr zu sein als ein hinter sich über den Sattel geworfener Getreidesack. Im Augenblick jedoch waren Schmerz und Angst, Durst und Hunger während ihres langen Ritts nichts weiter als verblassende Unannehmlichkeiten.
»Du hast Chase getötet«, sagte Rachel. »Dafür hättest du noch ganz was anderes verdient.«
Die Frau runzelte die Stirn. »Wen?«
»Den Kerl, der bei ihr war.«
»Aha, verstehe«, sagte die Frau in Schwarz. »Und du hast ihn getötet?« Sie schien nur mäßig interessiert. »Bist du sicher? Hast du ihn begraben?«
Er zuckte die Achseln. »Ich nehme an, dass er tot ist -von solchen Verletzungen erholt sich keiner. Der Bann hatte mich, wie Ihr es versprochen hattet, praktisch unsichtbar gemacht, daher hat er nicht mal bemerkt, dass ich da war. Aber ich hab mir nicht die Zeit genommen, ihn zu verbuddeln, ich wusste ja, Ihr wolltet, dass ich so schnell wie möglich zurückkomme.«
Ihr dünnes Lächeln wurde breiter. Sie schob sich näher an ihn heran, streckte schließlich die Hand vor und fuhr ihm mit ihren langen, knochigen Fingern durch sein dichtes Haar. Sie musterte ihn eingehend aus ihren gespenstisch blauen Augen.
»Sehr gut, Samuel«, gurrte sie. »Ausgezeichnet.«
Samuel sah aus wie ein Hund, der hinter den Ohren gekrault wurde.
»Danke, Herrin.«
»Und das ... Andere hast du auch mitgebracht?«
Er nickte beflissen, und ein Lächeln hellte seine Züge auf. Wahrscheinlich lag es an seinen seltsamen, goldenen Augen, dass Rachel ihn für einen abweisend wirkenden Mann gehalten hatte, aber sobald er lächelte, schien seine wahre Natur dahinter zurückzutreten. Lächelnd sah er besser aus als die meisten, auch wenn er in Rachels Augen ein Ungeheuer war und es immer bleiben würde. Ein freundliches Lächeln reichte nicht, um wettzumachen, was er ihr angetan hatte.
Auf einmal schien Samuel bester Laune. So fröhlich hatte sie ihn noch nicht erlebt. Allerdings hatte sie einen Großteil der Zeit in einem über den Rücken seines Pferdes gebundenen Sack gesteckt, sodass sie vermutlich gar nicht richtig beurteilen konnte, ob er gut gelaunt gewesen war oder nicht. Es war ihr eigentlich auch egal. Sie hatte nur einen Wunsch: ihn tot zu sehen. Er hatte Chase umgebracht, das Beste, was ihr in ihrem ganzen Leben je widerfahren war. Chase war der prachtvollste Mensch, den man sich nur vorstellen konnte. Er hatte sie nach ihrer Flucht vor Königin Milena auf dem Schloss von Tamarang und dieser grauenhaften Prinzessin Violet bei sich aufgenommen, hatte sie geradezu mit Liebe überschüttet und sich um sie gekümmert. Er hatte ihr beigebracht, auf sich selbst Acht zu geben. Er hatte eine Familie, die er liebte und die ihn liebte und brauchte.
Und nun war er für sie alle nicht mehr da.
Chase war ein Hüne von einem Mann und wusste mit seinen Waffen so geschickt umzugehen, dass Rachel immer geglaubt hatte, niemand könne ihn besiegen, schon gar nicht ein einzelner Mann. Doch dann war Samuel urplötzlich wie ein Geist aufgetaucht und hatte Chase im Schlaf erstochen, ihn mit diesem prachtvollen Schwert durchbohrt, das unmöglich ihm gehören konnte, da war sie sich ziemlich sicher. Sie wollte sich lieber nicht vorstellen, wie er es in seinen Besitz gebracht und wen er sonst noch damit verwundet hatte. Wie er so dastand, die Arme schlaff neben dem Körper, die Schultern gebeugt, während die Frau ihm mit den Fingern durchs Haar fuhr und dazu mit leisen tröstlichen, schmeichlerischen Worten auf ihn einredete, wirkte Samuel wie ein Idiot. Er schien nicht mehr er selbst. Bis zu diesem Augenblick hatte er stets selbstsicher, ja beinahe arrogant gewirkt. Nie hatte er sie im Zweifel gelassen, wer das Sagen hatte, stets wusste er genau, was er wollte. In Gegenwart dieser Frau jedoch war er wie verändert. Fast erwartete Rachel, er würde seine Zunge heraushängen lassen und zu sabbern anfangen.
