Nicci marschierte durch die riesige Halle im Palast des Volkes und zog Cara, Nathan und eine Schar Wachen hinter sich her. Jedes Mal, wenn jemand Nathan »Lord Rahl« nannte, zuckte sie zusammen. Sie wusste, es war unumgänglich, und trotzdem blieb in ihrem Herzen Richard der einzige Lord Rahl.
Sie hätte alles gegeben, um wieder in seine grauen Augen zu sehen. Im Palast glaubte sie fast, seine Gegenwart zu spüren, was vermutlich an dem Bann lag, um den der Palast errichtet war. Denn der Palast war in Form eines Banns für den Lord Rahl gebaut. Richard war der Lord Rahl. Zumindest für sie.
Gerechterweise musste sie zugeben, dass andere - zum Beispiel Cara - ebenso empfanden. Wenn sie mit Cara allein war, was nicht selten vorkam, herrschte zwischen den beiden ein Einverständnis, das keine Worte brauchte. Beide litten den gleichen Schmerz. Beide wollten Richard zurück.
Cara trat vor und führte sie durch ein Netz kleiner Gänge für die Dienstboten zu einer Eisentreppe, die in einem dunklen Schacht aufstieg. Oben stieß sie eine Tür auf. Sie wurden von kaltem Licht empfangen, als sie den Beobachtungsposten betraten. Hier oben am Rande der Außenmauer, am Rande der Hochebene, stand man wie am Ende der Welt.
Unten erstreckte sich die Armee der Imperialen Ordnung wie ein schwarzer Fleck bis zum fernen Horizont.
»Seht Ihr, was ich meine?«, fragte Nathan und zeigte zu dem Bauwerk in der Ferne. Zunächst war es schwer zu erkennen, doch bald ergab es Sinn.
»Ihr habt recht«, sagte sie. »Es scheint eine Rampe zu sein. Meint Ihr, man kann tatsächlich eine Rampe bis hier oben bauen?«
Nathan schaute einen Augenblick hinaus. »Ich weiß es nicht, aber ich würde sagen, wenn Jagang diese Mühsal auf sich nimmt, dann nur, weil er glaubt, es bewerkstelligen zu können.«
»Falls sie es schaffen, eine derart breite Rampe zu bauen«, sagte Cara, »bedeutet das ziemlichen Ärger.«
»Eher: Es bedeutet unseren ›Tod‹«, warf Nathan ein. Nicci beobachtete die Männer des Ordens und schätzte die Entfernung zu der Baustelle ab. »Nathan, Ihr seid doch ein Rahl. Dieser Ort verstärkt Eure Kraft. Ihr solltet in der Lage sein, Zaubererfeuer hinunterzuschleudern und das Ding in die Luft zu jagen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, antwortete er. »Ich vermute allerdings, die Schwestern werden Schilde errichtet haben, um genau das zu verhindern. Ich habe noch nicht nach solchen Abwehrmaßnahmen geforscht und noch nichts ausprobiert. Damit möchte ich warten, bis sie noch ein wenig länger geschuftet haben damit sie sich sicher fühlen. Dann, wenn sie näher herangekommen sind und ich schließlich zuschlage, habe ich bessere Chancen, ernsthaften Schaden anzurichten. Wenn ich die Rampe jetzt zerstöre, haben sie nicht viel verloren. Deshalb sollten wir besser abwarten, bis sie noch mehr Zeit und Arbeit hineingesteckt haben.«
Nicci sah den großen Propheten stirnrunzelnd an. »Nathan, Ihr seid ein hinterhältiger Kerl.«
Er setzte sein Rahl-Lächeln auf. »Ich betrachte mich lieber als einfallsreich.«
Nicci schaute sich nun das Lager jenseits der Baustelle an. Es war gerade weit genug entfernt, damit die mit der Gabe Gesegneten dort Zeit genug hätten, auf einen Angriff zu reagieren. Nicci war lange in Jagangs Armee gewesen und wusste, wie man dort dachte. Sie kannte die Verteidigungsringe, die Jagangs Offiziere und die mit der Gabe Gesegneten um die Armee herum aufstellen würden. Und einige dieser mit der Gabe Gesegneten waren Schwestern der Finsternis.
