Es gab tausend Dinge, die Richard Shota sagen wollte. Gerne hätte er ihr erklärt, dass die Imperiale Ordnung schwerlich die einzige Bedrohung war, die sie mächtig unter Druck setzte; ihr erklärt, dass nun, da die Kästchen der Ordnung im Spiel waren, die Schwestern der Finsternis, sofern ihnen niemand Einhalt gebot, Kräfte entfesseln würden, die die Welt des Lebens vernichten und jedermann in die Arme des Hüters des Totenreiches treiben würden, dass die Feuerkettenreaktion, sofern es ihnen nicht gelang, sie umzukehren, die Zerstörung von jedermanns Erinnerungsvermögen und Verstand bewirken konnte und die Menschheit damit eines wichtigen Mittels zur Sicherung ihres Fortbestandes beraubt würde. Er wollte ihr erklären, dass die gesamte Magie ausgelöscht werden könnte, wenn es ihnen nicht gelang, die Welt von der durch die Chimären hinterlassenen Verunreinigung zu läutern, und dass diese Verunreinigung durchaus bereits einen Dominoeffekt ausgelöst haben konnte, der, wenn er nicht zum Stillstand gebracht wurde, schon allein das Potenzial besaß, alles Leben zu vernichten. Gern hätte er ihr erklärt, dass sie nicht die leiseste Ahnung von der Frau hatte, die er liebte, der Frau, die sein Ein und Alles war, ihr erklärt, wie viel Kahlan ihm bedeutete, wie besorgt er um sie war, wie sehr er sie vermisste und dass ihn das Grauen dessen, was ihr derzeit widerfuhr, um den Schlaf brachte.
Und er hätte ihr auch gerne erklärt, dass die Imperiale Ordnung in diesem Augenblick nur eines ihrer entsetzlichen Probleme war. Doch dann sah er die zitternde Jebra im Schutz von Zedds tröstlichem Arm und fand, dass dies kaum der rechte Zeitpunkt war, all diese Dinge zur Sprache zu bringen.
Er streckte die Hand aus und winkte Jebra zu sich. Ihre himmelblauen Augen waren tränenerfüllt. Schließlich stieg sie, zögernd, die Stufen zu ihm hinab. Er kannte die genauen Einzelheiten des Grauens nicht, das sie durchgemacht hatte, doch die Anspannung stand ihr noch überdeutlich in ihr abgehärmtes Gesicht geschrieben. Ihre Falten waren ein stummes Zeugnis all der Bitterkeiten, die sie durchlitten hatte.
Als sie seine Hand ergriff, legte er seine andere in einer besänftigenden Geste behutsam darüber. »Ihr kommt von weit her, und wir wissen zu schätzen, dass Ihr uns bei unseren Bemühungen helfen wollt. Bitte erzählt uns, was Ihr wisst.«
Sie nickte, dabei fiel ihr das kurz geschnittene, sandfarbene Haar nach vorne in ihr tränenverschmiertes Gesicht. »Ich werde mich bemühen, so gut es irgend geht, Lord Rahl.«
Unter Shotas wachsamem Blick geleitete er sie über die Marmorfläche zum Brunnen, wo er sie auf dem kleinen Marmormäuerchen Platz nehmen ließ, das die jetzt still daliegende Wasserfläche umgab.
»Ihr habt Königin Cyrilla in ihr Heim zurückbegleitet«, gab er ihr das Stichwort. »Ihr hattet Euch ihrer angenommen, weil sie krank war - in den Wahnsinn getrieben durch die Zeit, die sie mit all diesen fürchterlichen Männern in der Grube verbracht hatte. Ihr solltet ihr helfen, wieder zu Kräften zu kommen und sie im Falle des Gelingens beraten.«
Jebra nickte.
»Und ... nachdem sie in ihr Heim zurückgekehrt war, ging es ihr da allmählich wieder besser?«, erkundigte sich Richard, obwohl er dies längst von Kahlan wusste.
