Unvermittelt stand Sechs auf und begab sich mit drei großen Schritten wortlos hinüber zu der Höhlenwand, auf der Violets ausufernde Zeichnung prangte. Vorsichtig presste sie ihre knochige Hand auf die mit Kreide gezeichneten Symbole, die Violet dort schon vor Tagen aufgebracht hatte, denn diese hatten plötzlich zu leuchten begonnen - die gelbe Kreide in gelbem Licht, die rote in rotem und die blaue in blauem. Wie Licht, das von einer sich kräuselnden Wasseroberfläche zurückgeworfen wurde, schillerte der gespenstische Lichterglanz der aufflackernden Farben über die Höhlenwände.
Rachel sah kurz zu Violet, die auf einem niedrigen, mit purpurnen Quasten verzierten Hocker saß, den sie sich schon vor Tagen von ihr hatte hereintragen lassen. Gelangweilt pulte die Königin mit dem Fingernagel an dem abblätternden Gestein der Felswand hinter sich. Rachel war schon seit einer Weile dazu übergegangen, sie als Höhlenkönigin zu betrachten, da sie dort mehr und mehr ihrer Zeit verbrachte.
Violet hatte beim Zeichnen nicht auf einem Felsen sitzen mögen. So ein schmutziger alter Stein, hatte sie erklärt, mochte mehr als gut genug für Rachel sein, aber wohl kaum für eine Königin. Sechs hatte nicht das mindeste Interesse an dem Hocker gezeigt; offenbar gingen ihr bedeutsamere Dinge im Kopf herum als irgendwelche Sitzpolster. Violet jedoch war es leid geworden zu warten, während Sechs über ebendiese bedeutsamen Dinge nachgrübelte, also hatte sie sich den schweren Hocker von Rachel in die Höhle schleppen lassen. Und nun hockte die Königin der Höhle im flackernden Schein der Fackeln und leuchtenden Symbole auf ihrem quastenverzierten Plüschhocker und wartete darauf, dass ihre Beraterin sie in der Frage beriet, was denn unbedingt als Nächstes zu geschehen habe.
»Er ist bereits auf dem Weg hierher«, zischelte Sechs. »Er ist durch die Leere wieder auf dem Weg hierher.«
Rachel war sich darüber im Klaren, dass sie in Wahrheit gar nicht zu Violet sprach, sondern mit sich selbst. Die Königin hätte ebenso gut gar nicht vorhanden sein können.
Violet hob kurz den Kopf, machte aber nicht den Eindruck, als wäre sie geneigt, sich die Mühe zu machen und sich zu erheben, solange Sechs sie nicht von der Notwendigkeit weiterer Zeichnungen überzeugt hatte. Gleichwohl war unverkennbar ihr Interesse geweckt. Immerhin war es das, was sie gewollt hatte, hatte sie sich überhaupt nur aus diesem Grund die Mühe gemacht, diese komplizierten Zeichnungen tief unten in einer klammen, verdreckten Höhle anzufertigen, wo sie doch ebenso gut hätte Kleider oder Geschmeide anprobieren oder prunkvolle Feste besuchen können, um sich von den Gästen dort als jugendliche Königin umschmeicheln zu lassen. Sechs schien in einer ganz eigenen Welt gefangen, als ihre Hände über die Zeichnung hinwegglitten. Sie presste ihr Gesicht mit der Seite gegen den Fels und streckte gleichzeitig einen Arm nach hinten.
»Kommt her, mein Kind.«
Ein Ausdruck des Missfallens ging über Violets plumpe Züge.
