49

Richard wurde abrupt aus dem Schlaf gerissen, als er hörte, dass die Tür aufgeschlossen wurde. Das Wecken war umso unsanfter, als er gerade von Kahlan geträumt hatte. Zwar konnte er sich an den Traum nicht erinnern, doch wusste er, dass sie stets darin vorkam. Er fühlte sich durchdrungen von ihrer Gegenwart, als wäre sie tatsächlich bei ihm gewesen, um ihm dann wieder genommen zu werden. Der Verlust selbst ihrer Traumgegenwart hinterließ kalte Leere und entmutigte Richard. Die Welt stellte sich in seinen Träumen so viel wunderbarer dar. Auch dann, wenn er sich nicht an sie erinnerte, versüßte sie sein Leben wie leise Musik aus der Ferne. Das genügte, um in ihm den Wunsch keimen zu lassen, nicht in die Welt des Wachseins zurückzukehren.

Richard wollte sich aufrichten und stellte fest, wie steif sein Körper war, weil er auf nacktem Steinboden geschlafen hatte. Er fühlte sich benommen und bezweifelte, dass er mehr als wenige Stunden geschlafen hatte. Als er die Wachen in seine steinerne Zelle strömen sah, erhob er sich taumelig und versuchte dabei, seine verspannten Muskeln zu recken.

Sechs rauschte in den Raum wie ein Wind des Unheils. Im Kontrast zu ihrem borstigen schwarzen Haar und der wallenden Robe wirkte die Haut gespenstisch. Sie richtete die blassblauen Augen auf ihn, als würde außer ihm nichts auf der Welt existieren. Der Blick lastete auf Richard mit dem Gewicht eines Gebirges. Die Gegenwart der Hexe zermürbte seinen Willen.

Er trieb in diesem Gefühl, das ihn zu überschwemmen drohte. Während sie näher trat, kämpfte er darum, den Kopf über dem dunklen Wasser zu halten, das seinen Willen verschlang. In einem tosenden Fluss rang er um sein Leben, doch die starke Strömung zog ihn nach unten.

»Komm mit, wir müssen in die Höhle. Wir haben nicht viel Zeit.«

Gern hätte er gefragt, was sie damit meinte, nicht viel Zeit zu haben eine Frage, für die er jedoch glaubte, nicht genug Kraft aufbringen zu können -, daher fragte er stattdessen etwas anderes, das ihn genauso sehr bewegte.

»Wisst Ihr, wo Kahlan ist?«

Sechs blieb stehen und drehte sich halb zu ihm um. »Natürlich. Sie ist bei Jagang.«

Jagang. Richard war wie betäubt. Sechs erinnerte sich nicht nur an Kahlan, sie wusste sogar, wo sie sich aufhielt. An dem Schmerz, den diese Tatsache bei ihm auslöste, schien sie sich zu ergötzen. Sie drehte sich wieder nach vorn und marschierte zur Tür. »Los jetzt. Rasch.«

Da stimmte etwas nicht. Er wusste zwar nicht, was, aber er spürte es in der Macht, die sie über ihn hatte. Sie hatte einen Bann der verführerischen Beeinflussung gegen ihn eingesetzt, wie eine weiche Leine von grausamer Stärke, und dennoch war es anders als zuvor. Er fühlte diesen Unterschied. In ihrer Haltung lag etwas Gequältes. Das jedoch war es nicht, was ihn beunruhigte. Jagang hatte Kahlan. Die Frage, woher Sechs wusste, wer Kahlan war, kam ihm nicht einmal in den Sinn, weil die Bedeutung dieser Worte ihn niederschmetterte: Sie ist bei jagang.

Hätte der Sog von Sechs Richard nicht mitgezogen, wäre er auf dem Boden zusammengebrochen. Kahlan in Jagangs Händen war der schlimmste Albtraum für ihn. Blinde Panik stieg in ihm auf, während er der Hexe durch die verschlungenen düsteren Steingänge folgte. Er musste handeln und Kahlan helfen. Sie befand sich nicht nur in Gefangenschaft bei den Schwestern der Finsternis, sondern diese hatten sich zudem mit Richards und Kahlans ärgstem Feind verschworen.

