51

Eine Weile lang saß Rachel in ihrer Eisenkiste, dachte nach, machte sich Sorgen und überlegte, was nun aus ihr werden würde. Dann kam ihr ein Gedanke.

Vorsichtig und leise, obwohl sie allein im Zimmer und die Tür geschlossen war, drückte sie sich gegen die Klappe und schob ein Auge an den Schlitz. Zunächst schaute sie sich um, weil sie fürchtete, die Hexe könne sie irgendwie beobachten. Manchmal kam die Hexe nachts ... in ihre Träume. Falls Sechs plötzlich wie aus dem Nichts im Raum gestanden hätte, wäre Rachel nicht einmal besonders erschrocken gewesen. Die Bediensteten munkelten viel über die Vorgänge im Schloss, die sich seit Ankunft dieser Frau ereigneten.

Aber das Zimmer war leer. Niemand war zu sehen, und schon gar keine Gestalt in schwarzer Robe.

Rachel schaute zum Schloss der Kiste. Sie starrte eine Zeit dorthin, da sie kaum fassen konnte, was sie sah.

Das Schloss hing in der Lasche, war jedoch nicht abgeschlossen. Rachel erinnerte sich, dass Violet es gerade zudrücken wollte, als Sechs an der Tür geklopft hatte, doch in der Eile hatte die frühere Königin es wohl nicht richtig zugemacht. Wenn Rachel den Bügel aus der Lasche schieben könnte, wäre sie frei und könnte aus der Kiste.

Sechs hatte Violet in die Höhle mitgenommen. Die beiden waren fort.

Rachel versuchte, die Hand durch den Schlitz zu schieben und das Schloss zu erreichen, doch es war zu weit entfernt. Sie brauchte einen Stock oder etwas Ähnliches. In ihrer Schlafkiste fand sie nichts. Wieso sollte hier auch ein Stock herumliegen? Draußen entdeckte sie vieles, was sie hätte gebrauchen können, leider aber eben draußen.

Solange der Bügel des Schlosses in dem Ring aus Stahl steckte, konnte Rachel die Klappe nicht öffnen. Genauso gut hätte das Schloss abgeschlossen sein können.

Entmutigt und aller Hoffnung beraubt, ließ sie sich wieder auf die Decke sinken. Sie vermisste Chase. Eine Weile lang hatte sie ein Leben wie im Traum geführt. Sie hatte eine Familie gehabt, einen wundervollen Vater, der auf sie aufpasste und ihr so vieles beibrachte.

Gedankenverloren zupfte Rachel an dem derben Faden, mit dem der Rand der Decke gesäumt war. Chase wäre sicherlich enttäuscht gewesen, wenn er hätte sehen können, wie rasch sie aufgab und den Kopf hängen ließ, aber was sollte sie tun? In der Kiste fand sie nichts, was ihr half, das Schloss zu entfernen. Sie hatte ein Kleid und ihre Stiefel. Die Stiefel passten nicht durch den Schlitz. Außerdem hatte sie ihre Decke. Alles andere hatte ihr Violet weggenommen. Während sie zupfte, zog sie mehr vom Saum auf. Rachel betrachtete den Faden, den sie um den Finger gewickelt hatte, und plötzlich kam ihr eine Idee.

Nun zog sie weiter, löste die Stiche und riss den Faden ab. Bald hatte sie den gesamten Saum gelöst und ein langes Stück Faden in der Hand. Den nahm sie doppelt und verzwirbelte ihn, bis er stärker wurde. Das wiederholte sie mehrmals und hatte eine steife Kordel. An das eine Ende machte sie eine Schlaufe und hockte sich wieder vor den Schlitz.

Sorgfältig schob sie die Kordel hinaus und versuchte sie über den Bügel zu bringen, um das Schloss aus der Lasche zu ziehen. Das war leichter gesagt als getan. Die Kordel war nicht schwer genug, um richtig zu zielen. Rachel probierte es auf mehrere Weisen aus, doch stets verfehlte sie das Schloss knapp. Die Schlaufe wollte sich einfach nicht über den Bügel ziehen lassen. Die Kordel war auch zu leicht, um sie zu werfen, doch gleichzeitig zu steif, sodass sie nie dort landete, wo Rachel es wollte.