»Du sagtest, das Andere hättest du ebenfalls mitgebracht, Samuel«, sagte sie mit ihrer zischelnden Stimme.
»So ist es.« Er deutete mit dem Arm nach hinten, zum Licht. »Es ist noch auf dem Pferd.«
»Na, dann lass es nicht dort draußen«, sagte die Frau, in deren Stimme sich plötzlich eine ungeduldige Schärfe einschlich. »Geh schon und hol es her.«
»Ja ... natürlich, sofort.« Geradezu versessen darauf, ihrer Aufforderung Folge zu leisten, hastete er davon.
Rachel sah ihm nach, wie er durch die Höhle zurücklief, über im Weg liegende Felsen hinwegkletterte, sich manchmal mit den Händen am Boden abstützte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und an der schaurigen Galerie der Wandzeichnungen vorbei zum Höhleneingang eilte. In diesem Moment bemerkte sie einen flackernden Widerschein auf den dunklen Wänden, und als sie das knisternde Zischen hörte, wusste sie, dass das Licht von einer Fackel stammte. Sie drehte sich wieder um und sah, wie sich eine weitere Person mit einer Fackel in der Hand aus dem Dunkel schälte. Verdutzt klappte Rachel die Kinnlade herunter.
Es war Prinzessin Violet!
»Sieh mal einer an, wenn da nicht unser Waisenkind Rachel zu uns zurückgefunden hat«, sagte Violet und steckte die Fackel in eine Halterung in der Felswand, ehe sie einen Platz an der Seite der schwarz gekleideten Frau einnahm.
Rachel war, als könnten ihr die Augen jeden Moment aus dem Schädel treten; sie schien unfähig, den Mund wieder zu schließen. Ihre Stimme hatte sich in ihre Magengrube verkrochen.
»Violet, meine Liebe, ich glaube, Ihr habt die Kleine glatt vor Angst um den Verstand gebracht. Hast du deine Zunge verloren, Kleines?«
Eigentlich war es Prinzessin Violet, die ihre Zunge verloren hatte, doch jetzt hatte sie sie ganz offensichtlich wieder. So unwahrscheinlich es auch schien, sie hatte ihre Zunge wieder.
»Prinzessin Violet...«
Violets Rücken versteifte sich, als sie ihre breiten Schultern straffte. Gegenüber dem letzten Mal, als Rachel sie gesehen hatte, schien sie um die Hälfte gewachsen, außerdem wirkte sie irgendwie kräftiger. Und älter.
»Mittlerweile Königin Violet.«
Rachel blinzelte erstaunt. »Königin ...?«
Violet lächelte ein Lächeln, das einen Scheiterhaufen hätte zu Eis erstarren lassen.
»Allerdings, ganz recht. Königin. Meine Mutter, musst du wissen, ist ermordet worden, als dieser Mann, dieser Richard, floh. Er hat es getan, er ist schuld am Tod meiner Mutter, am Tod unserer geliebten ehemaligen Königin. Nichts als Kummer und fürchterliche Zeiten hat er uns allen beschert.« Sie seufzte schwer. »Aber die Dinge haben sich geändert. Jetzt bin ich Königin.«
Es wollte Rachel einfach nicht in den Kopf. Königin. Das Ganze schien vollkommen unvorstellbar. Das Verblüffendste allerdings war, dass Violet trotz des Verlusts ihrer Zunge wieder sprechen konnte.
Ein freudloses Grinsen ging über Violets Lippen, als sie ihre Stirn in Falten legte. »Knie vor deiner Königin nieder.«
Rachel schien den Sinn der Worte nicht zu begreifen. Wie aus dem Nichts schoss Violets Hand heran und traf Rachel mit solcher Wucht, dass sie der Länge nach zu Boden gestreckt wurde.