»Seht Euch das an«, sagte sie und zeigte zum Lager. »Anscheinend trifft gerade Nachschub ein.«
Nathan nickte. »Der Winter steht vor der Tür. Die Armee macht keine Anstalten abzuziehen, daher werden sie eine Menge Vorräte brauchen, wenn die Männer lebend über den Winter kommen sollen.«
Nicci überlegte, was man dagegen unternehmen konnte, kam jedoch zu dem Schluss, dass von hier aus wenig zu erreichen war. »Also, Richard hat die Armee nach Süden in die Alte Welt geschickt, um die Nachschubtrosse zu überfallen. Hoffentlich haben sie Erfolg und erledigen ihre Aufgabe. Wenn diese Männer da unten einfach verhungern, wäre unser Problem gelöst. In der Zwischenzeit werde ich ein paar Gedanken der Frage widmen, wie wir ihnen beim Sterben helfen können.«
Sie wandte sich von dem bedrückenden Anblick des Lagers ab und von dem Nachschubtross, der diesen Männern brachte, was notwendig war, um die Belagerung des Palastes aufrechtzuerhalten.
»Kommt«, sagte sie zu Nathan, »ich muss zurück. Aber warum zeigt Ihr es mir nicht, ehe ich aufbreche?«
Nathan führte sie durch den Palast nach unten, wobei er die riesigen Hallen mied und sich eher an die Bereiche für die Dienstboten hielt. Rasch brachte er sie tiefer in die dunklen inneren Teile unter dem Palast, welche die meisten Bewohner niemals zu Gesicht bekamen. Selbst an diesen Orten gab es elegante, wenn auch einfache Hallen aus Stein. Ihnen fehlten die kunstvollen Verzierungen. Manche waren mit poliertem Stein verkleidet, andere mit edlen Hölzern. Es waren die privaten Gänge, die nur der Lord Rahl und seine Bediensteten benutzten.
Nicci war in den Palast des Volkes gekommen, um dem Garten des Lebens einen Besuch abzustatten. Danach hatte sie sich erkundigt, wie Berdine bei ihrer Suche nach Informationen vorankam und wie es Nathan erging. Beide wollten ihr in allen Einzelheiten von ihren Schwierigkeiten erzählen; Nicci hatte sich eigentlich nicht die Zeit nehmen wollen, sich aber gezwungen, geduldig zuzuhören. Nachdem sie noch einmal den ursprünglichen Aufbewahrungsort der Kästchen gesehen hatte, war sie kaum mehr in der Lage, sich auf die Berichte der beiden zu konzentrieren. Diesmal betrachtete sie den verlassenen Garten des Lebens mit anderen Augen und bekam ein Gefühl für den Ort, wo Darken Rahl die Kästchen geöffnet hatte und wo sie aufbewahrt worden waren. Sie hatte die Position in dem Raum studiert, die Lichtmenge, die Winkel zu den verschiedenen bekannten Sternkarten und zusätzlich, wie Sonne und Mond zu dem Ort standen. Schließlich hatte sie den Bereich angeschaut, wo die Banne gewirkt worden waren.
Seit sie Das Buch des Lebens übersetzt hatte, betrachtete Nicci den Garten des Lebens in einem neuen Licht. Sie sah ihn im Zusammenhang mit der Magie der Ordnung und der Art, wie der Raum genutzt worden war. Sie hatte wichtige Einsichten in den Ort erlangt, an dem die Kästchen zuletzt verwendet worden waren. Solch praktische Bezüge hatten ihr manche Frage beantwortet und einige ihrer eigenen Schlussfolgerungen bestätigt.
Schließlich erreichte Nathan eine Flügeltür, vor der Wachen standen. Er gab den Männern einen Wink, und sie öffneten die weißen Türen. Dahinter befand sich eine Mauer aus weißem Stein, die aussah, als wäre sie teilweise geschmolzen.
»Seid Ihr dort drin gewesen?«, fragte sie den Propheten.
»Nein«, gab er zu. »In meinem Alter versuche ich, mich von Grüften so fern wie möglich zu halten.«
Nicci trat über die niedrige Schwelle durch die insgesamt niedrige Öffnung. »Wartet hier«, sagte sie zu Cara, die ihr folgen wollte.
»Seid Ihr sicher?«
»Hier ist Magie im Spiel.«
Cara rümpfte die Nase, als hätte sie an saurer Milch gerochen, und wartete draußen beim Propheten.