Trotzdem gelang es ihr irgendwann, die Schlaufe über das Schloss zu stülpen. Allerdings lag sie nun so, dass sie den Bügel nicht aus der Lasche ziehen konnte.

Sie holte die Kordel wieder ein und feuchtete sie mit Spucke an. Die nasse Kordel war ein wenig schwerer, und nun konnte Rachel genauer zielen. Langsam begann ihre Hand zu schmerzen, da sie diese verdrehen musste, um mit der Kordel zu hantieren. Inzwischen schien sie sich den ganzen Morgen damit beschäftigt zu haben. Der verzwirbelte Faden wurde wieder trocken.

Erneut machte Rachel ihn im Mund nass. Wieder hockte sie vor dem Schlitz und unternahm den nächsten Versuch. Beim ersten Mal landete er über dem Schloss. Die Schlaufe befand sich nun direkt am Ende des Bügels.

Rachel erstarrte. So nah war sie ihrem Ziel bislang nie gekommen. Es war schwierig, die Hand durch den Schlitz zu stecken und trotzdem durch die verbliebene Lücke noch genug zu sehen. Jedoch konnte sie erkennen, dass sie, wenn sie nun zog, das Schloss nicht aus der Lasche bewegen würde.

Jetzt klebte die nasse Kordel an dem Bügel. Rachel hatte eine Idee. Vorsichtig drehte sie die Kordel zwischen Daumen und Zeigefinger. Da die Schnur am Metall klebte, rollte sie herum, bis die Schlaufe über das Ende fiel. Rachel blinzelte und schaute genau hin. Offensichtlich war die Kordel nun da, wo sie sein sollte. Rachel wagte sich kaum zu rühren, aus Angst, einen Fehler zu machen und diese einmalige Gelegenheit nicht zum Erfolg zu bringen, weil sie möglicherweise nicht ausreichend nachgedacht hatte. Chase hatte ihr stets gesagt, sie solle ihren Kopf gebrauchen - ihren Verstand, nannte er es - und dann aufgrund dieses Urteils handeln. So wie es aussah, befand sich die Schlaufe nun also an der richtigen Stelle. Sobald sie zog, müsste die Kordel sich am Bügel verhaken. Rachels Herz klopfte. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie schnaufte.

Sie hielt den Atem an und zog mit aller Vorsicht an der Kordel. Das flache Ende des Metalls blieb hängen. Wenn sie zu stark zerrte, würde die Schnur abrutschen.

Sie senkte die Finger und änderte den Winkel ein wenig, damit die Schlaufe über den Bügel ginge und nicht von ihm abglitt. Die Kordel wurde stramm und bewegte sich in die richtige Richtung! Rachel mochte es kaum glauben. Gleichmäßig zog sie nach oben und den Bügel so durch die Lasche. Als dieser fast aus dem Metallring war, verfing sich das gekerbte Ende des Bügels in der Lasche. Rachel zerrte etwas stärker, nur ein bisschen, doch dadurch drehte sich das Schloss nun und ging nicht weiter nach oben. Sie fürchtete, zu stark zu ziehen. Dann würde die Kordel möglicherweise reißen. Sie hatte den Faden mehrfach verzwirbelt und ihn für dick genug gehalten. Die Frage war, ob es wirklich reichte, wenn sie kräftig zog. Also ließ sie ein wenig los, wodurch das Schloss ein wenig herunterkam, zog rasch wieder nach und versuchte, den Bügel durch den Ring zu rütteln.

Plötzlich glitt das Schloss aus der Lasche und fiel. Es baumelte an der Kordel und schwang an Rachels Hand hin und her. Rachel drückte, und knarrend öffnete sich die Klappe. Mit den Händen wischte sie sich die Tränen von den Wangen, die ihr vor Erleichterung kamen. Sie hatte sich befreit. Wenn Chase nur hätte sehen können, was sie geschafft hatte.