»›Meine Königin‹ wolltet Ihr wohl sagen.«
Entweder hatte Sechs sie nicht gehört oder sie verspürte keine Neigung, sich zu korrigieren. »So beeilt Euch schon. Es ist an der Zeit, mit den Verbindungen zu beginnen.«
Violet stand auf. »Jetzt? Es ist doch schon lange nach Mittag. Ich verhungere.«
Sechs, die mit der Wange über die Zeichnung von Richard strich wie ein Katze, die ihren Kopf an jemandes Beinen reibt, schien sich nicht im Mindesten für das Mittagessen zu interessieren. Stattdessen winkte sie Violet mit einer ungeduldigen Bewegung ihrer langen Finger zu sich. »Es muss jetzt sein. Beeilt Euch. Eine so seltene Gelegenheit dürfen wir nicht ungenutzt verstreichen lassen. Verbindungen, wie wir sie benötigen, brauchen ihre Zeit, und es lässt sich unmöglich sagen, wie viel uns davon zur Verfügung steht.«
»Wieso haben wir dann nicht schon früher damit angefangen, als es ...«
»Es muss jetzt begonnen werden, solange er sich in der Leere befindet.« Sechs machte eine scharfe, kratzende Bewegung in der Luft. »Es ist leichter, ihm die Augen auszukratzen, solange er nichts sieht«, erklärte sie mit ihrer zischelnden Stimme.
»Ich verstehe nicht, wieso ...«
»Der Weg ist der Weg. Wollt Ihr es nun oder nicht?«
Mit dem Lösen ihrer verschränkten Arme lockerte sich auch Violets trotzige Haltung. Ihr Gesichtsausdruck nahm einen düsteren Zug an.
»Doch, ich will.«
Über Sechs’ Gesicht huschte ein schiefes Lächeln. »Dann lasst es beginnen. Ihr müsst jetzt die Verbindungen herstellen.«
Plötzlich, mit einer Miene der Entschlossenheit, nahm Violet die bunten Kreidestücke von einem kleinen Vorsprung in der Felswand hinter ihrem königlichen Hocker und gesellte sich zu Sechs hinüber, die bereits mit ihrem langen Finger ungeduldig auf das Gestein tippte.
»Beginnt beim Zeichen für den Dolch, so wie ich es Euch beigebracht habe und Ihr es geübt habt, um sicherzustellen, dass das von Euch Erwirkte mit dem Herstellen der Verbindung bereit ist, rasch und sicher zu schneiden.«
»Ja, ja, ich weiß schon«, sagte Violet und setzte die Spitze der gelben Kreide beherzt auf eines der sorgfältig ausgeführten leuchtenden Symbole, ein Stück seitlich von Richard. Sofort packte Sechs ihr Handgelenk und zog ihre Hand zurück, gerade so weit, dass sich die Kreide wieder ein Stück vom Fels entfernte, bewegte Violets Handgelenk dann ein paar Zoll weit zur Seite und ließ sie die Kreide erneut auf dem Symbol ansetzen, allerdings am nächsten Scheitelpunkt eines Gebildes, dessen äußere Umgrenzungslinie aus Dutzenden von Punkten bestand.
»Ich habe Euch doch erklärt«, erläuterte Sechs mit bemühter Höflichkeit, während sie Violet half, die Linie zu beginnen, »dass ein Fehler an dieser Stelle uns bis in alle Ewigkeit verfolgen würde.«
»Weiß ich doch - ich hatte bloß den falschen Scheitelpunkt erwischt, das ist alles«, schnaubte Violet pikiert. »Jetzt hab ich’s jedenfalls.«
Sechs, den Blick auf die Zeichnung geheftet, ohne die Königin weiter zu beachten, nickte bestätigend, während sie zusah, wie die Kreide über das Gestein zu schaben begann.
»Jetzt wechselt zu Rot«, drängte sie mit gesenkter Stimme, kaum hatte Violet die Kreide ein paar Zoll weit über die leere Fläche bewegt.