Nicci schickte einen Funken Han zu einer Fackel an der Seite. Nach all der Zeit loderte sie trotzdem sofort auf. Nun sah sie, dass der riesige Raum mit der Gewölbedecke aus rosafarbenem Granit gebaut war. Der Boden bestand aus weißem Marmor. An den Wänden befanden sich Aberdutzende von goldenen Vasen, die jeweils in Nischen neben einer Fackel standen. Zerstreut zählte Nicci sie. Siebenundfünfzig. Die Zahl schien ihr eine Bedeutung zu haben. Vermutlich bezogen sich Vasen und Fackeln auf das Alter des Mannes, der in dem Sarg in der Mitte des Raums lag. Es war ein unbehaglicher Ort, nicht nur weil es sich um eine Gruft handelte. Nicci strich über die Symbole, die in die Granitwände unter den Vasen gehauen waren. Die Worte, die um den ganzen Raum und den goldenen Sarg liefen, waren in Hoch-D’Haran verfasst. Die Inschriften waren Anweisungen eines Vaters an seinen Sohn, über den Prozess, die Unterwelt zu betreten und wieder zurückzukehren. Was für ein Vermächtnis!
Solche Banne enthielten subtraktive Magie. Das verursachte das Schmelzen der Wände. Indem man den Raum mit einem besonderen Stein verkleidete, hatte man den Prozess deutlich verlangsamt, aber nicht vollkommen zum Stillstand gebracht.
»Und?«, fragte Nathan und steckte den Kopf durch das geschmolzene Loch. »Irgendwelche Ideen?«
Nicci kam heraus und wischte sich die Hände. »Ich weiß nicht. Unmittelbare Gefahr besteht nicht, glaube ich, aber hier sind dunkle Dinge im Spiel, daher kann ich mich auch täuschen. Ich denke, am besten würde man den Raum hinter einer Dreierbeschwörung abschirmen.«
Nathan nickte nachdenklich. »Wollt Ihr das machen? Mit subtraktiver Magie?«
»Besser wäre es, wenn Ihr es macht. Ihr seid ein Rahl. Das hätte größere Wirkung. Selbst wenn ich subtraktive Magie einsetze, enthält dies hier drin eine Mischung von beidem und wurde von einem Rahl gewirkt. Solche Kräfte wären imstande, jede Beschwörung zu durchbrechen, die ich hier unter den Beschränkungen durch den Schutzbann des Palastes vornehme.«
Das ließ er sich kurz durch den Kopf gehen. »Ich kümmere mich sofort darum.« Nathan warf noch einen Blick in die Gruft. »Habt Ihr eine Vorstellung, was den Bann dazu bringt durchzubrennen?«
»Aufs Geratewohl würde ich vermuten, es wurde ausgelöst, als oben im Garten des Lebens eines der Kästchen geöffnet wurde. Dadurch wurde wohl eine synchrone Reaktion in Gang gebracht. Noch ist sie nicht weit genug fortgeschritten, als dass ich das Ziel des subtraktiven Elements erkennen könnte, aber die Inschriften an Sarg und Wänden deuten darauf hin, dass die zusammengesetzte Komposition den Zweck hat, bei der Erlangung der Macht der Ordnung zu helfen, deshalb kam es zu einer harmonischen Reaktion, nachdem sie in der Nähe dieser spezifischen Kraft waren.«
Nathan blinzelte. »Gut. Ich mache eine Dreierbeschwörung und behalte die Sache im Auge.«
»Ich muss zurück. Später werde ich wieder vorbeischauen, einfach nur um zu erfahren, ob es Nachricht von Richard gibt und wie der Orden draußen vorankommt.«
»Sagt Zedd, ich habe hier alles im Griff und den Feind umzingelt.«
Nicci lächelte. »Ich werde es ihm ausrichten.«
Auf dem Weg durch die riesigen Hallen des Palastes, begleitet von Cara, hing Nicci ihren Gedanken nach. Sie war unsicher, was sie als Nächstes tun sollte. An allen Ecken und Kanten gab es dringliche Probleme. Die meisten erschienen vage und unbestimmt. Außerdem hatte sie niemanden, mit dem sie über das sprechen konnte, was ihr durch den Kopf ging. Zedd stellte eine gewisse Hilfe dar, mit Cara konnte sie dagegen über andere Dinge gut reden.
Aber Richard war der Einzige, der nachvollziehen konnte, wie sie mittlerweile die grundlegenden Punkte verstand. Eigentlich war es auch Richard gewesen, der sie in das Konzept der kreativen Magie eingeführt hatte. Sie erinnerte sich sehr gut an die Unterhaltung, die sie eines Nachts mit ihm im Lager geführt hatte. Es war einer dieser unvergesslichen Momente mit Richard gewesen.