Ein anderer Gedanke gewann die Oberhand - über die Sorge um Kahlan hinaus: Richard wusste, wo Jagang war. Der Kaiser marschierte nach D’Hara auf den Palast des Volkes zu. Und jetzt war Kahlan bei ihm.

Tief in Gedanken stellte er plötzlich fest, dass sie ins Freie getreten waren. Nun verstand er sofort, warum Sechs so aufgeregt war. Aus allen Richtungen strömten Soldaten auf den Hof. Es waren diejenigen, die er nachts zuvor in dem Lager gesehen hatte. Sechs fluchte vor sich hin und suchte einen Weg, wie sie den Hof verlassen konnten. An jedem Eingang drängten sich Soldaten. Der Weg zurück zum Schloss und dem Steinraum war bereits von einer Mauer aus Männern versperrt.

Die grimmigen Kerle trugen zum Teil Rüstung, zum Teil Kettenhemden oder auch nur dunkles Leder. Nietenbeschlagene Riemen kreuzten sich auf ihrer Brust und hielten Taschen mit Ausrüstungsgegenständen oder Messer in Scheiden. An dicken Ledergürteln trugen sie Äxte, Streitkolben, Morgensterne oder Schwerter. Solch bedrohliche Männer hatte Richard nie gesehen. Die Wachen in ihren Kettenhemden waren nicht so töricht, diese Streitmacht aufhalten zu wollen, insbesondere nicht angesichts ihrer Zahl.

Richard zweifelte nicht, dass es sich bei den Soldaten um Männer der Imperialen Ordnung handelte.

»Laut Vereinbarung«, sagte ein muskelbepackter Kerl, der vor Sechs hintrat, »sind wir gekommen, um zu überprüfen, ob Tamarang treu zur Sache der Imperialen Ordnung steht.«

»Ja, gewiss«, sagte Sechs. »Aber ... Ihr kommt beträchtlich eher, als es abgemacht war.«

Der Mann legte die eine Hand auf den Schwertknauf und musterte aus dunklen Augen die Anlage des Platzes. Richard bemerkte die hervorragende Qualität der Waffen und der Rüstung, und zudem fiel ihm auf, wie der Soldat sofort die Autorität an sich riss. War wohl der Kommandant.

»Wir sind gut vorangekommen«, sagte er. »Manche Städte unterwegs leisteten keinen Widerstand, deshalb sind wir schon vor dem Winter eingetroffen und nicht, wie beabsichtigt, danach.«

»Nun ... ich heiße Euch im Namen der Königin willkommen«, sagte Sechs. »Ich, also, ich wollte gerade nach ihr schauen.«

Der Kommandant trug Schulterpanzer aus Leder und einen ebenfalls ledernen Brustharnisch, der mit Mustern verziert war. Die Rüstung hatte ihren Wert offensichtlich bereits bewiesen, angesichts der Schnitte und Kratzer, die von Waffen stammten. In seinem linken Ohr steckten Ringe, Tätowierungen in Schuppenform bedeckten die rechte Gesichtshälfte, sodass es aussah, als wäre er halb Mensch, halb Reptil.

»Der Orden kämpft für die Sache des Ordens. Tamarang ist nun Teil der Imperialen Ordnung. Ich gehe doch davon aus, dass sich alle freuen, nun dem Orden anzugehören.«

Stiefeltritte auf den Steinen übertönten den Gesang der Vögel, der mit Sonnenaufgang einsetzte. Weiterhin strömten Männer in den Hof und rückten bis zu Richard auf.

»Ja, gewiss«, antwortete Sechs dem Kommandanten. Langsam schien sie ihre Gelassenheit zurückzugewinnen. »Die Königin und ich vertrauen darauf, dass Ihr die getroffenen Vereinbarungen respektieren werdet: Das Schloss wird nicht von einem Angehörigen des Ordens betreten, und das Schloss selbst bleibt in der Hand Ihrer Majestät sowie ihrer Berater und Diener.«

Der Mann starrte ihr kurz in die Augen. »Spielt keine Rolle für mich. Das Schloss können wir sowieso nicht gebrauchen.« Er blinzelte, als erstaune es ihn, einem solchen Vorschlag zuzustimmen. Er warf sich in die Brust, und sein Feuer loderte wieder auf. »Aber gemäß unserer Vereinbarung ist der Rest von Tamarang nun eine Provinz der Imperialen Ordnung.«