Widerspruchslos und ohne zu zögern, tauschte Violet die gelbe Kreide gegen die rote aus und begann, sie in einem Winkel zu der gelben Linie zu bewegen, die sie bereits eingezeichnet hatte. Nachdem sie die Hälfte der noch verbliebenen Strecke bis zu der Darstellung von Richard zurückgelegt hatte, hielt sie, ohne dazu aufgefordert werden zu müssen, inne und wechselte zur blauen Kreide.
Schließlich zögerte sie doch und sah hoch zu Sechs. »Das ist der Knotenpunkt? Richtig?«
Sechs hatte bereits angefangen zu nicken. »Ja, das ist richtig«, murmelte sie, sichtlich zufrieden mit dem, was sie sah. »So ist es recht, führt sie hinten herum und dann schließt die erste Ligatur ab.«
Am Ende der roten Linie zeichnete Violet einen blauen Kreis, ehe sie die freie Fläche auf der glatten, dunklen Felswand durchquerte. Als die blaue Kreide schließlich einen der Punkte des nächsten Symbols erreichte, ging sie noch einmal zum Ausgangspunkt zurück und zeichnete eine Linie ein, die den Kreis mit Richard verband. Die von Violet soeben vervollständigte Dreiergruppe von Linien begann zu leuchten; ein Lichtstrahl ließ den blauen Kreis aufleuchten, als wäre er ein Signalfeuer, das durch ein Fenster im dunklen Gestein erstrahlte.
Unvermittelt hob Sechs eine Hand und gebot ihr Einhalt, ehe sie die Kreide am nächsten Punkt der Abfolge aufsetzen konnte.
»Was ist denn?«, wollte Violet wissen.
»Irgendetwas ... ist nicht so, wie es sein sollte ...«
Sechs presste ihr Gesicht mit der Seite auf die Zeichnung, legte ihre Wange diesmal aber genau über Richards Gesicht.
»Ganz und gar nicht so, wie es sein sollte ...«
Richard sog einen weiteren silbrigen, ekstatischen Atemzug in seine Lungen, nur dass er sich jetzt, da das Gefühl von seinen Sorgen überlagert wurde, nicht ganz als die pure Verzückung erwies, die er normalerweise in der Sliph verspürte.
Im selben Moment wurde ihm klar, dass ihn auf seinen Reisen durch die Sliph eigentlich immer etwas zutiefst bekümmerte; schließlich bewog ihn stets irgendein Ärger, überhaupt erst in der Sliph zu reisen. Trotzdem, so wie jetzt hatte es sich noch nie angefühlt. Es war weniger ein Angstgefühl als vielmehr ein Gefühl einer allumfassenden und doch ungreifbaren Schwere düsterer Vorahnung. Mit jedem Atemzug setzte ihm diese Phantomlast mehr zu. So etwas wie normales Sehen war im Innern der Sliph nicht möglich, wie es auch kein wirkliches Zeitgefühl oder ein Gespür für oben und unten gab. Trotzdem gab es etwas, was dem sehr nahe kam, man sah Farben und gelegentlich auch unscharfe Formen, die kurz vor einem auftauchten, nur um gleich darauf nicht minder plötzlich wieder zu verschwinden. Es gab sogar eine visuelle Wahrnehmung des Phänomens der bewusstseinsverändernden Geschwindigkeit, die ihm das Gefühl gab, nicht viel mehr zu sein als ein von einem kräftigen Bogen abgeschnellter Pfeil. Gleichzeitig hatte man das Gefühl, vollkommen regungslos in der dichten Leere der Sliph zu schweben. Die Verbindung dieser beiden widersprüchlichen Empfindungen ließ die Erfahrung zu einer berauschenden Mixtur geraten, die seinem Bedürfnis, sie getrennt voneinander zu betrachten, zuwiderlief. Während er in der quecksilbrigen Essenz der Sliph dahinraste, begann er, seine Angstgefühle mehr und mehr außer Acht zu lassen. Dann plötzlich spürte er eine zarte Berührung auf seiner Haut, so als hätte ihn etwas gestreift, ein verstohlener Druck, den er augenblicklich als ein auf seinen Reisen in der Sliph noch nie gespürtes Gefühl identifizierte. Ein ahnungsvolles Kribbeln durchflutete ihn.