»Ja. Sie hatte sich so lange in einem Zustand abgestumpfter Teilnahmslosigkeit befunden, dass wir schon dachten, sie würde nicht mehr gesund werden, doch nachdem sie eine Weile wieder zuhause war, begann sie allmählich wieder zu sich selbst zu finden. Anfangs gewahrte sie nur die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung, und auch das immer nur für kurze Zeit. Doch je mehr sie von der vertrauten Umgebung wieder erkannte, desto länger währten auch diese klaren Phasen. Zur Freude aller schien sie langsam wieder ins Leben zurückzufinden. Schließlich befreite sie sich, wie ein Tier, das aus dem Winterschlaf erwacht, aus ihrer langen Lethargie. Es war, als schüttelte sie ihren langen Schlaf ab und kehrte wieder in einen normalen Zustand zurück. Sie war voller Energie und ganz begeistert, wieder zuhause zu sein.«
»Königin Cyrilla war Königin von Galea«, bemerkte Shota erklärend an Richard gewandt. »Sie war die Kronerbin anstelle von ...«
»Prinz Herold«, beendete Richard den Satz mit einem Blick hinauf zu der Hexe für sie. »Herold war Cyrillas Bruder. Er hatte die Krone abgelehnt, weil er es vorzog, das Kommando über die Galeanische Armee zu übernehmen.«
Shota zeigte sich erstaunt. »Du scheinst dich in der Galeanischen Monarchie ja recht gut auszukennen.«
»Ihr gemeinsamer Vater war König Wyborn«, fuhr Richard fort.
»König Wyborn war auch der Vater Kahlans; Kahlan ist demnach Cyrillas Halbschwester. Deshalb kenne ich mich so gut mit der Monarchie Galeas aus.«
Wenn Shota überrascht war, das zu hören, oder sie ihm nicht glaubte, weil Kahlan plötzlich ins Spiel gebracht wurde, ließ sie sich von beidem nichts anmerken. Schließlich brach sie den Blickkontakt mit ihm ab und begann wieder, auf und ab zu gehen, was Jebra zum Anlass nahm, mit ihrer Geschichte fortzufahren.
»Als wäre sie niemals fort gewesen, nahm Cyrilla wieder ihren Platz auf dem Thron ein. In der Stadt schien man hocherfreut, sie wiederzuhaben. Galea hatte große Anstrengungen unternommen, um sich von der schrecklichen Zeit zu erholen, als der Sitz der Krone von einer Vorhut der Armee der Imperialen Ordnung geplündert worden war. Der Überfall war eine Tragödie ungeheuren Ausmaßes gewesen und hatte einen entsetzlichen Blutzoll gefordert. Doch jetzt, nachdem die Invasoren lange abgezogen waren, waren die Reparaturarbeiten an den Zerstörungen schon seit geraumer Zeit wieder im Gange. Selbst die niedergebrannten Gebäude befanden sich im Wiederaufbau. Geschäfte hatten wieder geöffnet. Der Handel war zurückgekehrt, und aus ganz Galea strömten die Menschen wieder auf der Suche nach einem besseren Leben in die Stadt. Familien bekamen wieder Zuwachs, es wurden wieder Ehen geschlossen. Dank harter Arbeit war auch wieder so etwas wie Wohlstand eingekehrt. Die Rückkehr der Königin schien die Stadt mit einem frisch erstarkten Lebensgeist zu erfüllen, und die Welt schien wieder im Lot zu sein.
Alles sprach davon, man habe seine Lektion gelernt, eine solche Tragödie werde sich nie wieder ereignen. Zu diesem Zweck errichtete man Verteidigungsanlagen und stellte eine sehr viel größere Armee auf. Wie viele der Bewohner Galeas, hatte auch Königin Cyrilla diese entsetzliche Zeit aus ihrem Gedächtnis getilgt und konnte es kaum erwarten, sich ’wieder der Geschicke ihres Landes anzunehmen. Voller Eifer stürzte sie sich in alle möglichen Aktivitäten, vom Schlichten diverser Handelsstreitigkeiten bis hin zur Teilnahme an festlichen Gesellschaften, auf denen sie mit den Würdenträgern tanzte.