Nun musste sie aus dem Schloss fliehen, ehe Violet oder Sechs zurückkehrten. Rachel wusste nicht, ob Violet bemerkt hatte, dass sie das Schloss nicht richtig zugemacht hatte. Falls ihr das einfiel und sie es Sechs gegenüber erwähnte, würden sie bestimmt kommen. Also eilte sie zu der großen Tür, dann aber fiel ihr noch etwas ein. Sie drehte um, lief zum Schreibtisch in der Ecke und zog den Deckel in die Position, in der Violet immer darauf schrieb, wenn sie notierte, wer bestraft und wer hingerichtet werden sollte. Im Anschluss ergriff sie den goldenen Knauf der mittleren Schublade und zog sie heraus. Sie stellte sie zur Seite, langte mit der Hand in die Öffnung und tastete herum. Schließlich fühlte sie etwas Metallisches. Das holte sie heraus. Es war der Schlüssel. Violet hatte ihn noch nicht herausgenommen. Er befand sich noch dort, wo er des Nachts aufbewahrt wurde.

Erleichtert ließ Rachel den Schlüssel in einen ihrer Stiefel rutschen, schob die Schublade an ihren Platz und schloss den Deckel des Pultes.

An der Schlafkiste blieb sie stehen, machte die Klappe zu und steckte das Schloss durch die Lasche. Sie drückte das Schloss zu und zog einmal daran, um sich zu vergewissern, ob es wirklich geschlossen war - etwas, das Violet vergessen hatte. Wenn nun jemand ins Zimmer käme, würde er vermuten, dass Rachel noch in der Kiste saß. Mit ein bisschen Glück würden Sechs oder Violet nicht einmal nachschauen, und Rachel wäre längst über alle Berge, wenn ihre Flucht entdeckt wurde.

Sie rannte zu der Flügeltür, öffnete diese einen Spalt und spähte hinaus. Im Gang sah sie niemanden. Sie schlüpfte hinaus und schloss die Tür leise hinter sich.

Nachdem sie sich umgeschaut hatte, machte sie sich zur Treppe auf und lief dann, so schnell sie konnte. Im nächsten Stockwerk betrat sie einen holzgetäfelten Gang ohne Fenster und eilte zu dem Raum, der abgeschlossen sein würde. Die Spiegellampen brannten noch. Sie wurden die ganze Nacht nicht gelöscht, falls die Königin in ihr Juwelenzimmer gehen wollte. Während sie durch den Gang eilte, hüpfte sie auf einem Bein, um den Schlüssel aus dem Stiefel zu holen.

An der betreffenden Tür blickte Rachel über die Schulter. In einiger Entfernung sah sie einen Mann, der den Gang entlangging. Einer von den Dienern. Rachel kannte ihn vom Sehen, wusste jedoch seinen Namen nicht.

»Herrin Rachel?«, fragte er stirnrunzelnd, als er sie erreichte. Rachel nickte. »Ja, was gibt es?«

»Genau.« Er sah zur Tür. »Was gibt es?«

Chase hatte ihr beigebracht, Menschen, die unangenehme Fragen stellten, durch geschicktes Kontern selbst in Bedrängnis zu bringen. Auch hatte er ihr gezeigt, wie man einen Verdacht entkräftete, indem man dem anderen das Gefühl vermittelte, er führe selbst Ungutes im Schilde. Das hatten sie oft im Spiel geübt. Diesmal war es jedoch todernst.

Sie setzte ihre grimmigste Miene auf. Chase hatte ihr auch das gezeigt. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich einfach vorstellen, ein Junge wolle sie küssen.