Doch Vorahnung, dämmerte ihm plötzlich, war körperlich nicht so spürbar wie die Berührung.
Während er, gefangen in der endlosen silbrigen Leere, dahinschwebte, versuchte er die Wahrnehmung, von etwas gestreift worden zu sein, von allem anderen abzusondern. Richard spürte die friedliche Abgeschiedenheit der Sliph, die ihn umgab, ihn umschmeichelte und ihn von dem schrecklichen, ungestümen, rasend schnellen Dahinhasten absonderte, das im Übrigen den Eindruck erweckte, als könnte es einen Menschen glatt in Stücke reißen. Er hatte noch immer das sichere Gefühl, dass der Balsam gelassener Heiterkeit ihm die Angst nahm, die Flüssigkeit, in der er trieb, in seine Lungen zu saugen.
Aber da war auch noch eine andere Empfindung, obschon er dieses Besorgnis erregende Gefühl noch nicht klar genug von allen anderen trennen konnte, um es einzuordnen.
Mit der wachsenden Gewissheit stellte sich jedoch die Überzeugung ein, dass irgendetwas nicht stimmte - auf beängstigende Weise nicht stimmte. Die Erkenntnis war umso verstörender, als er nicht begreifen konnte, woher er wusste, dass etwas nicht ganz so war, wie es sein sollte. Er bemühte sich zu verstehen, woher der Gedanke rührte.
Der Auslöser, entschied er, konnte nur diese verstohlene Berührung gewesen sein. Er überlegte kurz, ob er es sich vielleicht eingebildet haben konnte, verwarf den Gedanken aber wieder. Das Gefühl war echt gewesen.
Fast schien es, als wäre er einem furchtbaren verderblichen Einfluss ausgesetzt - so als läge man an einem wunderschönen Tag auf einer warmen, sonnenbeschienenen Wiese, umgeben von einer Vielfalt von Farben und dem betörenden Duft wilder Blumen, und schaute zu, wie die wattegleichen Wolken gemächlich an einem strahlend blauen Himmel dahin ziehen, und plötzlich steigt einem der erste schwache Hauch eines verwesenden Kadavers in die Nase, während man gleichzeitig gewahrt, dass das leise Geräusch, das man die ganze Zeit schon vernommen hatte, das Gesumm von Fliegen ist. Was einem normalerweise, während man in der silbrigen Stille der Sliph dahin schoss, wie eine Spanne völliger Zeitlosigkeit erschien, hatte begonnen, sich zu einer quälend angestrengten Schussfahrt zu dehnen.
Während Cara seine rechte Hand bereits mit eisernem Griff gepackt hielt, klammerte sich Nicci jetzt noch fester an seine Linke. Ihr fordernder Klammergriff verriet ihm, dass sie ebenfalls etwas gespürt hatte. Er hätte sie gerne danach gefragt, doch in der Sliph war es unmöglich, miteinander zu sprechen.
Richard öffnete die Augen ein Stück weiter und versuchte seine Umgebung genauer zu erfassen, doch abgesehen von den schimmernden Balken aus blauem, rotem und gelbem Licht, die durch das Dunkel stachen, in dem sie dahin schossen, war in dieser lautlosen, trüben Welt wenig zu erkennen. Dem Empfinden nach bewegten sich die Lichtbalken nicht mehr so wie zuvor. Allerdings war es in der Sliph schwierig, solche Dinge zu entscheiden, da eine direkte Wahrnehmung nicht möglich war und das Geschehen sich nur vage ahnen ließ.