Sechs neigte den Kopf. Sie hatte wieder das dünne Lächeln aufgesetzt. »Gemäß der Vereinbarung.«

Richard folgte dem Gespräch nur mit halbem Ohr. Er hatte den gelockerten Griff, in dem Sechs ihn hielt, genutzt, um sich ganz zu befreien. Ihre Ablenkung hatte er wie eine Eisenstange eingesetzt und die unsichtbaren Krallen aufgehebelt. So hatte er sich eine Lücke geschaffen, die genügte, damit sein Verstand hinausschlüpfen konnte.

Jetzt war es an der Zeit, etwas für sich und Kahlan zu tun. Zwar hatte er seine Gabe und das Schwert der Wahrheit verloren, doch blieben ihm die Lektionen, die er durch die Waffe gelernt und die ihm vor allem das Leben erteilt hatte. Zudem erinnerte er sich an die Bedeutung der Symbole. Er kannte den Rhythmus des Tanzes mit dem Tod.

Mit einer Klinge wusste er immer noch umzugehen.

Er brauchte nur eine in die Hand zu bekommen.

Während Sechs und der Offizier darüber sprachen, welchen Bereich auf dem Gelände die Soldaten für sich beanspruchen durften und welchen sie meiden sollten und wo sie sich innerhalb der Stadt aufhalten könnten, schaute Richard nach hinten und sah die Schwerter mit Holzgriffen bei den Soldaten und das eines rangniedrigeren Offiziers ein wenig rechts hinter sich, welches mit einem Ledergriff ausgestattet war.

Er lächelte den Mann an, zog eine Kupfermünze aus der Tasche und ließ sie über die Finger wandern. Dann täuschte er Ungeschicklichkeit vor und ließ die Münze fallen. Er bückte sich, um sie aufzuheben, stützte die eine Hand auf den Boden, damit er das Gleichgewicht nicht verlor, und reckte sich nach der Münze. Während er diese aufhob, nahm er auch ein bisschen sandige Erde auf. Der Offizier hinter ihm beobachtete seinen Vorgesetzten, der mit Sechs redete, und blickte nur in Richards Richtung, als dieser die Münze vom Schmutz befreite und wieder in die Tasche steckte. Sechs war für den Soldaten wesentlich interessanter als dieser ungeschickte Niemand. Richard tat so, als würde er sich die Hände abwischen, doch eigentlich verteilte er die Erde auf beiden Handflächen.

Denn wenn es losginge, wollte er vermeiden, dass seine Finger vom Leder abrutschten.

Ohne sich umzudrehen, beugte er sich rückwärts zu dem rangniedrigeren Offizier hin. Der Mann hatte nur Augen für die berückende Gestalt von Sechs, die ein Netz knüpfte und den Männern sagte, was sie gern von ihnen wollte. Aus den Augenwinkeln starrte Richard auf den Griff der Waffe, die an der Hüfte des Mannes hing. Sie war besser gearbeitet als die meisten anderen.

Sechs und der Kommandant waren noch immer in ihre Unterhaltung vertieft; Richard drehte sich ein wenig und gab vor, sich zu recken. Im nächsten Moment hatte er das Schwert des rangniedrigen Offiziers aus der Scheide gezogen.

Mit einer Waffe in der Hand, einem Schwert, durchfluteten Richard sofort die Erinnerungen an die Fähigkeiten, die er in vielen Stunden der Übung erworben hatte. Die Lektionen mochten wohl teilweise aus anderweltlichen Quellen stammen, doch das Wissen selbst war nicht magisch. Es handelte sich um die Erfahrungen der zahllosen Sucher vor Richard. Und obwohl er deren einzigartige Waffe nicht führte, verfügte er weiterhin über das Wissen.

Der Offizier, der Richard offensichtlich bloß für einen Narren hielt, wollte ihm die Waffe wieder abnehmen. Richard drehte das Schwert und durchbohrte den Soldaten mit einem rückwärts geführten Stoß. Die anderen Männer gerieten nun in Bewegung. In der kühlen Morgenluft wurden Schwerter gezogen. Große Kerle lösten riesige halbmondförmige Äxte, Streitkolben oder Morgensterne von den Gürteln.