»Knie vor deiner Königin nieder!«
Wieder und wieder hallte Violets schrille Stimme durch die Dunkelheit.
Keuchend vor Schmerz und Schock presste Rachel eine Hand auf ihre Wange und rappelte sich mühsam wieder bis zu den Knien hoch. Warm spürte sie das Blut über ihr Kinn rinnen. Offenbar war Violet auch erheblich kräftiger als früher.
Die schmerzhafte Ohrfeige war, als hätte ihre eigene Vergangenheit sie schlagartig wieder eingeholt, als wäre alles nur ein Traum gewesen und sie wäre wieder im Albtraum ihres früheren Lebens aufgewacht. Wie damals war sie vollkommen auf sich gestellt, ohne einen Giller, ohne Richard oder Chase, die ihr hätten helfen können. Wie damals war sie Violet hilflos ausgeliefert, ohne einen einzigen Freund in der Welt zu haben.
Violets Lächeln war erloschen. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, starrte sie auf die vor ihr kniende Rachel herab, dass Rachel trocken schluckte.
»Er hat mich angegriffen, weißt du. Damals, als Richard noch der Sucher war, hat er mich angegriffen und schwer verwundet, und das völlig grundlos.« Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Er hat mich übel verletzt. Ein Kind anzugreifen und zu verletzen! Mein Kiefer war gebrochen, die Zähne hat er mir eingeschlagen und mir die Zunge herausgeschnitten, genau wie er es angekündigt hatte. Ich konnte auf einmal nicht mehr sprechen.«
Sie senkte ihre Stimme zu einem tiefen Knurren, das Rachel das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Aber das war nur das geringste meiner Leiden.«
Violet holte tief Luft, um sich wieder zu beruhigen. Mit den Händen strich sie ihr rosafarbenes Seidenkleid an den Hüften glatt.
»Die Berater meiner Mutter waren ebenfalls keine große Hilfe; sobald sie irgendwas Sinnvolles tun sollten, benahmen sie sich wie wichtigtuerische Trottel. Mit jeder Menge Tränke und Bandagen, Düften und Beschwörungen kamen sie an, sprachen Gebete und brachten den Gütigen Seelen Opfer dar. Sie setzten Blutegel und erhitzte Glaskolben. Nichts von alledem hatte auch nur die geringste Wirkung. Meine Mutter wurde beerdigt, ohne dass ich dabei gewesen wäre, denn zu der Zeit war ich nicht einmal bei Bewusstsein.
Selbst die Sterne wussten nichts über meinen Zustand oder meine Heilungschancen zu sagen. Meist standen die Berater händeringend herum, während sie hinter vorgehaltener Hand wahrscheinlich längst aushandelten, wer sich die Krone unter den Nagel reißen würde, sobald ich endlich gestorben wäre. Wenn das nicht bald geschähe, würde mir einer von ihnen schon dazu verhelfen, dass ich bald in den Genuss eines Lebens nach dem Tode an der Seite meiner Mutter kommen würde. Das besorgte Getuschel untereinander, ich könnte Königin werden, war nicht zu überhören.«
Violet holte abermals tief Luft, um sich zu beruhigen. »Und dann, mitten in meinem Albtraum aus Schmerzen und Qualen, aus Angst und Kummer und der wachsenden Sorge, man könnte mich womöglieh ermorden, trat plötzlich Sechs auf den Plan und stand mir bei.«
Sie wies auf die neben ihr stehende Frau. »Gerade als ich es am dringendsten brauchte und niemand sonst dazu in der Lage oder bereit war, erschien Sechs und half mir, mich selbst, die Krone und sogar Tamarang zu retten.«
»Aber ... aber Ihr seid doch gar nicht alt genug, um Königin zu sein«, stammelte Rachel und wusste im selben Moment, da ihr die Worte wider ihr besseres Wissen herausgerutscht waren, dass es ein Fehler gewesen war. Violets zweite Hand schnellte vor und traf sie an der anderen Wange. Anschließend packte Violet sie bei den Haaren und zog sie derb wieder auf die Knie hoch. Rachel fasste sich mit einer Hand auf den frischen, pochenden Schmerz und wischte sich mit der anderen das Blut vom Mund.