Da draußen, vor ihm, war irgendetwas, erkannte er jetzt, etwas, das mit fließenden Bewegungen durch das silbrige Dunkel manövrierte. Zunächst ähnelte es einer Ansammlung länglicher, schlanker Blütenblätter, die im Begriff waren, sich aufblühend zu öffnen. Im Näher kommen sah er jedoch, dass dieses Etwas eher einer Vielzahl von Tentakeln glich, langen, sich in Wellen bewegenden und verjüngenden Armen, die sich fächerartig von einem zentralen Körper ausbreiteten, den er aus irgendeinem Grund noch nicht recht erkennen konnte.
Der Anblick war umso verwirrender, als er so wenig nachvollziehbar war. Während es immer näher kam, verdichtete sich sein Eindruck, dass sich dieses Etwas, was immer es sein mochte, aus einem geordneten, wogenden, aus Glassegmenten bestehenden Gebilde zusammensetzte. Hinter den durchsichtigen, sich nach allen Seiten ausbreitenden Armen konnte er die schimmernden Balken aus Farbe und Licht erkennen.
Es war das Seltsamste, das er je gesehen hatte. Sosehr er sich bemühte, er wurde einfach nicht klug daraus. Es war, als wäre es da und doch auch nicht.
Und dann durchflutete ihn die Erkenntnis mit einem eiskalten Gefühl der Angst.
Im selben Moment zog Nicci so fest an seiner Hand, dass sie ihm um ein Haar den Arm ausgekugelt hätte. Der Ruck musste ihn irgendwie nach hinten gerissen haben, denn auf einmal schwebte Cara, die noch immer seine andere Hand umklammert hielt, wie im freien Fall an ihm vorbei.
Nicci hatte ihn gerade noch rechtzeitig zurückgerissen. Jetzt wusste Richard auch, was dieses Etwas war.
Es war die Bestie.
Schlagartig wurde das Gefühl, sich in unmittelbarer Gegenwart des Bösen zu befinden, so übermächtig, dass es ihn mit einer alles erstickenden Panik umfing. Während sie einer flüchtigen Vision gleich an ihm vorüberzog, drehte sich die Bestie; die glasigen Tentakel fächerten sich auf, reckten sich in seine Richtung und versuchten, nach ihm zu greifen.
Ein erneuter scharfer Ruck von Nicci, und er wurde aus dem sternenförmigen Geflecht aus Tentakeln herausgezogen, das sich bereits vor ihm aufgefächert hatte. Augenblicklich versuchte das Etwas, sich erneut um ihn zu schließen.
Richard löste seine Hand mit einem Ruck aus Caras Griff und zog sein Messer. Sofort krallte sich ihre nunmehr freie Hand in sein Hemd, um ihn nur ja nicht zu verlieren.
Er tat sein Möglichstes, hackte immer wieder auf die nach ihm greifenden Arme ein, die ihn in ihre tödliche Umklammerung zu ziehen versuchten, doch schon nach kürzester Zeit wurde ihm klar, dass ein Messerkampf in der Sliph praktisch ein Ding der Unmöglichkeit war. Die Umgebung war viel zu dickflüssig, als dass er auch nur annähernd mit der nötigen Schnelligkeit hätte zuschlagen können. Es war, als versuchte man, in Honig zu manövrieren. Er wechselte seine Taktik und wartete stattdessen ab, bis die Arme sich um ihn zusammenzogen, wartete, bis das, was immer sich im glasigen Zentrum befand, sich ihm näherte.
Als es so weit war, zielte er mit seiner Klinge auf das denkende Zentrum der durchsichtigen Bedrohung. Doch statt von der Klinge durchbohrt zu werden, schien das Wesen sich um Richards Messer zu beulen und diesem mühelos auszuweichen.
Dann attackierte es erneut, mit einem so plötzlichen, zielgerichteten Ungestüm, dass Richard es spüren konnte. Das Wesen bewegte sich mit einer fließenden Eleganz, die von der flüssigen Welt, die sie umgab, völlig unbeeinträchtigt schien.