Richard war plötzlich ganz in seinem Element. Der Dunst in seinem Kopf hatte sich aufgelöst. Dass er den Teil seines Verstandes, den er sicher abgetrennt hatte, so bald heranziehen musste - nun, damit hätte er nicht gerechnet. Doch der Augenblick war gekommen, und Richard durfte nicht zögern. Dies war seine Chance. Er wusste, wo Kahlan war, und er musste zu ihr.

Diese Männer standen ihm im Weg.

Richard fuhr herum und trennte einen Arm ab, der eine Axt schwang. Der Schrei und das spritzende Blut ließen die Umstehenden zusammenzucken. In diesem Bruchteil eines Augenblicks machte Richard seinen nächsten Zug. Er erstach einen weiteren Mann, als dieser das Schwert hob. Der Gegner starb, ehe er ganz ausgeholt hatte. Richard wich den Waffen aus, die auf ihn niedergingen.

Obwohl überall um ihn herum Metall klirrte und Männer schrien, versenkte sich Richard in eine Welt der stillen Entschlossenheit. Er beherrschte die Lage. Die Männer glaubten vielleicht, sie stünden mit einer Armee gegen ihn, aber damit saßen sie gewissermaßen einer Illusion auf. Er kämpfte nicht gegen eine Armee, sondern gegen Einzelne. Sie dachten wie eine kollektive Masse, wie ein kollektives Element, und bewegten sich wie ein großer Hundertfüßler.

Das war ein Fehler, ein Fehler, den Richard gnadenlos ausnutzte. Während sie zögerten, das Handeln anderen überließen oder auf eine Blöße warteten, fuhr Richard durch sie hindurch und mähte sie nieder. Er ließ sie mit aller Kraft zuschlagen und zustoßen, während er durch den Ansturm des Stahls schwebte. Jedes Mal, wenn er einen Hieb austeilte, landete er einen Treffer. Jedes Mal, wenn er die Waffe schwenkte, folgte ein Schnitt. Es war, als würde er sich durch dichtes Buschwerk schlagen, dessen Äste nach ihm griffen. Stets behielt Richard dabei sein Ziel im Auge. Er strebte auf eine Öffnung in der Mauer zu. Obwohl er angriff, mit Finten täuschte und verschlungene Umwege in Kauf nahm, hielt er immer auf dieses Tor zu, auf seine Freiheit. Er musste es erreichen, und dann konnte er zu Kahlan.

Wie eine Sichel fuhr er durch Männer, die ihm den Weg verstellten, und wirbelte an anderen vorbei. Ihn trieb nicht der Drang, möglichst viele zu töten, sondern sein Ziel zu erreichen, das offene Tor. Befehle wurden gebrüllt, Soldaten schrien vor Wut oder Schmerz, und doch herrschte Stille in Richards Kopf. Diese Ruhe nutzte er für sich. Geschwind suchte er sich seine Opfer, und genauso geschwind machte er sie nieder. Er verschwendete keine Kraft mit Ausholen, dennoch setzte er seine Hiebe treffgenau. Dann sah er einen Anführer unter den Angreifern, einen Mann, der sich geschickter bewegte und an dem sich andere Männer im Kampf orientierten. Richard machte ihn nieder. Auf dem Weg zu dem Durchgang in der Mauer schlüpfte er durch die Lücken in ihrer Verteidigung und hieb und stach zu. In seinem unbarmherzigen Vorrücken erlaubte er sich keine Unterbrechung. Er gönnte dem Feind keine Atempause, sondern brach durch ihn hindurch. Ohne Gnade erschlug er jeden. Ob der Gegner ihm nun mit Angst oder Angriffslust begegnete, Richard brachte ihn zu Fall. Die Soldaten hatten erwartet, er würde sich durch ihre schiere Zahl und durch die Wucht ihrer Schlachtrufe einschüchtern lassen; Richard ließ das kalt. Er kannte kein Erbarmen.

Schließlich erreichte er die Tür, enthauptete den Mann links davon und dann den rechts. Endlich war der Weg frei von Soldaten der Imperialen Ordnung. Richard stürmte hindurch.