Völlig ungerührt meinte Violet achselzuckend: »Wie auch immer, in den letzten Jahren bin ich erwachsen geworden. Ich bin nicht mehr das Kind von damals, das kleine Mädchen, für das du mich offenbar noch immer hältst, so wie damals, als du noch hier gelebt und unser Wohlwollen und unsere Großzügigkeit genossen hast.«
Rachel fand nicht, dass Violet erwachsen genug war, um Königin zu sein, war aber klug genug, es nicht noch einmal anzumerken. Auch war sie nicht so töricht, diese Sklaverei mit »Wohlwollen« zu verwechseln.
»Sechs hat mir bei meiner Genesung zur Seite gestanden. Sie hat mich gerettet.«
Rachel starrte hoch in das blasse, zu einem Grinsen verzogene Gesicht. »Ich bot meine Dienste an. Violet hieß mich auf der Burg willkommen; die Berater ihrer Mutter waren jedenfalls nicht gut für sie.«
»Mit ihren magischen Kräften heilte sie meinen gebrochenen und stark entzündeten Kiefer. Ich war schon ganz entkräftet, weil ich immer nur schluckweise dünne Brühe zu mir nehmen konnte. Mit Sechs’ Hilfe konnte ich endlich wieder normal essen und kam wieder zu Kräften. Sogar neue Zähne wuchsen mir; ich glaube kaum, dass zuvor schon mal jemandem ein drittes Gebiss gewachsen ist, aber bei mir war es so.
Doch ich konnte immer noch nicht sprechen, also benutzte Sechs, als ich wieder halbwegs genesen und bei Kräften war, ihre außergewöhnliche Magie, um mir eine neue Zunge wachsen zu lassen.« Sie ballte die Fäuste. »Die Zunge, deren Verlust ich dem Sucher zu verdanken habe.«
»Dem ehemaligen Sucher«, korrigierte Sechs mit leiser Stimme.
»Dem ehemaligen Sucher«, räumte Violet, jetzt schon beträchtlich ruhiger, ein.
Wieder erschien das selbstgefällige Grinsen auf Violets dicklichem Gesicht, ein Grinsen, das Rachel nur zu vertraut war. »Und jetzt hat man dich zurückgebracht.« Ihr Tonfall verhieß eine Drohung, die in ihren Worten nicht enthalten war.
»Was ist aus all den anderen geworden?«, erkundigte sich Rachel in dem Versuch, ein wenig Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. »All den Beratern der Königin?«
»Die Königin bin ich!« Mit ihrer Leibesfülle hatte offenbar auch ihre Reizbarkeit zugenommen.
Eine sachte Berührung von Sechs auf ihrem Rücken ließ sie kurz aufblicken und rief ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie atmete erneut tief durch, um sich zu beruhigen, fast so, als wäre sie ermahnt worden, sich auf ihre Manieren zu besinnen.
Schließlich antwortete sie auf Rachels Frage. »Für die Berater meiner Mutter hatte ich keine Verwendung, schließlich waren sie alle nutzlos. Deren Rolle hat jetzt Sechs übernommen, und sie macht ihre Sache sehr viel besser als jeder einzelne dieser Dummköpfe. Letztlich war keiner von ihnen imstande, mir eine neue Zunge wachsen zu lassen, oder?«
Rachel blickte hoch zu Sechs. Da war es wieder, dieses wölfische Grinsen, und ihre gespenstischen blauen Augen schienen geradewegs bis auf den Grund ihrer entblößten Seele zu blicken.
»Dergleichen überstieg bei Weitem ihre Fähigkeiten«, bemerkte die Frau mit ruhiger Stimme, in der gleichwohl ein Unterton von ungeheurer Macht mitschwang. »In meiner Macht dagegen stand es sehr wohl.«
Rachel fragte sich, ob Violet wohl Befehl gegeben hatte, die Berater samt und sonders hinzurichten. Als sie das letzte Mal im Schloss gewesen war, hatte Violet, damals noch an der Seite ihrer Mutter, gerade erst mit der Anordnung der ersten Hinrichtungen begonnen. Aber jetzt, da sie Königin war und Sechs ihr den Rücken stärkte, gab es vermutlich gar nichts mehr, das ihre Launen noch zügeln konnte.