Prinz Herold, als Oberbefehlshaber der Galeanischen Armee, hielt sie über die jüngsten Entwicklungen beim Einmarsch in die Neue Welt auf dem Laufenden, sie war sich also vollkommen darüber im Klaren, dass die Horden im Begriff waren, in gewaltiger Zahl in die südlichen Gebiete der Midlands einzufallen. Ich spürte stets umgehend, wenn sie die jüngsten Berichte erhalten hatte. Meist fand ich sie dann in murmelnde Selbstgespräche vertieft, ein Taschentuch zerknüllt in ihrer Hand, wie sie in einem dunklen, fensterlosen Zimmer auf und ab lief. Fast schien es mir, als suchte sie nach jenem dunklen Flecken in ihrem Verstand - jenem Zustand abgestumpfter Benommenheit, in dem sie sich zuvor befunden hatte -, ohne ihn jedoch finden und wieder dorthin zurückkehren zu können.«
Mit einer knappen Geste deutete Jebra auf den alten Mann oben an der Treppe, der sie bei ihrer Schilderung nicht aus den Augen ließ.
»Zedd hatte mir aufgetragen, ein Auge auf sie zu halten und ihr nach Kräften mit meinem Rat zur Seite zu stehen. Auch wenn nach außen hin der Eindruck entstanden sein mochte, sie sei wieder ganz die Alte - immerhin war sie nicht wieder in diesen Zustand ausdrucksloser Benommenheit zurückgefallen -, konnte ich sehen, dass sie noch immer Gefahr lief, den Verstand zu verlieren. Vermutlich waren meine Visionen deshalb so verschwommen, weil sie, obwohl augenscheinlich wieder ganz normal, innerlich noch immer von fürchterlichen Ängsten gepeinigt wurde. Darin glich sie sehr dem Land Galea; äußerlich schien alles wieder ganz normal, in Wahrheit aber konnte vor dem Hintergrund des Vormarsches der Imperialen Ordnung in die Neue Welt davon kaum die Rede sein. Unter der Oberfläche herrschte stets eine unheimliche Spannung. Als wir dann von den Spähern hörten, die Imperiale Ordnung sei auf dem Vormarsch durch das Callisidrin-Tal im Herzen der Midlands, mit dem Ziel, einen Keil in die Neue Welt zu treiben, riet ich der Königin dringend dazu, die D’Haranische Armee zu unterstützen. Sie müsse die Galeanische Armee unbedingt in Marsch setzen, damit sie Seite an Seite mit den übrigen Streitkräften all jener Länder, die sich mit dem D’Haranischen Reich verbündet hatten, kämpfe. Wie Prinz Herold auch, versuchte ich ihr begreiflich zu machen, dass unsere einzige Chance auf eine erfolgreiche Verteidigung in der Solidarität mit den sich der Imperialen Ordnung widersetzenden Truppen bestand.
Doch sie wollte nichts davon wissen und meinte, als Königin von Galea sei es ihre alleinige Pflicht, Galea zu beschützen, nicht andere Völker oder Länder. Ich versuchte, ihr zu erklären, dass Galea auf sich gestellt keine Chance hätte. Aber Cyrilla hatte Geschichten aus anderen eroberten Städten gehört, Geschichten von der skrupellosen Brutalität der Imperialen Ordnung, und hatte entsetzliche Angst vor deren Truppen. Ich erklärte ihr, dass sie nur dann sicher sei, wenn wir helfen würden, die Invasoren aufzuhalten, ehe sie Galea erreichten.
Unterdessen erhielten wir verzweifelte Ersuchen um die Entsendung von Truppen. Cyrilla ignorierte sie und befahl stattdessen Prinz Herold, so viele Männer wie möglich zu den Waffen zu rufen und die Armee zum Schutze Galeas einzusetzen. Sie erklärte, sowohl er selbst als auch die Galeanische Armee seien allein Galea verpflichtet. Anschließend gab sie den Befehl aus, die Invasoren unter keinen Umständen die Grenze überschreiten, auch nur einen Fuß auf Galeanischen Boden setzen zu lassen.