Zudem musste Richard bestimmte Dinge wissen. Da waren beunruhigende Ereignisse, die mit ihm und den Kästchen der Ordnung zusammenhingen. Gewissermaßen hatte er Feuer unter Zutaten entzündet, die nicht nur gefährlich waren, sondern die zu brodeln und kochen begannen und sich möglicherweise auf äußerst heimtückische Weise verbanden, wenn man nicht dagegen einschritt. Dazu gehörten auch Prophezeiungen, die zu verstehen sie sich nicht zutraute, da sie keine Prophetin war. Andere Prophezeiungen glaubte sie sehr wohl zu begreifen und konnte nicht umhin, sie in ihre Überlegungen mit einzubeziehen.
Hauptsächlich ging es um diese Prophezeiung, die lautete: »Im Jahr der Zikaden« - welches das gegenwärtige Jahr war - »wenn der Vorkämpfer für Selbstaufopferung und Leid unter dem Banner der Menschheit und des Lichts endlich seinen Schwärm teilt« - was Jagang getan hatte -, »soll dies als Zeichen dafür dienen, dass die Prophezeiung zum Leben erweckt worden ist und uns die letzte und entscheidende Schlacht bevorsteht. Seid gewarnt, denn alle wahren Gabelungen und ihre Ableitungen sind in dieser seherischen Wurzel miteinander verknüpft. Ein einziger Hauptstrang nur zweigt von dieser Verknüpfung der allerersten Ursprünge ab.« Diese Zeit, in der es um alles oder nichts, Erfolg oder Scheitern ging, war gekommen, dieser Wendepunkt, der ein für alle Mal die Richtung für die Zukunft festlegen würde. »Wenn der fuer grissa ost drauka in dieser letzten Schlacht nicht die Führung übernimmt, dann wird die Welt, bereits jetzt am Abgrund ewiger Finsternis, unter ebendiesen fürchterlichen Schatten fallen.«
Diese Prophezeiung, das erkannte sie nun langsam, bezog sich auf die Kästchen der Ordnung, aber es wollte sich ihr nicht erschließen, wie. Gelegentlich hatte sie das Gefühl, kurz davor zu stehen, aber irgendwie entzog es sich ihr immer wieder. Knapp unter der Oberfläche dieser Prophezeiung gab es etwas, das der Schlüssel sein musste.
Zur gleichen Zeit spürte sie, dass die Ereignisse unaufhaltsam in Gang gekommen waren, und sie musste etwas unternehmen, damit sie nicht außer Kontrolle gerieten. Mit jedem Tag, der verstrich, schwanden ihre Möglichkeiten. Die Schwestern der Finsternis hatten die Kästchen ins Spiel gebracht und ihnen so die Möglichkeit genommen, sie ihrem Zweck gemäß einzusetzen: als Mittel gegen den Feuerkettenbann. Da der Feuerkettenbann durch die Chimären verunreinigt war, ging ihnen mehr und mehr die Fähigkeit verloren, ihre Gabe einzusetzen und so den Schaden zu beheben. Es ließ sich nicht sagen, wie lange sie überhaupt noch ausreichende Kontrolle über ihre Gabe hätten, und die wiederum war notwendig, um die Hindernisse zu überwinden, vor denen sie standen. Gleichzeitig hatte Das Buch des Lebens eine Bedeutung für sie bekommen, die sie sich niemals vorgestellt hätte. Sie hatte auch mehrere eher unbekannte Bücher gelesen, die Zedd für sie zum Thema Theorie der Ordnung gefunden hatte. Auch die hatten ihr Verständnis vertieft, nur um im Anschluss umso größere Fragen aufzuwerfen.
Erschrocken blieb Nicci stehen und sah auf. »Was war das?«
»Die Glocke zur Andacht«, sagte Cara, verwirrt über Niccis Reaktion.
Nicci schaute zu, wie sich Menschen auf einem nahen Platz mit einem Wasserbecken in der Mitte zu versammeln begannen. Das Becken, mit einem großen dunklen, nicht ganz mittig platzierten Felsen darin, war zum Himmel hin offen.
»Vielleicht sollten auch wir zur Andacht gehen«, sagte Cara.
»Manchmal hilft das, wenn man Sorgen hat, und Ihr habt eindeutig Sorgen.«
Nicci sah die Mord-Sith stirnrunzelnd an und fragte sie, woher sie über die Sorgen Bescheid wusste. Vermutlich sah man es ihr deutlich an.