»Sie gab mir meine Zunge und meine Stimme zurück. Der Sucher war der Meinung, er hätte mir das alles genommen, aber jetzt hab ich es zurück. Tamarang ist wieder fest in meiner Hand.«
Wäre der Gedanke nicht so beängstigend, die Vorstellung nicht so erschreckend gewesen, hätte Rachel vielleicht gelacht bei dem Gedanken, dass Violet jetzt Königin war. Sie war damals ihre Spielgefährtin gewesen, ihre Gesellschafterin - was im Grunde nichts anderes hieß, als dass sie ihre persönliche Leibsklavin war. Violets Mutter, Königin Milena, hatte sie aus einem Waisenhaus geholt, in der Absicht, einen Menschen bei sich aufzunehmen, an dem Violet ihre Führerschaft einüben könnte, irgendein junges Ding, das Violet mühelos gängeln und nach Belieben misshandeln konnte. Aber Rachel hatte nicht nur fliehen können, sie hatte überdies auch Königin Milenas kostbares Kästchen der Ordnung mitgenommen und es wenig später Richard, Zedd und Chase ausgehändigt. All das war lange her. Ihrer äußeren Erscheinung nach schien Violet jetzt in der Mitte ihrer Jugendjahre zu stehen, allerdings war Rachel nicht besonders gut, wenn es um das Schätzen des Alters von Älteren ging. Auf jeden Fall hatte sie, seit Rachel sie das letzte Mal gesehen hatte, erheblich an Leibesfülle zugenommen. Ihr stumpfes Haar war noch länger geworden, ihr Körper schwerer, ungeschlachter. Wie alles an ihr war auch das Gesicht nach wie vor dicklich, hatte aber wegen dieser kleinen, dunklen, berechnenden Augen alles Kindliche verloren. Auch war ihr Busen nicht mehr flach, sondern fraulich gewölbt. Sie sah aus wie eine Erwachsene, bereit, jeden Moment aus ihrem Kokon zu schlüpfen. Schon immer war sie um einiges älter gewesen als Rachel, doch jetzt schien sie einen Zwischenspurt eingelegt und den Abstand noch vergrößert zu haben. Trotz alledem schien sie nicht annähernd alt genug, um Königin zu sein.
Und doch war sie es.
Rachels Knie, die ungeschützt auf dem felsigen Boden ruhten, taten scheußlich weh, trotzdem wagte sie nicht zu bitten, ob sie aufstehen dürfe. Stattdessen riskierte sie eine Frage.
»Violet... ?«
Klatsch.
Ehe sie überhaupt Zeit hatte nachzudenken, hatte Violet scheinbar aus dem Nichts zugeschlagen, so als hätte sie nur auf einen Vorwand gelauert. Rachels Blick verschwamm, dass ihr übel wurde. Dem Gefühl nach war nicht auszuschließen, dass der Schlag womöglich ein paar Zähne gelockert hatte. Erst ein behutsames Nachfühlen mit der Zunge verschaffte ihr Gewissheit, dass alle noch an ihrem Platz waren.
»Königin Violet«, knurrte Violet. »Mach diesen Fehler nicht noch mal, oder ich lasse dich wegen Anstiftung zum Verrat foltern.«
Rachel schluckte das Entsetzen hinunter, das ihr die Kehle zuschnürte. »Ja, Königin Violet.«
Der Triumph ließ Violet lächeln. Sie war wahrhaftig Königin. Rachel wusste, dass Violets Vorliebe ausschließlich den exquisitesten Dingen, dem kunstvollsten und aufwändigsten Zierrat galt, ob dies nun Vorhänge waren oder Geschirr, eleganteste Kleider und kostbarste Juwelen. Sie bestand darauf, sich nur mit dem Allerfeinsten zu umgeben - und das schon damals, als sie noch Prinzessin war. Umso seltsamer musste es scheinen, dass sie jetzt in einer Höhle hauste.