»Wie sieht es denn aus?«

Der Mann zog eine Augenbraue hoch. »Es sieht aus, als würdest du ins Juwelenzimmer der Königin gehen.«

»Willst du mir die Juwelen der Königin stehlen, die ich für sie holen soll? Hast du deshalb an der Ecke gelauert und gewartet, bis jemand ins Juwelenzimmer geschickt wird? Damit du sie rauben kannst?«

»Lauern - rauben - selbstverständlich nicht. Ich wollte nur wissen ...«

»Du wolltest etwas wissen?« Rachel stemmte die Hände in die Hüften. »Du wolltest etwas wissen? Bist du der Wächter über die Juwelen? Warum gehst du nicht zu Königin Violet und fragst sie, was du wissen wolltest? Bestimmt wird sie nichts dagegen haben, wenn ein Diener sie ausfragt. Wahrscheinlich lässt sie dich bloß auspeitschen und köpfen.

Ich habe etwas für sie zu erledigen und soll etwas holen. Brauche ich vielleicht Wachen, die mich und die Juwelen der Königin beschützen?«

»Wachen? Natürlich nicht...«

»Was geht dich das also an?« Sie blickte erst in die eine und dann in die andere Richtung, sah jedoch niemanden. »Wache!«, rief sie, aber nicht zu laut. »Wache! Hier will jemand die Juwelen der Königin rauben!«

Der Mann geriet in Panik, wollte sie beschwichtigen, lief jedoch dann einfach davon. Er schaute sich nicht einmal mehr um. Rachel schloss rasch auf, blickte nochmals in den Gang und schlüpfte hinein. Sie glaubte zwar, niemand habe sie gehört, aber sie wollte sich auch nicht länger hier aufhalten als notwendig. Der auf Hochglanz polierten Wand mit den kleinen Holzschubladen widmete sie keinen Blick. Dutzende und Aberdutzende dieser Schubladen waren mit Halsketten, Armreifen, Broschen, Diademen und Ringen gefüllt. Rachel ging stattdessen zu dem hübschen weißen Marmorpostament in der anderen Ecke des Juwelenzimmers. Darauf hatte einst Königin Milenas liebstes Kleinod gestanden, das edelsteinbesetzte Kästchen, das sie bei jeder Gelegenheit bewundert hatte.

Jetzt stand an dessen Stelle ein Kästchen, das aussah, als wäre es aus den düstersten Gedanken des Hüters erschaffen. Es war so schwarz, dass selbst dieser Raum voller Juwelen in Gegenwart dieses Gegenstandes von so monumentaler Bedrohlichkeit unbedeutend wirkte.

Rachel hatte schon Königin Milenas juwelenbesetztes Kästchen nie gern berührt. So scheute sie sich umso mehr, dieses in die Hand zu nehmen.

Dennoch musste es sein.

Rachel wusste, Eile war geboten, wenn sie ihre Fluchtchance nicht verspielen wollte. Sie hatte keine Ahnung, wann Violet sich daran erinnern würde, dass sie die Schlafkiste nicht abgeschlossen hatte. Vielleicht würde sie es Sechs erzählen - oder Sechs würde einfach ihre Gedanken lesen. Rachel war überzeugt, dass Sechs diese Fähigkeit besaß. Wenn sie erfuhr, dass Rachel nicht eingeschlossen wäre, würden sie zurückkommen.

Rachel nahm das schwarze Kästchen von dem weißen Marmorpostament und stopfte es in den Lederbeutel, der an der Wand hing. Es war der gleiche Beutel, in dem Samuel Sechs das Kästchen gebracht hatte.

Auf dem Weg zur Tür blieb Rachel vor dem hohen holzgerahmten Spiegel stehen. Sie mochte sich gar nicht anschauen, vor allem nicht ihr Haar, das Violet schrecklich geschnitten hatte. Als sie damals im Schloss gelebt hatte und noch Prinzessin Violets Spielgefährtin war, hatte man Rachel nicht erlaubt, sich das Haar wachsen zu lassen, denn sie war doch nur ein Niemand. Sobald man Rachel Violet zurückgebracht hatte, holte ihre Herrin sofort eine große Schere und schnitt Rachel das lange blonde Haar ab. Jetzt konnte sich Rachel zum ersten Mal richtig anschauen.