Auf der einen Seite erblickte Richard die schimmernde Silhouette Caras, die, immer noch in sein Hemd gekrallt, mit ihrer freien Hand die Bestie anzugreifen versuchte. Auf seiner anderen Seite, das wusste er, versuchte Nicci, Magie zu wirken. Doch offenbar schien ihre Magie in der Umgebung der Sliph nicht zu funktionieren. Ein Tentakel der Bestie wickelte sich mehrfach um Richards Arm, ein anderer legte sich peitschenschnell um Caras. Mit der anderen Hand packte sie sein Handgelenk. Die Bestie bemächtigte sich auch ihres anderen Arms und trennte die beiden mühelos voneinander. Augenblicke später war Cara verschwunden. In dem trüben Dunkel konnte Richard nicht mehr erkennen, wo sie sich befand, ob sie vielleicht noch in der Nähe war. Schlimmer, er wusste nicht einmal, ob sie wohlauf war oder sich in der Gewalt der Bestie befand. Als sich immer mehr der wellenartigen, durchsichtigen Arme aus dem Dunkel schälten und sich um sie ringelten, zog Nicci ihn mit ihrem schützenden Arm fester an sich und hielt ihn fest. Es war, als ob man sich in einem Nest voller Schlangen verhedderte, die sich, hatten sie erst einmal Kontakt, schlängelnd und mit großer Kraft immer fester zusammenzogen. Einer der Arme schnürte sich so fest um Richards Bein, dass er glaubte, er werde ihm das Fleisch von den Knochen reißen.
Obwohl er Nicci nicht im üblichen Sinne hören konnte, gewahrte er ihre gedämpften wütenden Schreie, während sie sich dieses Wesens zu erwehren versuchte, das sie mit seinen Armen umschlungen hatte. Ein seltsames Zucken aus lautlosen Blitzen umhüllte Nicci, die offenbar ihre Kraft einzusetzen versuchte, was gegen die Bestie jedoch ohne Wirkung blieb.
Den Schmerz ignorierend, den ihm die glasigen Tentakel zufügten, stach Richard immer wieder auf sie ein und stieß seine Klinge in die wulstigen, teilweise nur halbwirklichen Arme. Entschlossen und mit zielgerichtetem Zorn schlug er mit seinem Messer um sich, bis es ihm gelang, tatsächlich einige Arme von dem inneren Kern des Wesens abzutrennen. Einmal abgetrennt, fielen sie unter wildem Schlängeln in die sie umgebende Leere, als versänken sie in der bodenlosen Tiefe eines Meeres.
Es schien aussichtslos. Immer mehr dieser schlängelnden Tentakel langten aus der Dunkelheit nach ihm. Es war, als befände man sich auf dem Grund einer dunklen, mit wütenden Nattern angefüllten Grube. Unter Aufbietung all seiner Kräfte kämpfte Richard weiter, schnitt, stieß zu, schlug um sich, bis seine Arme vor Anstrengung zu schmerzen begannen. Nicci rang einhändig mit den mächtigen Tentakeln, während sich ihr anderer Arm noch immer weigerte, ihn loszulassen. Die Art, wie sie sich krümmte und verdrehte, verriet ihm, dass sie fürchterliche Qualen litt. Er ließ von den ringelnden Armen ab, die sich um ihn gelegt hatten, und hackte mit seiner ganzen Wut auf die Arme der Bestie ein, die Nicci bei dem Versuch, sie von ihm zu trennen, solche Schmerzen bereiteten. Doch dann gab es einen heftigen Ruck, und sie wurde von ihm fortgerissen.
Auf einmal war Richard allein - mitten im Nirgendwo mit einem glasigen, schlüpfrigen Wesen von ungeheurer Kraft, das ihn in seinen Mittelpunkt zu ziehen versuchte, aus dem bereits knurrende, schnappende und klackende Laute hervordrangen.