»Königin Violet, was tut Ihr nur an diesem grässlichen Ort?«
Einen Moment lang starrte Violet auf sie herab, dann fuchtelte sie mit etwas, das wie ein Stück Kreide aussah, vor ihrem Gesicht herum. »Mein Erbe, das, was mir vererbt wurde.«
Rachel begriff nicht. »Euer was?«
»Meine Gabe.« Sie zuckte beiläufig die Achseln. »Na ja, Gabe trifft es nicht ganz, aber es ist etwas ganz Ähnliches. Schau, ich stamme aus einer alten Künstlerfamilie. Erinnerst du dich noch an James? Den Hofkünstler?«
Rachel nickte. »Der nur eine Hand hatte.«
»Richtig«, sagte Violet gedehnt. »Ein Mann, der ein wenig zu vorlaut war, als dass es ihm gut getan hätte. Nur weil er ein Verwandter der Königin war, meinte er, sich gewisse Unbedachtheiten herausnehmen zu können. Das war ein Irrtum.«
Rachel blinzelte verständnislos. »Ihr seid miteinander verwandt?«
»Ein entfernter Cousin oder so ähnlich. In seinen Adern floss eine winzige Menge königlichen Blutes. Und dieses außergewöhnliche Blut birgt die einzigartige Gabe des ... Künstlertums. In der Familie der Herrscher von Tamarang hatte sich noch eine feine Spur dieses uralten Talents erhalten. Meine Mutter besaß dieses Talent nicht, aber wie sich herausstellte, hatte sie es über die Blutlinie an mich weitervererbt. Damals hingegen war James der Einzige, von dem wir wussten, dass er noch dieses Talent besaß. Und so kam es, dass er als Hofkünstler diente, dass er in Diensten der Krone und meiner Mutter, Königin Milena, stand.
Noch bevor der Sucher, der ehemalige Sucher, Richard, den ganzen Ärger anzettelte, der in der Ermordung meiner Mutter gipfelte, tötete er James, sodass unser Land zum ersten Mal in seiner Geschichte keinen Künstler zum Schutz der Krone in seinen Diensten hatte. Damals wussten wir noch nicht, dass ich tatsächlich dieses Talent in mir trug.« Mit einer Handbewegung wies sie auf die Frau neben sich.
»Sechs hier erkannte jedoch, dass ich es in mir trug, und klärte mich über mein bemerkenswertes Talent auf. Sie brachte mir auch bei, wie man sich seiner bedient, und erteilte mir ... Kunstunterricht. Eine Menge Leute war damals dagegen, dass ich Königin wurde einige davon fanden sich sogar unter den höchsten Beratern der Krone. Zum Glück unterrichtete Sechs mich von ihren heimlichen Intrigen.« Sie hielt Rachel das Stück Kreide vors Gesicht.
»Schließlich sahen die Verräter hier unten auf diesen Felswänden Zeichnungen von sich. Ich sorgte dafür, dass jeder wusste, was einem Verräter blühte. Dadurch wurde ich schließlich, dank Sechs’ Rat und Beistand, Königin. Jetzt wagt niemand mehr, sich mir zu widersetzen.«
Schon als Rachel damals im Schloss gelebt hatte, hatte sie Violet für überaus gefährlich gehalten. Da hatte sie aber noch nicht ahnen können, wie viel gefährlicher sie noch werden würde. Ein Gefühl von erdrückender Hoffnungslosigkeit überkam sie.
Violet und Sechs blickten auf, als sie Samuel mit eiligen Schritten in die Höhle zurückkehren hörten. Aus Angst, Violet könnte das Bedürfnis verspüren, abermals zuzuschlagen, beschloss Rachel, sich nicht umzudrehen und sich mit eigenen Augen zu überzeugen. Allerdings konnte sie Samuels Keuchen hören, als er näher kam. Mit einer herrischen Geste befahl Violet Rachel, zur Seite zu treten und Platz zu machen. Rachel gehorchte augenblicklich und sprang auf, nur zu froh, sich, wenn schon nicht aus Violets Einflussbereich, so doch wenigstens aus der Reichweite ihrer Hände entfernen zu können.
Samuel hatte einen Lederbeutel bei sich, der von einer Zugschnur zusammengehalten wurde. Behutsam setzte er ihn auf dem Boden ab und öffnete ihn, dann blickte er hoch zu Sechs. Diese forderte ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung auf, fortzufahren. Es schien eine Art Kästchen zu sein. Als es aus dem Beutel zum Vorschein kam, sah Rachel, dass es so schwarz war wie der Tod höchstselbst, so schwarz, dass sie glaubte, sie alle könnten ohne weiteres in dieses schwarze Nichts hineingesogen werden und in der Unterwelt verschwinden.