Sie wischte sich Tränen von den Wangen.

Chase hatte ihr damals gesagt, dass sie sich das Haar wachsen lassen müsse, wenn sie seine Tochter sein wolle. Und gewachsen war es, lang und üppig während der vergangenen zwei Jahre, und damit hatte sich Rachel richtig als seine Tochter gefühlt. Jetzt war das Haar wieder kurz, und trotzdem sah sie nicht mehr so aus wie beim letzten Mal, als sie in diesem Zimmer gestanden und Zauberer Giller geholfen hatte, das juwelenbesetzte Kästchen der Ordnung zu stehlen. Ihre Gesichtszüge hatten sich verändert, wirkten weniger kindlich, weniger ... niedlich. Sie kam jetzt in das schlaksige Alter, wie Chase es nannte, ehe sie zu der weiblichen Schönheit erblühen würde, die sie eines Tages zu werden versprach. Dieser Tag schien jedoch noch in unvorstellbarer Ferne zu liegen. Außerdem würde ihr ohne Chase niemand beim Großwerden zuschauen.

Aber Chase war tot, und ihr hatte man wieder das Haar geschnitten. Violet hatte es nicht nur gekürzt, sondern regelrecht verstümmelt, hatte hier eine Strähne oder eine Locke stehen lassen und dort bis auf die Haut geschoren. Rachel sah aus wie ein räudiger Hund auf dem Misthaufen. Doch Rachel entdeckte auch etwas anderes in dem Spiegel: die Frau, die sie eines Tages sein würde, die Frau, die Chase ihr prophezeit hatte.

Was würde Chase denken, wenn er sie nun mit diesem Stoppelhaar sehen würde?

Rachel verdrängte den Gedanken und schwang sich den Lederbeutel über die Schulter. Sie öffnete die Tür einen Spalt, spähte in den Gang, zog die Tür weiter auf und blickte in die andere Richtung. Alles leer. Sie eilte hinaus und verschloss die Tür hinter sich. An die Gänge und Flure im Schloss erinnerte sie sich ebenso gut wie an Chases Lächeln, zu dem sie ihn stets bringen konnte, selbst wenn er ernst bleiben wollte. Das hatte ihr am besten gefallen, wenn er lachte, obwohl er sie eigentlich böse angucken wollte. Sie nahm die Dienstbotentreppe, denn dort würde sie den wenigsten Wachen begegnen. Die hielten sich überwiegend in den Hauptgängen auf. Jedermann ging seiner Arbeit nach. Bisher hatte niemand erfahren, dass es eine neue Königin gab.

Waschfrauen trugen ihre Bündel, tratschten und schauten Rachel kaum an. Männer mit Vorräten zollten ihr keinerlei Aufmerksamkeit. Rachel vermied es, ihnen in die Augen zu sehen, damit keiner eine Frage stellte.

Schließlich erreichte sie die Tür, die zu einem Seitengang des Schlosses führte. Sie bog um die Ecke und stand geradewegs vor zwei Wachen. Die trugen rote Wappenröcke über dem Kettenhemd und Piken mit blanken Spitzen. Am Gürtel eines jeden hing ein Schwert.

Rachel erkannte sofort, dass die zwei sie nicht durchlassen würden, ohne erfahren zu wollen, was sie hier zu tun und welches Ziel sie hatte.

»Ihr müsst fort von hier!«, rief Rachel ihnen entgegen. »Schnell!«

Sie drehte sich um und zeigte nach hinten. »Die Soldaten der Imperialen Ordnung dringen in das Schloss ein - dort hinten!«

Einer der beiden stützte sich auf seine Pike. »Von denen haben wir nichts zu befürchten. Die sind unsere Verbündeten.«

»Sie wollen die Wachen der Königin enthaupten! Ich habe gehört, wie der Kommandant den Befehl gegeben hat! Enthauptet sie alle, hat er gesagt! Die Soldaten haben ihre großen Streitäxte gezückt. Ihnen wurde versprochen, sie dürften das Eigentum der Männer behalten, die sie enthaupten. Schnell! Sie kommen! Rettet euch!«

Beiden stand der Mund offen.