Prinz Herold, der ihr zunächst noch zu dem geraten hatte, was er selbst für das Klügste hielt, handelte nun seinem eigenen Rat zuwider und ließ sich in einem Akt absurder Loyalität auf ihre Wünsche ein. Er ging daran, ihre Anweisungen auszuführen. Es war ihr offenbar egal, ob der Rest der Midlands oder, was das angeht, die gesamte Neue Welt der Imperialen Ordnung in die Hände fiel, solange die Galeanische Armee ...«
»Ja, schon gut.« Mit einer ungeduldigen Handbewegung forderte die noch immer vor ihr auf und ab laufende Shota sie auf fortzufahren. »Wir alle wissen, dass Königin Cyrilla nicht ganz richtig im Kopf war. Ich habe Euch nicht den weiten Weg hierher gebracht, damit Ihr uns das Leben unter einer verrückten Königin schildert.«
»Verzeihung.« Sichtlich befangen, räusperte sich Jebra und fuhr fort.
»Nun, Cyrilla wurde zunehmend ungehalten - über mich und meine beharrlichen Versuche, sie zu beraten - und teilte mir mit, ihr Beschluss sei endgültig.
Mit ihrer entschlossenen Festlegung auf eine bestimmte Vorgehensweise war der weitere Verlauf der Ereignisse vorgegeben und unser Schicksal und unsere Zukunft besiegelt. Ich denke, das war wohl auch der Grund, weshalb ich schließlich doch noch von einer überaus eindringlichen Vision heimgesucht wurde. Es begann nicht mit der eigentlichen Vision selbst, sondern mit einem haarsträubenden Geräusch, das meinen Verstand erfüllte, ein schauderhafter Lärm, der mich am ganzen Körper zittern ließ. Mit dem beängstigenden Lärm begannen plötzlich Bilder auf mich einzuströmen, Visionen der Verteidiger, wie sie zermalmt und überrannt wurden, Visionen vom Untergang der Stadt, Visionen von Königin Cyrilla, ausgeliefert einer johlenden Soldatenmeute, der sie als ... als Hure und Objekt der Belustigung dienen musste.«
Eine Hand auf ihren Unterleib gepresst, die Ellbogen dicht am Körper, wischte Jebra sich die Tränen von der Wange und sah lächelnd kurz hoch zu Richard. Es war ein unsicheres Lächeln, welches das Grauen nicht zu verhehlen vermochte, das er so überdeutlich in ihren Augen sehen konnte. »Ich habe natürlich nicht die Absicht«, sagte sie, »Euch das Grauen in allen Einzelheiten zu schildern, wie ich es in meiner Vision gesehen habe. Aber ihr habe ich es erzählt.«
»Ich nehme an, es hat nicht viel genützt«, bemerkte Richard.
»Nein, das hat es nicht.« Jebra nestelte an einer Strähne ihres Haars.