Es war unmöglich, sich eines solchen Wesens zu erwehren, sich gegen diese ungeheure Kraft zu behaupten und seinem vielarmigen Griff zu entkommen. Immer mehr dieser Arme legten sich peitschenartig um ihn, um ihn einzufangen.
Schließlich, bevor auch noch sein Arm umhüllt wurde, stieß er sein Messer unter Aufbietung seiner ganzen Körperkraft in die Kernmasse des Wesens, das er nicht einmal klar erkennen konnte. Und stieß auf harten Widerstand. Die Bestie heulte auf - mit einem Geräusch, das ihm in den Ohren schmerzte. Die Arme lockerten sich ein wenig - nicht genug, um ihn vollends freizugeben, aber gerade so viel, dass er sich mit einer kräftigen Körperdrehung aus dem Griff des Wesens winden konnte. Im Nu schoss er davon wie ein Kürbiskern, den man mit nassen Fingern zusammenpresst, und befreite sich aus der tödlichen Umklammerung.
Schwimmend versuchte sich Richard zu entfernen, den um sich peitschenden, durchsichtigen, nach ihm schnappenden Armen irgendwie zu entkommen, aber die Bestie war schneller und kräftiger als er und absolut unermüdlich.
»Hier!«, drängte Sechs und klopfte ungeduldig mit den Knöcheln auf die Mitte eines Emblems.
Sofort lief Violet zu der Stelle hinüber, zu der ihre Beraterin sie scheuchte. Mit fixen, sicheren Bewegungen führte sie ihre Hand, während sie sich mit dem Handrücken den Schweiß erst aus dem Gesicht und schließlich mit den Fingern aus den Augen wischte. So beflissen und schnell hatte Rachel sie noch nie arbeiten sehen. Sie hatte zwar keinen Schimmer, was vorging, dennoch war offensichtlich, dass irgendetwas nicht so lief, wie Sechs erwartet hatte. Sie befand sich in einem Zustand, der bedenklich zwischen Panik und Zorn schwankte. So oder so, Rachel bekam eine Heidenangst.
Während Violet mit geschwinden Bewegungen Verbindungen herstellte, die Kreide wechselte und sich von einem Punkt zum anderen bewegte, ging Sechs wieder dazu über, mit leiser Stimme ihre Beschwörungen zu sprechen. Der ätzende Klang ihrer gemurmelten Worte schien sich ihr glatt in die Seele einzubrennen. Sie konnte zwar weder einzelne Worte unterscheiden noch deren Bedeutung verstehen, doch wurden sie mit einer Boshaftigkeit vorgetragen, dass sie große Angst bekam.
Ihr Blick ging zum fernen Höhleneingang, aber da es draußen dunkel war, war dort nicht das Geringste zu erkennen. Sie wäre gern geflohen, traute sich aber nicht. Sie wusste, wenn sie Sechs oder Violet zwang zu unterbrechen, was immer sie gerade taten, um ihr hinterherzulaufen, würde das sehr üble Folgen für sie haben. Chase hatte ihr beigebracht, solche spontane Regungen, wie er es nannte, zu zügeln und stattdessen die Augen offen zu halten, ob sich nicht eine echte Möglichkeit ergab. Er hatte ihr eingeschärft, solange sie nicht gerade in Lebensgefahr schwebte, nur dann zu handeln, wenn sie einen wohlüberlegten, genau durchdachten Plan hatte. Auf keinen Fall aber sollte sie aus lauter Angst etwas Unbedachtes tun, sondern sich ihr Vorgehen genau überlegen, um ihre Erfolgsaussichten zu verbessern.