»Dort entlang!«, schrie Rachel und zeigte auf die Dienstbotentreppe.

»Da werden sie nicht nachschauen. Schnell! Ich warne die anderen!«

Die Männer nickten ihr dankbar zu und rannten auf die Tür zur Dienstbotentreppe zu. Nachdem sie verschwunden waren, lief auch Rachel los, erreichte rasch die Tür und - hatte das Schloss verlassen. Sie schlug den Weg ein, den die Bediensteten benutzten, wenn sie Besorgungen in der Stadt zu erledigen hatten. Überall patrouillierten stämmige Soldaten, Furcht erregende Männer, doch sie schienen an den Dienern kein Interesse zu haben, also gesellte sich Rachel zu einigen Zimmerleuten und ging neben ihrem großen Karren. Das Gesicht verbarg sie hinter der Ladung, die aus Brettern bestand. Die Soldaten widmeten den Dienstboten, die ihrer Arbeit nachgingen, nur wenig Aufmerksamkeit, meistens begafften sie nur die hübscheren Frauen. Rachel hielt den Kopf gesenkt. Bei ihrem schlecht geschorenen Haar sah sie aus wie ein Niemand, und keiner der Soldaten hielt sie an.

Hinter der großen Steinmauer begleitete sie die Zimmerleute weiter, bis sie durch ein Wäldchen kamen. Rachel blickte über die Schulter und sah, dass keiner der Soldaten in ihre Richtung schaute. Schnell wie eine Katze verschwand Rachel zwischen den Bäumen. Zwischen den Balsamtannen und Kiefern begann sie zu laufen. Sie suchte sich Wildwechsel durch das Dickicht und bewegte sich in westliche und nördliche Richtung. Sobald sie zu laufen angefangen hatte, erfasste sie Panik und trieb ihre Beine zu größter Eile an. Rachel konnte nur noch an Flucht denken. Dies war ihre Chance. Sie musste sich beeilen.

Wenn die Soldaten der Imperialen Ordnung sie hier draußen erwischten, würde sie in arge Schwierigkeiten geraten. Zwar war sie sich nicht sicher, was mit ihr geschehen würde, aber eine ungefähre Vorstellung hatte sie schon. Chase hatte ihr in einer dunklen Nacht am Lagerfeuer erzählt, was solche Männer mit ihr anstellen würden. Er hatte ihr gesagt, sie solle solchen Kerlen nicht in die Fänge geraten. Falls es ihr jedoch trotzdem passieren würde, solle sie mit allem kämpfen, was ihr zur Verfügung stand. Chase hatte betont, er wolle ihr keine Angst machen, sondern er sei nur um ihre Sicherheit besorgt. Trotzdem weinte sie und fühlte sich erst besser, als er schützend den starken Arm um sie legte.

Ihr fiel auf, dass sie nichts hatte, mit dem sie sich verteidigen konnte. Die Messer hatte man ihr weggenommen. Wäre sie doch klüger gewesen und hätte in Violets Zimmer nach ihnen gesucht! Doch sie war so sehr darauf erpicht gewesen, das Schloss zu verlassen, dass sie überhaupt nicht daran gedacht hatte. Zumindest hätte sie sich in der Küche ein Messer besorgen können. Allerdings war sie in ihrer Freude über das gelungene Kunststück mit der Kordel losgezogen, ohne auch nur einmal an eine Waffe zu denken. Chase wäre vermutlich wütend genug, um wieder zum Leben zu erwachen und sie für ihre Gedankenlosigkeit zu schelten. Ihr Gesicht glühte vor Scham.

Abrupt blieb sie stehen, als sie einen dicken Ast auf dem Boden liegen sah. Den hob sie auf und prüfte die Härte. Er schien geeignet zu sein. Sie schlug damit gegen eine Tanne, und er gab einen dumpfen Knall von sich. Der Ast war zwar ein wenig zu schwer, um ihn bequem tragen zu können, doch immerhin hatte sie jetzt eine Waffe.