»Cyrilla war außer sich vor Zorn und rief ihre königliche Leibgarde. Als diese dann durch die hohen, blauen vergoldeten Doppeltüren stürzten, zeigte sie mit ausgestrecktem Finger auf mich und schimpfte mich eine Verräterin. Sie befahl, mich in ein Verlies zu werfen. Noch während die Gardisten mich ergriffen, erteilte sie ihnen mit sich überschlagender Stimme den Befehl, mir, sollte ich nur noch ein einziges Wort über meine Vision - meine Blasphemie, wie sie es nannte - verlieren, die Zunge herauszuschneiden.«
Ein verhaltenes Lachen löste sich rasselnd aus ihrer Kehle, ein Lachen, das so gar nicht zu ihrem bebenden Kinn und der zerfurchten Stirn passen wollte. Was sie dann sagte, kam im Tonfall einer kläglichen Rechtfertigung über ihre Lippen. »Ich wollte doch meine Zunge nicht verlieren.«
Zedd, der mittlerweile die Stufen hinabgestiegen war, legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Natürlich nicht, meine Liebe, natürlich nicht. In dem Augenblick hätte es Euch auch nichts genutzt, auf Eurer Ansicht zu beharren. Kein Mensch hätte erwartet, dass Ihr mehr tut, als Ihr getan habt. Ihr habt getan, was Ihr konntet; Ihr habt ihr die Wahrheit aufgezeigt. Und sie hat sich bewusst entschieden, die Augen vor ihr zu verschließen.«
Jebra, die kaum ihre Finger stillhalten konnte, nickte. »Ich schätze, in Wirklichkeit hat sie sich nie von ihrem Wahnsinn erholt.«
»Vernunftwidriges Verhalten muss noch lange kein Zeichen für Wahnsinn sein, ihr solltet nicht versuchen, eine solche bewusste, absichtsvolle Handlung mit Wahnsinn zu entschuldigen.« Als sie ihn daraufhin verdutzt ansah, breitete Zedd, in einer Geste schmerzlicher Enttäuschung angesichts eines altbekannten Dilemmas, das er nur zu häufig beobachtet hatte, seine Hände aus. »Menschen, die das starke Bedürfnis verspüren, etwas zu glauben, sind oft nicht bereit, die Wahrheit zu erkennen, ganz gleich wie offenkundig diese ist. Und das ist eine ganz bewusste Entscheidung.«
»Vermutlich«, sagte Jebra.
»Sieht ganz so aus, als hätte sie, statt sich an die Wahrheit zu halten, eine Lüge geglaubt, die sie unbedingt glauben wollte«, warf Richard ein, als er sich auf einen Teil des Ersten Gesetzes der Magie besann, eines Gesetzes, das er von seinem Großvater gelernt hatte.
»So ist es.« Mit dem Arm vollführte Zedd eine übertriebene Geste, die bittere Parodie eines Zauberers, der einen Wunsch gewährt. »Sie entschied, wie sie die Geschehnisse wünschte, in der Annahme, die Wirklichkeit werde sich ihren Wünschen schon fügen.« Er ließ den Arm sinken. »Aber die Wirklichkeit gewährt keine Wünsche.«
»Na schön, Königin Cyrilla war wütend auf Jebra, weil sie die Wahrheit offen ausgesprochen hatte, weil sie etwas zur Sprache gebracht hatte, was nicht mehr ohne weiteres übersehen und ignoriert werden konnte«, warf Cara ein. »Und hat sie dann dafür bestraft.«
Zedd nickte, während er mit den Fingerspitzen sachte Jebras Schultern massierte. Seine Berührung hatte sie die müden Augen schließen lassen. »Menschen, die - aus welchem Grund auch immer die Wahrheit nicht erkennen wollen, nehmen oft eine überspitzt feindliche Haltung ihr gegenüber ein und leugnen sie mit verbissener Hartnäckigkeit. Und nicht selten kehren sie ihre gehässige Ablehnung gegen jeden, der es wagt, auf diese Wahrheit hinzuweisen.«
»Was der Wahrheit aber keinen Abbruch tut«, warf Richard ein. Zedd zuckte die Achseln, Ausdruck ebenjener freimütigen Unkompliziertheit, die er darin sah. »Wer die Wahrheit sucht, für den ist es stets eine Frage schlichten vernünftigen Eigennutzes, die Wirklichkeit niemals aus den Augen zu verlieren. Immerhin gründet sich Wahrheit auf Wirklichkeit, nicht auf Einbildung.«
Richard legte seinen Handballen auf das Walnussholzheft des Messers in seinem Gürtel. In Gedanken jedoch bei dem Schwert der Wahrheit und der Frage, wo es sich jetzt wohl befand, starrte Richard blicklos geradeaus. »Ich finde es nahezu unbegreiflich, wie Menschen jene Dinge aus dem Blick verlieren können, die in ihrem ureigenen Interesse liegen.«
»Ja, sollte man meinen.« Zedds Tonfall beiläufiger Konversation war jener dünnen, schrillen Sprechweise gewichen, die Richard sofort sagte, dass ihn noch etwas anderes bedrückte. »Das ist des Pudels Kern.«
Als Richard daraufhin in seine Richtung sah, bedachte Zedd ihn mit einem durchdringenden Blick. »Mutwillig von der Wahrheit abzuweichen, das ist Verrat an sich selbst.«
Shota, die Arme verschränkt, hielt in ihrem Umherwandern inne und beugte sich zu Zedd. »Ein Gesetz der Magie, Zauberer?«
Erstaunt hob Zedd eine Braue. »Das zehnte, um genau zu sein.«
Sie warf Richard einen vielsagenden Blick zu. »Ein weiser Rat.«
Nachdem sie ihn eine Weile mit ihrem eisenharten Blick fixiert hatte, nahm sie ihr Umherwandern wieder auf.