Und kam abrupt zum Stehen. Dahinter stand eine Mauer aus Bogenschützen, die mit aufgelegten Pfeilen auf Richard zielten. Die Männer mit Bögen und Armbrüsten bildeten einen Halbkreis. Er saß in der Falle. Gegen Hunderte von Pfeilen, die auf ihn gerichtet waren, und noch dazu aus solch kurzer Distanz, hatte er keine Chance.

Der Kommandant erschien in der Tür. »Höchst beeindruckend. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Der Mann klang tatsächlich verwundert, und trotzdem war es vorbei. Richard seufzte und warf sein Schwert zu Boden.

Der Kommandant trat vor und taxierte Richard stirnrunzelnd von oben bis unten. Hinter ihm erschien Sechs in der Öffnung der Mauer; gegen den Sonnenaufgang hob sie sich als schwarze Silhouette ab. Der Kommandant verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust.

»Kannst du Ja’La dh Jin spielen?«

Richard hätte sich in diesem Moment keine eigenartigere Frage vorstellen können. Hinter der Mauer brüllten Schwerverletzte und flehten um Hilfe.

Richard wich vor dem Kommandanten nicht zurück. »Ja, ich beherrsche das Spiel des Lebens.«

Sein Gegenüber lächelte Richard an, weil er die Übersetzung von Ja’La dh Jin aus der Sprache des Kaisers benutzt hatte. Der Kommandant wirkte wenig betroffen angesichts der Zahl von Männern, die Richard erschlagen hatte, lächelte vor sich hin und schüttelte verwundert den Kopf. Auch Richard machte sich wegen der Toten und Verwundeten keine Vorwürfe. Sie hatten sich dieser Eroberungsarmee angeschlossen, um zu plündern, Frauen zu schänden und Menschen zu ermorden, die ihnen nichts Böses angetan hatten, Menschen, deren einzige Sünde darin bestand, nicht dem Glauben des Ordens anzuhängen und ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit führen zu wollen.

Sechs tauchte neben dem Kommandanten auf. »Ich weiß Eure Bemühungen zu schätzen, diesen äußerst gefährlichen Mann zu ergreifen. Er ist ein verurteilter Gefangener und fällt in meine Verantwortlichkeit. Seine Bestrafung wird unter persönlicher Aufsicht der Königin stattfinden.«

Der Kommandant blickte sie an. »Er hat gerade etliche meiner Männer getötet. Jetzt ist er mein Gefangener.«

Sechs erweckte den Eindruck, als würde sie im nächsten Moment Feuer speien. »Ich erlaube nicht ...«

Hunderte Pfeile gingen in die Höhe und zielten auf die Frau. Die Hexe erstarrte und verstummte und schätzte die Bedrohung ein. Wie Richard kam sie zu dem Schluss, dass sie angesichts dieser Masse von Waffen, die auf einen Wink hin abgeschossen werden konnten, keine Chance hatte.

»Der Mann ist mein Gefangener«, sagte Sechs leise, doch mit fester Stimme zum Kommandanten. »Ich wollte ihn gerade zur Königin bringen, um ...«

»Jetzt ist er mein Gefangener. Geht zurück ins Schloss. Der Hof gehört dem Orden. Hier gilt nicht länger das Wort der Königin -oder Eures. Der Mann gehört mir.«

»Aber ich ...«

»Ihr dürft Euch entfernen. Oder wollt Ihr unsere Vereinbarung brechen? Dann würden wir euch alle niedermetzeln.«

Sechs ließ den Blick über die Hunderte von schussbereiten Männern schweifen. »Gewiss gilt unsere Vereinbarung, Kommandant.« Sie sah den Mann aus den blassblauen Augen an. »Ich habe mich bislang daran gehalten, und das werdet auch Ihr tun.«

Er tippte sich an den Kopf und verneigte sich leicht. »Sehr wohl. Jetzt überlasst uns bitte unseren Pflichten. Wie vereinbart, dürft Ihr mitsamt Euren Untergebenen tun und lassen, was Ihr möchtet, und meine Männer werden Euch oder die Diener im Schloss nicht behelligen.«

Mit einem letzten giftsprühenden Blick auf Richard drehte sie sich um und stapfte davon. Zusammen mit dem Kommandanten und seinen Männern schaute Richard der Hexe hinterher, die durch die Öffnung ging und den blutigen Pfad zwischen den Sterbenden und Toten hindurchmarschierte, wobei sie diese keines Blickes würdigte, sondern stur auf den Eingang des Schlosses zuhielt. Die Männer ließen sie ungehindert durch.