»Ich habe keine Zeit für die Andacht«, sagte Nicci. »Ich muss zurück und dieses Problem lösen.«
Cara wirkte nicht so, als hielte sie das für eine gute Idee. Sie zeigte auf den Platz.
»An Lord Rahl zu denken könnte helfen.«
»An Nathan zu denken hilft mir überhaupt nicht. Mir ist es gleichgültig, ob alle in Nathan den Lord Rahl sehen. Richard ist der Lord Rahl.«
Cara lächelte. »Ich weiß. Das habe ich doch gemeint.« Sie nahm Nicci am Arm und zog sie zu dem Becken. »Kommt.«
Nicci starrte die Frau an, während sie sich mitziehen ließ, und sagte:
»Na, wahrscheinlich schadet es nicht, eine Weile innezuhalten und an Richard zu denken.«
Cara nickte und sah in diesem Augenblick sehr weise aus. Die Menschen machten der Mord-Sith respektvoll Platz, als sie zu einer Stelle nahe am Wasserbecken ging. Nicci bemerkte Fische, die durch das dunkle Wasser glitten. Ehe sie sich’s versah, kniete sie neben Cara und drückte die Stirn auf den Boden.
»Führe uns, Meister Rahl«, begannen die Leute wie mit einer Stimme zu intonieren. »Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns,
Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Nicci gesellte sich mit ihrer Stimme zu den anderen, und der Sprechgesang erfüllte die Hallen. Die Worte »Meister Rahl« und Richard waren für sie untrennbar verbunden. Sie bedeuteten das Gleiche.
Fast gegen ihren Willen beruhigten sich Niccis aufgebrachte Gedanken, als sie leise die Worte mit den anderen Anwesenden sprach.
»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Sie verlor sich in den Worten. Die Sonne schien ihr warm auf den Rücken. Der nächste Tag würde der erste des Winters sein, doch in Lord Rahls Palast war es warm, ganz so wie im Garten des Lebens. Es erschien ihr eigenartig, dass Darken Rahl und vor ihm sein Vater, Panis, die auch Lord Rahl gewesen waren, diesen Ort in einen Hort des Bösen verwandelt hatten.
Allerdings war dieser Ort eben auch nur ein Ort. Der Mensch war es, auf den es ankam. Der Mensch machte den Unterschied. Der Mensch gab die Richtung vor, der die anderen folgten, zu Recht oder zu Unrecht. In gewisser Weise war die Andacht die formale Anerkennung dieser Auffassung.
»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Die Worte hallten in Niccis Kopf wider. Sie vermisste Richard so sehr. Obwohl sein Herz einer anderen gehörte, vermisste sie ihn, sein Lächeln, die Gespräche mit ihm. Wenn das alles war, was sie je bekommen würde, war es genug, um ihr Kraft zu geben. Nur seine Freundschaft - er wertvoll für sie, sie wertvoll für ihn. Einfach Richard, der lebte, der glücklich war, der ... Richard war.
Unser Leben gehört dir.
Abrupt erhob sich Nicci auf die Knie.
Sie hatte es verstanden.
Verwirrt runzelte Cara die Stirn, während alle anderen beteten. »Was ist los?«
Unser Leben gehört dir.
Sie wusste, was sie zu tun hatte.
Eilig stand sie auf. »Kommt. Ich muss zurück zur Burg.«
Während sie gemeinsam durch die Gänge rannten, hörte Nicci die flüsternden Stimmen, die sich erhoben und durch die langen Korridore hallten.
»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. Beschütze uns, Meister Rahl. In deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gewährt uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Nicci fühlte sich in diesen Worten verloren, denn plötzlich hatten sie eine Bedeutung für sie erlangt, die sie niemals zuvor getragen hatten. Endlich hatte sie begriffen, wie alles zusammenpasste, und sie wusste, was sie zu tun hatte.
Zedd erhob sich von seinem Stuhl am Schreibtisch, als er Nicci in der Tür stehen sah. Das Lampenlicht milderte seine vertrauten Züge.
»Nicci, Ihr seid zurück. Wie steht es im Palast des Volkes?« Nicci hörte die Frage kaum. Und antworten konnte sie schon gar nicht darauf.
Zedd kam näher, und Besorgnis zeigte sich in seinen braunen Augen.