Sie trabte weiter, wenn auch ein wenig langsamer, denn sie wollte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und das Schloss bringen. Wann man ihr Verschwinden bemerken würde, wusste sie nicht, und auch nicht, ob Sechs eine Möglichkeit hatte, ihrer Spur zu folgen. Rachel fragte sich, ob Sechs vielleicht dazu fähig war, in eine Schale mit Wasser zu blicken und Rachel aufzuspüren. Daraufhin lief sie wieder schneller.

Am frühen Nachmittag stieß sie auf einen größeren Weg. Er schien ungefähr in Richtung Norden zu führen. Aydindril lag, wie sie wusste, irgendwo im Norden. Ob sie einen Ort in so weiter Ferne finden würde, war die Frage, doch ein anderes Ziel wollte ihr nicht einfallen. Wenn sie zur Burg zurückkehren könnte, würde Zedd ihr helfen.

Vollkommen in ihre Gedanken versunken, bemerkte sie den Mann nicht, ehe sie beinahe mit ihm zusammenprallte. Sie blickte auf und sah einen Soldaten der Imperialen Ordnung.

»Na, na, was haben wir denn da?«

Als er nach ihr greifen wollte, schwang Rachel ihren Stock mit aller Kraft und schlug dem Kerl vors Knie. Er schrie auf, ging zu Boden, umklammerte sein Knie und verfluchte sie.

Rachel stürmte los. Sie schlug wieder die Wildwechsel ein, weil sie kleiner war und dort schneller vorankam als große Männer. Plötzlich klang es, als wäre ein Dutzend Soldaten hinter ihr her. Sie brachen laut durch das Buschwerk. Den Mann, dem sie vors Knie geschlagen hatte, hörte sie ganz weit hinten fluchen und seine Kameraden auffordern, Rachel zu fangen.

Außer Atem und nahezu entkräftet erreichte sie eine Lichtung, auf der ihr weitere Männer den Weg versperrten. Alle liefen auf sie zu. Rachel schlug einen Haken und rannte weiter. Überall schienen Soldaten zu sein. Sie geriet in Panik, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie ihnen entkommen sollte.

Dann hörte sie einen Mann stürzen. Sie schaute sich nicht um, rannte einfach weiter. Sie hörte einen zweiten fallen und kurz schreien, bevor er verstummte. Rachel fragte sich, ob sie vielleicht in Löchern stecken geblieben waren oder sich mit den Füßen in niedrigen Schlingpflanzen verfangen hatten.

Ein weiterer Mann stieß ein Grunzen aus. Diesmal blieb Rachel stehen und wandte sich kurz um. Der Mann war weder gestolpert noch hatte er sich den Knöchel verdreht. Diesen Laut hatte er im Sterben von sich gegeben. Rachel starrte mit großen Augen zurück. Wieder schrie ein Soldat, als würde er bei lebendigem Leib gehäutet. Was mochte dies für ein Wald sein und welche Ungeheuer waren darin unterwegs? Sie wandte sich nach vorn und lief los. Wenn die Männer sie erwischten, hatte sie keine Chance. Obwohl sie nicht wusste, was da hinten vor sich ging, musste sie den Soldaten entkommen, denn die würden ihr glatt die Kehle durchschneiden, weil sie ihnen diese Schwierigkeiten bereitet hatte.

Plötzlich sprangen drei Männer mit wütendem Gebrüll aus dem Unterholz. Rachel stieß einen Schrei aus und rannte aus Leibeskräften, von Angst getrieben. Die Männer hatten jedoch längere Beine und holten rasch auf.

Einer blieb unvermittelt stehen. Rachel blickte über die Schulter und sah, wie der Mann den Rücken wie vor Schmerzen krümmte. Dann entdeckte sie, dass ein fußlanges Stück Stahl aus seiner Brust ragte. Die anderen beiden wandten sich dem unerwarteten Angreifer zu. Als der durchbohrte Soldat zu Boden ging, sah Rachel, wer hinter ihm stand. Ihr fiel die Kinnlade herunter.