Offenbar war sie der Meinung, ging es Richard durch den Kopf, er ignoriere die Wahrheit - die Wahrheit der in das Land einmarschierenden Armee der Imperialen Ordnung. Aber dem war überhaupt nicht so, er wusste nur einfach nicht, was sie noch von ihm erwartete, um ihren Einmarsch aufzuhalten. Hätte er einen Wunsch frei, hätte er sie längst wieder in die Alte Welt zurückgejagt. Wenn er wüsste, wie er sie aufhalten könnte, würde er es tun, aber das war nicht der Fall. Es war schlimm genug zu wissen, dass Shota zu glauben schien, seine Untätigkeit gründe sich auf puren Starrsinn so, als stünde die Lösung in seiner Macht.
Er sah zu der stattlichen Frau oben an der Treppe hoch, die ihn beobachtete. Selbst in ihrem rosa Nachthemd verströmte sie Noblesse und Klugheit. Während Richard von Menschen großgezogen worden war, die ihn dazu angehalten hatten, mit den Dingen stets so zu verfahren, wie sie tatsächlich waren, war sie unter dem Einfluss von Menschen aufgewachsen, die von den von der Imperialen Ordnung verbreiteten Glaubensüberzeugungen gesteuert wurden. Wenn man ein Leben lang autoritären Lehren ausgesetzt war, bedurfte es schon einer bemerkenswerten Persönlichkeit, um noch den Willen aufzubringen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Nur wenige Menschen besaßen diesen Mut.
Richard fragte sich, ob sie ebenfalls glaubte, er sei, aus irrationalen und eigensinnigen Motiven, gleichgültig gegenüber der Invasion der Imperialen Ordnung. Er fragte sich, ob auch sie glaubte, er versäume es, entscheidend zum Schutz unschuldiger Menschen vor diesem grauenhaften Leid beizutragen. Er hoffte inständig, dass dem nicht so war. Es gab Augenblicke, da schien Niccis Unterstützung so ziemlich das Einzige, was ihm die Kraft zum Weitermachen gab. Vielleicht erwartete sie ja von ihm, die Suche nach Kahlan aufzugeben und sich stattdessen ganz auf die Errettung von sehr viel mehr als nur diesem einen Menschenleben zu konzentrieren, wie kostbar es auch sein mochte. Er unterdrückte diese quälende Angst; er wüsste, Kahlan hätte dasselbe von ihm verlangt. Sosehr sie ihn liebte - damals, als sie noch wüsste, wer sie war -, Kahlan hätte niemals gewollt, dass er sich auf ihre Fährte setzte, wenn dies zu Lasten des Versuchs gegangen wäre, eine viel größere Zahl von Menschen aus tödlicher Gefahr zu retten.
Dann plötzlich tat der Gedanke, der ihm gerade durch den Sinn gegangen war, seine Wirkung: damals, als sie noch wüsste, wer sie war, wer er war. Wie konnte Kahlan ihn noch lieben, wenn sie weder wüsste, wer sie war, noch wer er war? Die Knie drohten ihm nachzugeben.