Samuel fasste das unheimliche Ding mit einer Hand und reichte es Sechs, die es ihm mit einem Lächeln aus der Hand nahm.
»Wie versprochen«, sagte sie an Violet gewandt, »überreiche ich Euch hiermit Königin Violets Kästchen der Ordnung.«
Rachel erinnerte sich, dass Königin Milena ebendieses Kästchen mit dem gleichen ehrfurchtsvollen Respekt in Händen gehalten hatte, nur dass es jetzt nicht mehr über und über mit Silber, Gold und Juwelen besetzt war. Zedd hatte ihr erklärt, das eigentliche Kästchen der Ordnung habe sich unter dieser Schicht aus Juwelen befunden. Demnach musste dies das Kästchen sein, das die ganze Zeit über darunter verborgen gewesen war, als sie es im Auftrag des Zauberers Giller aus dem Schloss hatte verschwinden lassen.
Und nun lebte Giller nicht mehr, Richard war nicht mehr im Besitz seines Schwertes, und Rachel befand sich wieder in der Gewalt Violets. Und zu allem Überfluss besaß Violet, wie früher ihre Mutter, nun selbst eines dieser kostbaren Kästchen der Ordnung. Violet lächelte geziert. »Siehst du, Rachel? Wozu brauche ich diese alten, nutzlosen Berater? Hätten sie auch nur einen Bruchteil von dem erreichen können, was ich erreicht habe? Wie du siehst, lasse ich mich von meinem Weg zum Erfolg nicht abbringen, im Gegensatz zu diesen schwächlichen Menschen, mit denen du dich abgibst. Das ist es, was eine Königin ausmacht.
Jetzt befindet sich das Kästchen der Ordnung wieder in meinem Besitz, und du bist auch wieder zurückgekehrt.« Wieder fuchtelte sie mit der Kreide. »Und ich werde auch Richard wieder in meine Gewalt bekommen, damit er seine Strafe antreten kann.«
Sechs seufzte. »Genug der fröhlichen Wiedersehensfreude. Ihr habt bekommen, was Ihr wolltet. Samuel und ich werden uns jetzt über seinen nächsten Auftrag unterhalten müssen, und Ihr müsst wieder zurück in Euren ›Kunstunterricht‹.«
Violet lächelte verschwörerisch. »Richtig, mein Unterricht.« Sie bedachte Rachel mit einem stechenden Blick. »Drüben im Schloss wartet schon eine Eisenkiste auf dich. Und außerdem wäre da noch die Frage deiner Strafe.«
Sechs neigte kurz ihr Haupt. »Ich werde mich dann entfernen, meine Königin.«
Violet entließ sie mit einer flüchtigen Handbewegung. Sechs packte Samuel am Oberarm und begann, sich mit ihm zu entfernen. Während er unablässig darauf achten musste, beim Klettern über die Steine oder Umgehen derselben nicht das Gleichgewicht zu verlieren und sicher aufzutreten, schien Sechs ohne die geringste Mühe durch das trübe Dämmerlicht zu gleiten.
»Komm mit«, forderte Violet sie in einem Tonfall falscher Heiterkeit auf, der Rachel das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Du kannst mir beim Zeichnen zusehen.«
Während Violet die Fackel ergriff, erhob sich Rachel auf wackeligen Beinen und folgte ihrer Königin im Licht der schwindenden Flamme, deren Schein die endlosen Darstellungen grauenhafter Dinge beleuchtete, die irgendwelchen Personen angetan wurden. An den Wänden gab es nicht eine einzige Stelle, die nicht mit irgendeiner Schrecken erregenden Szene bedeckt war. Wie sehr vermisste sie in diesem Augenblick Chase, seinen Trost, sein strahlendes Lächeln, wenn sie sich im Unterricht gut gemacht hatte, seine tröstliche Hand auf ihrer Schulter. Sie liebte ihn so sehr. Und dieser Samuel hatte ihn getötet und damit alle ihre Hoffnungen und Träume zunichte gemacht. Ein dumpfes Gefühl der Verzweiflung überkam sie, als sie Violet immer tiefer in die Dunkelheit hinein folgte, in den Wahnsinn.