Der Kommandant wandte sich an Richard. »Wie heißt du?«

Richard wusste, er durfte seinen wahren Namen nicht nennen, nicht einmal den, unter dem er aufgewachsen war. Denn in dem Fall würde man den in ihm erkennen, der er tatsächlich war. Hastig dachte er nach, welchen anderen Namen er benutzen könnte. Da fiel ihm ein, wie Zedd sich stets nannte, wenn er seine Identität verschweigen wollte.

»Ich heiße Rüben Rybnik.«

»Nun, Rüben, ich werde dir die Wahl lassen. Wir können dich bei lebendigem Leib häuten, dich auf einen Pfahl spießen, dir den Bauch aufschlitzen und dich zuschauen lassen, wie die Aasfresser sich streitend an deinen Eingeweiden gütlich tun.«

Richard wusste, ein solches Schicksal brauchte er nicht zu erdulden, denn er konnte einfach die Bogenschützen angreifen, die ihn sofort töten würden. Aber er wollte nicht sterben. Tot konnte er Kahlan nicht helfen.

»Diese Aussicht gefällt mir nicht. Habt Ihr nichts anderes anzubieten?«

Ein verschlagenes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Kommandanten aus, ganz wie es sich für die Hälfte mit der Schuppentätowierung geziemte. »Ja, in der Tat. Weißt du, in den verschiedenen Abteilungen der Armee gibt es Ja’La-Mannschaften. Unsere setzt sich aus meinen Männern zusammen, dazu aus den Besten, die uns bislang über den Weg gelaufen sind - Männern, die der Schöpfer mit einer außergewöhnlichen Gabe gesegnet hat. Wie du dich durch all diese Männer gehauen hast und auf die Öffnung in der Mauer zugestrebt bist, als hättest du ein klares Ziel, das hat mich beeindruckt. Du hast dein Ziel nicht aus den Augen verloren, gleichgültig, was der Gegner dir entgegengeworfen hat ... nun, du bist eine geborene Sturmspitze.«

»Eine gefährliche Position, die Sturmspitze.«

Achselzuckend erwiderte der Kommandant: »Das ist das Spiel des Lebens. Im Augenblick fehlt uns eine Sturmspitze. Die bisherige starb im letzten Spiel. Während er einem Block auswich, hat er einen Wurf nicht gesehen, und der Broc traf ihn mit voller Wucht in die Rippen. Die haben ihm die Lungen durchbohrt. Er ist elend zugrunde gegangen.«

»Klingt nicht gerade verlockend.«

Die Augen des Kommandanten glitzerten drohend. »Wenn es dir lieber ist, kannst du dich für die erste Wahl entscheiden und den Aasfressern zuschauen, wie sie deine Gedärme verspeisen.«

»Würde ich Gelegenheit erhalten, gegen die Mannschaft des Kaisers zu spielen?«

»Gegen die Mannschaft des Kaisers«, wiederholte der Kommandant. Er starrte Richard kurz an, weil es ihn interessierte, warum dieser eine solche Frage stellte. »Du möchtest es wirklich wissen, wie?«

Schließlich nickte er. »Alle Ja’La-Mannschaften träumen davon, gegen die Mannschaft des Kaisers anzutreten. Wenn du dich als würdig erweist und uns hilfst, Turniere zu gewinnen, ja, dann bekommst du vielleicht eines Tages die Chance, gegen die Mannschaft des Kaisers anzutreten. Wenn du so lange überlebst.«

»Also gut, dann würde ich gern beitreten.«

Der Kommandant lächelte. »Möchtest du ein Held werden? Geht es darum? Ein bejubelter Ja’La-Spieler? Ein berühmter Spieler?«

»Vielleicht.«

Daraufhin beugte sich der Kommandant vor. »Ich glaube, du träumst von den Frauen, die dir ein Sieg bescheren würde. Von den Blicken der Schönheiten. Vom Lächeln der holden Weiblichkeit.«

Richard dachte an Kahlans betörende blaue Augen und an ihr Lächeln.