»Genau so habe ich das auch gesehen«, sagte Jebra und öffnete, als Zedd seine tröstlichen Hände von ihr nahm, wie beim Erwachen ihre Augen. »Dass ich mein Bestes gegeben hatte, um ihr die Wahrheit vor Augen zu führen. Nur mochte ich nicht in diesem Verlies hocken. Wirklich nicht.«
»Und was geschah dann?« Zedd kratzte sich seine hohle Wange.
»Wie lange habt Ihr dort unten in dem Verlies gesessen?«
»Ich verlor den Überblick, welcher Tag es war. Es gab keine Fenster, daher kam mir nach einer Weile jedes Gefühl dafür abhanden, ob es Tag war oder Nacht. Ich bekam den Wechsel der Jahreszeiten nicht mit, wusste aber immerhin, ich hatte lange genug dort eingesessen, dass sie gekommen und wieder gegangen waren. Nach und nach verlor ich alle Hoffnung.
Ich bekam zu essen - nie genug, um satt zu werden, aber gerade ausreichend, um nicht zu verhungern. Von Zeit zu Zeit - mitunter in sehr großen Abständen - ließ man in dem schäbigen Hauptraum jenseits der Eisentür eine Kerze brennen. Die Wachen verhielten sich mir gegenüber nicht vorsätzlich grausam, trotzdem war es fürchterlich beängstigend, in der Dunkelheit dieser winzigen gemauerten Zelle eingesperrt zu sein. Ich war klug genug, mich nicht zu beklagen. Wenn die anderen Gefangenen sich beschwerten oder Krach schlugen, warnte man sie, still zu sein, und gelegentlich, wenn ein Gefangener sich nicht an diese Anordnung hielt, konnte ich hören, wie die Wachen ihre Drohungen wahr machten. Manchmal kam es vor, dass die Gefangenen nur kurz dort blieben, bis man sie zu ihrer Hinrichtung abführte. Von Zeit zu Zeit wurden neue Gefangene hereingebracht. Nach dem bescheidenen Ausblick, den mir mein winziges Guckloch gewährte, waren die Männer, die man brachte, ein verrohter und gefährlicher Haufen. Manchmal riss mich ihr abstoßendes Gefluche in tiefster Dunkelheit aus dem Schlaf, sodass ich beim Einschlummern sofort Albträume bekam. Die ganze Zeit über verharrte ich in Angst, eine Vision könnte mich heimsuchen, die mir mein endgültiges Schicksal vor Augen führte, aber solche Visionen stellten sich nie ein. Allerdings brauchte ich sie auch gar nicht, um mir auszumalen, was die Zukunft für mich bereithielt. Ich wusste, Cyrilla würde es mir zum Vorwurf machen, wenn die Invasoren schließlich näher rückten. Ich hatte mein ganzes Leben lang Visionen. Nicht selten geben die Menschen, denen nicht gefällt, was ihnen widerfahren wird, mir dir Schuld daran, weil ich ihnen erklärte, was ich sehe. Statt diese Information zu benutzen, um etwas zu verändern, machen sie es sich leicht und lassen ihren Unmut an mir aus. Oftmals glaubten sie, ich hätte ihren Ärger erst verursacht, indem ich ihnen von meinen Visionen erzählte, so als wäre es meine Entscheidung, was ich sehe, und würde durch meine Böswilligkeit erst Wirklichkeit.
Das Eingeschlossensein in diese finstere Zelle war mir nahezu unerträglich, und doch konnte ich nichts anderes tun, als es zu erdulden. In den endlosen Stunden, die ich dort hockte, begann ich zu begreifen, wieso Cyrilla damals in der Grube den Verstand verloren hatte. Wenigstens musste ich mich nicht solcher Rohlinge erwehren - diesen Schlag Männer hatte man in die anderen Zellen gesperrt. Wie die Dinge lagen, war ich überzeugt, dort in der Zelle vergessen und im Stich gelassen zu sterben. Ich verlor vollends den Überblick, wie lange ich vor der Welt, vor dem Licht und dem Leben weggesperrt war.