Chase! Leibhaftig und in voller Lebensgröße.

Das konnte sie nicht begreifen.

Die beiden Männer griffen ihn an. Chase kämpfte mit raschen, kraftvollen Hieben gegen sie und erledigte sie, als würde er Ungeziefer verscheuchen. Doch nun strömten weitere Soldaten der Imperialen Ordnung aus dem Wald heran. Mindestens ein halbes Dutzend der großen Kerle griffen den noch größeren Grenzer an. Rachel rannte zurück, während Chase gegen alle Männer auf einmal kämpfte. Er tötete einen, doch auf der anderen Seite nutzte der nächste die Blöße und ging auf Chase los. Rachel schlug ihm ihren Prügel von hinten in die Knie. Seine Beine knickten ein. Chase fuhr herum, durchbohrte den Kerl und wandte sich dem erbitterten Angriff der übrigen Männer zu, die, vor Anstrengung grunzend, den Hünen niederzumachen versuchten. Sie fletschten die Zähne und knurrten und versuchten Chases Arme zu packen, damit ihn einer erstechen konnte. Rachel schlug mit aller Kraft auf sie ein, jedoch ohne Erfolg.

Von einem der Toten holte sich Rachel ein Messer und stach auf die Beine eines Mannes ein, der Chase von hinten angriff. Der Kerl schrie auf und drehte sich um. Chase erledigte ihn im nächsten Moment.

Plötzlich herrschte, abgesehen von Rachels und Chases Keuchen, Stille. Alle Männer waren tot.

Sie stand da und starrte Chase an. Immer noch mochte sie ihren Augen nicht trauen. Sie fürchtete, er würde wieder verschwinden wie ein Phantom.

Er blickte sie an, und dann breitete sich dieses wundervolle Lächeln auf seinem Gesicht aus.

»Chase, was machst du hier?«

»Ich wollte nur mal schauen, ob es dir gut geht.«

»Gut geht? Ich wurde im Schloss gefangen gehalten. Dich habe ich für tot gehalten. Ich musste mich selbst retten. Wo hast du so lange gesteckt?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich wollte dir nicht den Spaß verderben. Außerdem hast du es doch allein geschafft.«

»Also«, sagte sie ein wenig verblüfft, »ich hätte schon Hilfe gebrauchen können.«

»Tatsächlich?« Ihre Klage schien ihn wenig zu bedrücken. »Du scheinst doch alles hinbekommen zu haben.«

»Du hast ja keine Ahnung. Es war schrecklich. Sie haben mich wieder in die Kiste gesperrt und meine Zunge festgeklemmt, damit ich nicht sprechen konnte.«

Chase sah sie von der Seite an. »Wahrscheinlich hast du dieses Zungenschloss nicht mitgebracht, oder? Hört sich wie ein ganz nützliches Gerät an.«

Rachel grinste und umschlang ihn in Bauchhöhe. Als sie ihn kennen gelernt hatte, musste sie noch seine Beine umarmen, weil sie nicht höher langen konnte. Sie genoss den Trost, seine große Hand auf dem Rücken zu spüren. Endlich schien die Welt wieder im Lot zu sein.

»Ich dachte, du wärest tot«, sagte sie und fing an zu weinen. Er zerzauste ihr das abgeschnittene Haar. »Das würde ich dir niemals antun, Kleines. Ich habe doch versprochen, auf dich aufzupassen, und das habe ich ernst gemeint.«

»Ich schätze, dann muss ich jetzt wieder deine Tochter sein.«

»Denke ich auch. Obwohl dein Haar wirklich hässlich ist. Lass es dir wieder wachsen, wenn du bei mir bleiben willst. So wirst du es jedenfalls nicht mehr schneiden, wenn du meine Tochter sein möchtest. Das habe ich dir schon mal gesagt.«

Rachel grinste trotz der Tränen. Chase lebte!

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