Obwohl die beiden überaus beschäftigt schienen, wusste Rachel, dass sie in ihrem gehetzten Zustand auf jede Unbotmäßigkeit ihrerseits mit Jähzorn und hemmungsloser Brutalität reagieren würden. Es war nicht der richtige Moment; einfach aufzuspringen und wegzulaufen war kein guter Plan, und das wusste sie. Während Rachel still und ruhig dasaß und sich nach Kräften unsichtbar zu machen versuchte, tippte Sechs behutsam mit den Knöcheln ihrer geballten Faust auf mehrere der aufleuchtenden Knotenpunkte in den von Violet bereits eingezeichneten Verbindungen. Die einzelnen strahlend leuchtenden Kreise erloschen mit einem tiefen, knurrenden Geräusch, das Rachel einen Schauder über den Rücken jagte. Die Höhle schien von dem Auf und Ab der rhythmischen Beschwörungen Sechs’ widerzuhallen. Die mit beherzten, schwungvollem Strichen zeichnende Violet warf einen Blick zur Seite, um zu überprüfen, wie weit Sechs inzwischen war. Sechs, die ein Leuchtzeichen nach dem anderen löschte, bemerkte ihren Blick, worauf sich Violet, wie in Trance, mit dem Zeichnen noch mehr beeilte. Bei jeder Linie, die Violet mit hastigen Bewegungen auf die Felswand warf, gab die Kreide ein klackendes Geräusch von sich, ein Laut, der dem Rhythmus von Sechs’ Beschwörungen entsprach.
Rings um die Darstellung Richards tippte Sechs mit den Knöcheln ihrer Faust auf bestimmte Punkte in den Verbindungen, die Violet in stundenlanger ununterbrochener Arbeit dort eingezeichnet hatte, und wirkte dazu einen Zauber, indem sie in einem sich hebenden und senkenden Singsang gesprochene Verse murmelte. Als Rachel schon glaubte, Violet könnte jeden Augenblick vor Erschöpfung zusammenbrechen, steigerte sie sich, davon weit entfernt, in einen fieberhaften Wahn hinein und versuchte mit aller Kraft, Sechs stets ein Stück voraus zu sein. Trotz des ungeheuren Tempos, in dem ihre Hände über die Felswand flogen, schien jede Linie, die Violet einzeichnete, korrekt zu sein, schien jeder Kreuzungspunkt präzise und genau getroffen. Offenbar zahlte sich jetzt aus, dass Sechs sie das Zeichnen der Symbole endlos hatte üben lassen.
Mittlerweile war die Darstellung Richards fast vollständig von einem Geflecht aus Symbolen und Verbindungslinien umgeben. Mit einem seltsamen, laut hervorgestoßenen Wort, um sich über dem Geheul des Windes Gehör zu verschaffen, löschte Sechs das letzte Lichtzeichen um die Figur Richards. Abrupt flaute der Wind ab. Kleine Laubstückchen und andere Partikel trudelten in der plötzlich stillen Luft zu Boden.
Sechs hielt in ihren Beschwörungen inne. Ein fragendes Zucken ging über ihre Stirn. Schließlich legte sie ihre Fingerspitzen auf mehrere Symbole, als wollte sie deren Puls fühlen. Funkelndes, farbiges Licht flackerte durch die Höhle.
»Jetzt hat sie ihn«, sagte sie leise bei sich.
Violet hielt inne, schluckte und hielt den Atem an. »Was?«
»Vom Apogäum bis zum unteren Scheitelpunkt.« Sie warf der verschreckten Violet einen giftigen Blick zu. »Nun macht schon.«
Ohne Zögern wandte Violet sich wieder der Felswand zu, streckte die Hand aus und zog von einem der zentralen Elemente über Richards Kopf mehrere verschlungene Linien nach unten. Sechs hob eine Hand. »Haltet Euch bereit, aber berührt die Hauptbeschwörungspunkte erst, wenn ich es sage.«
Violet nickte. Auf die Fingerspitzen gestützt, beugte sich Sechs über die Darstellung Richards und verdrehte die Augen. Dann hauchte sie, unter den Augen von Rachel und Violet, mit leisem Murmeln etliche seltsame Worte.