Während all dieser Zeit suchten mich nie wieder irgendwelche Visionen heim. Damals wusste ich noch nicht, dass ich nie wieder welche haben würde.
Einmal schickte die Königin einen Unterhändler, der mich fragen sollte, ob ich bereit wäre, meine Vision zu widerrufen. Ich erklärte ihm, dass ich der Königin mit Freuden jede Lüge auftischen würde, die sie hören wollte, wenn sie mich nur freiließe. Offenbar entsprach es nicht dem, was die Königin hören wollte, denn ich sah den Unterhändler nie wieder - noch kam jemand, um mich freizulassen.«
Richard wandte sich zur Seite und sah, dass Shota ihn beobachtete. In ihren Augen konnte er den stummen Vorwurf sehen, dass er sich mit seinem Wunsch, sie solle ihm etwas anderes erzählen als das, was der Welt ihrer Ansicht nach bevorstand, genauso verhielt, und spürte einen schuldbewussten Stich.
Jebra schaute zu den Oberlichtern hoch über ihren Köpfen hinauf, als könnte sie vom schlichten Wunder dieser Helligkeit gar nicht genug bekommen. »Eines Nachts - erst später erfuhr ich, dass es in der Welt oben ebenfalls Nacht war - erschien ein Wachtposten vor dem winzigen Guckloch in der Eisentür zu meiner engen, kleinen Zelle und teilte mir mit leiser Stimme mit, Truppen der Imperialen Ordnung befänden sich auf dem Vormarsch in die Stadt. Dann fügte er noch hinzu, die Schlacht werde jetzt endlich jeden Moment beginnen.
Er klang fast froh, dass das quälende Warten ein Ende hatte, dass die Wirklichkeit sie alle endlich davon erlöste, ihrer Königin etwas vorzugaukeln. Es war, als hätte das Wissen um ihr Schicksal sie alle zu treulosen Verrätern gemacht, und dieser Verrat an den Wunschvorstellungen der Königin ginge nun auf die Wirklichkeit über. Gleichwohl war dies ja nur ein Teil der königlichen Wahnvorstellungen, jener Teil, der zu offensichtlich war, als dass man sich ihm hätte entziehen können.
Im Flüsterton antwortete ich, dass ich Angst um die Einwohner der Stadt hätte. Er schnaubte nur verächtlich und schalt mich einfältig, weil ich die Galeanischen Soldaten noch nicht kämpfen gesehen hätte. Er gab sich äußerst zuversichtlich, dass die Galeanische Armee, eine Streitmacht von weit über einhunderttausend tapferen Soldaten, den Eindringlingen eine deftige Lektion erteilen und sie in die Flucht schlagen würde, genau wie ihre Königin es versprochen hatte.
Ich hielt den Mund. Ich wagte nicht, dem illusionären Wunschdenken der Königin von ihrer Unbesiegbarkeit zu widersprechen, traute mich nicht zu sagen, dass es für die Truppen der Imperialen Ordnung mit ihrer gewaltigen zahlenmäßigen Überlegenheit, die ich in meiner Vision geschaut hatte, ein Leichtes sei, die Armee der Verteidiger zu vernichten, und dass die Stadt fallen werde. Eingesperrt in meiner Zelle, konnte ich ja nicht einmal fortlaufen.
Und dann vernahm ich das seltsame, unheimliche Geräusch aus meiner Vision. Es jagte mir einen Schauder über den Rücken. Eine eiskalte Gänsehaut überlief meinen Körper. Schließlich begriff ich, was es war: der klagende Ton Abertausender feindlicher Gefechtshörner. Es klang wie das Geheul von Dämonen, hervorgekommen aus der Unterwelt, um die Lebenden zu verschlingen. Nicht einmal die mächtigen Steinmauern vermochten dieses grauenhafte, durchdringende Geräusch fernzuhalten. Es war ein Laut, der das Nahen des Todes ankündigte, ein Laut, bei dem dem Hüter höchstselbst ein Feixen über das Gesicht gegangen wäre.«