»Ja, genau das habe ich im Sinn.«

»Im Sinn?« Der Mann lachte brüllend. »Nun, Rüben, das darfst du getrost vergessen. Du bist kein Spieler, der unserer Mannschaft freiwillig beitritt. Du bist ein Gefangener, und ein gefährlicher noch dazu. Wir treffen Vorkehrungen bei Spielern deiner Sorte. Du kommst in einen Käfig und wirst auf einem Wagen befördert. Zum Spiel oder zum Üben lässt man dich heraus, aber ansonsten wirst du eingesperrt wie ein wildes Tier. Während der Übungen musst du hart schuften, damit du lernst, dich in die Mannschaft einzufügen, um ihre Stärken und Schwächen kennen zu lernen, denn schließlich bist du die Sturmspitze. Und trotzdem wirst du nicht allein stehen.«

Richard hatte keine andere Wahl. »Verstehe.«

Der Kommandant holte tief Luft und hakte die Daumen in den Waffengurt. »Gut. Wenn du anständig spielst, wenn du in jedem Spiel das Beste aus dir herausholst, werde ich dir erlauben, von den Frauen, die sich zu den Spielern legen möchten, eine auszusuchen.«

»Zu den Siegern«, berichtigte Richard.

»Zu den Siegern«, bestätigte der Kommandant und hob den Zeigefinger. »Wenn du jedoch nur einen falschen Schritt machst, bist du tot.«

»Abgemacht«, erwiderte Richard. »Ihr habt eine neue Sturmspitze.«

Der Kommandant winkte die anderen Offiziere heran. Sie nahmen Haltung an.

»Lasst den Wagen bringen - den mit der Eisenkiste - für unsere neue Sturmspitze. Wie gefährlich er ist, habt ihr gewiss schon gesehen. Behandelt ihn dementsprechend. Ich möchte seine Talente gegen unsere Gegner einsetzen.«

Ein Offizier musterte Richard von Kopf bis Fuß. »Es wäre schön, öfter als nur gelegentlich zu gewinnen.«

Der Kommandant nickte und gab Befehle aus. »Postiert Wachen nahe beim Schloss und in der Stadt, genug, damit die Bewohner von Tamarang keine Schwierigkeiten machen. Danach soll das Arbeitsvolk Stützpunkte für unsere Nachschubtrosse bauen. Zunächst müsst ihr eine Stelle finden, die groß genug ist. Sucht vor der Stadt am Fluss.

Der Sommer geht zu Ende. Ehe man sich’s versieht, steht der Winter vor der Tür, und die Nachschubzüge werden lang sein und häufig eintreffen. Unsere Truppen in der Neuen Welt brauchen Vorräte für den bevorstehenden "Winter.

Die Stadt Tamarang wird uns liefern, was wir für den Bau brauchen. Am Fluss gibt es einen Hafen, in dem Bauholz abgeladen werden kann; es muss also eine Straße gebaut werden, dazu Unterkünfte für die Männer, die dort einquartiert werden.«

Einer der Offiziere nickte. »Die Pläne liegen schon bereit.«

Richard ging davon aus, dass der Orden die Stadt Tamarang zur Arbeit an den Speicherhäusern heranziehen würde. Das hatte er schon früher beobachtet. Es war einfacher, mit Menschen auszukommen, die dem Orden beitreten wollten, als alles zu zerstören und dann neu aufbauen zu müssen.

»Ich werde sofort wieder mit unseren Truppen und diesem Nachschubtross aufbrechen«, erklärte der Kommandant den Offizieren.

»Jagang will alle Männer haben, die er für den Angriff auf das D’Haranische Reich bekommen kann.«

Das Oberhaupt des D’Haranischen Reiches stand leise dabei und lauschte den Plänen für den entscheidenden Angriff auf die Menschen der Neuen Welt, für das Gemetzel an jenen, die an die Freiheit glaubten, für die Schlacht, von der Richard geglaubt hatte, es würde niemals dazu kommen.

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