»Nicci, was ist denn los? Ihr seht aus wie ein Gespenst, das in der Burg spuken will.«
Sie musste sich überwinden zu sprechen. »Vertraut Ihr Richard?«
Zedd runzelte die Stirn. »Was ist das für eine Frage?« »Vertraut Ihr Richard Euer Leben an?«
Zedd machte eine Geste mit einem Arm. »Natürlich. Worum geht es denn?«
»Vertraut Ihr Richard das Leben aller an?« Zedd ergriff sanft ihren Arm. »Nicci, ich liebe den Jungen.« »Bitte, Zedd, vertraut Ihr Richard das Leben aller an?« Die Besorgnis breitete sich von den Augen auf das ganze Gesicht aus, die Falten wurden tiefer. Endlich nickte er. »Aber selbstverständlich. Wenn es jemals einen gab, dem ich mein Leben oder das Leben aller anvertrauen würde, dann Richard. Schließlich habe ich ihn zum Sucher ernannt.«
Nicci nickte und wandte sich um.
»Danke, Zedd.«
Er zog seine Robe ein wenig hoch, als er ihr hinterhereilte. »Braucht Ihr Hilfe, Nicci?«
»Nein«, antwortete sie. »Danke. Mir geht es gut.«
Zedd nickte, nahm sie beim Wort und kehrte zu dem Buch zurück, in dem er gelesen hatte.
Nicci wanderte durch die Gänge der Burg, ohne etwas wahrzunehmen. Sie bewegte sich, als würde sie einer unsichtbaren leuchtenden Linie zu ihrem Ziel folgen, so wie Richard behauptete, er könne leuchtende Linien einer Bannform verfolgen.
»Wohin geht es?«, fragte Cara und eilte ihr hinterher.
»Vertraut Ihr Richard? Vertraut Ihr ihm Euer Leben an?«
»Sicherlich«, sagte Cara, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Nicci nickte und ging weiter.
Sie kam an Korridoren vorbei, an Abzweigungen, Räumen und Treppen, und sie nahm nichts wahr. In diesem Dunst erreichte sie schließlich den gesicherten Teil der Burg und den großen Saal, wo sie beinahe im Prüfnetz gestorben wäre. Ohne Richard hätte es sie das Leben gekostet. Er hatte darauf beharrt, eine Möglichkeit der Rettung für sie zu finden, als niemand sonst daran geglaubt hatte. Sie vertraute Richard ihr Leben an, und ihr Leben war für sie, dank Richard, sehr kostbar.
An der Tür wandte sich Nicci an Cara. »Ich muss allein sein.«
»Aber ich ...«
»Es hat etwas mit Magie zu tun.«
»Oh«, sagte Cara. »Also gut. Ich werde hier draußen im Gang warten, falls Ihr etwas braucht.«
»Danke, Cara, Ihr seid eine gute Freundin.«
»Ich hatte niemals richtige Freunde - Freunde, die diesen Namen verdient hätten -, bis Lord Rahl kam.«
Nicci lächelte zaghaft. »Ich hatte gar nichts, wofür es sich zu leben lohnte, bis Richard kam.«
Sie schloss die beiden Flügel der Tür. Hinter ihr zuckten Blitze vor den zwei Stock hohen Fenstern. Nicci wusste nicht, ob sie je in diesem Raum gewesen war, wenn kein Sturm toste.
Jetzt toste in der ganzen Welt ein Sturm.
Ein Blitz erhellte den Raum mit seinem grellen Licht. Einen Gegenstand gab es hier jedoch, der nicht einmal von solch intensivem Schein berührt wurde. Er wartete wie der Tod persönlich. Nicci legte Das Buch des Lebens offen auf den Tisch vor das schwarze Kästchen der Ordnung, das in der Mitte stand. Jedes Mal, wenn ein Blitz zuckte, schien das Kästchen das Licht zu verschlucken. Es anzustarren war, als würde man in die Ewigkeit schauen.
Sie wirkte den ersten Bann und beschwor eine Dunkelheit, die der unglaublichen Schwärze des grausigen Kästchens vor ihr angemessen war. Sie erinnerte sich an den Palast des Volkes, daran, dass die Person den Ausschlag gab. Mit einem Donnerschlag der Macht, die den Raum erfüllte, war die Tür versperrt. Niemand konnte jetzt eintreten. Das Eindämmungsfeld spielte keine Rolle mehr. Sie hatte etwas Mächtigeres beschworen. Im Raum war es still und stockfinster. Nicci sah allein mithilfe der Kräfte, die sie gerufen hatte.
Sie sprach die Worte, die auf der nächsten Seite geschrieben waren, wirkte den nächsten Bann, der den Pfad für die maßgeblichen Formeln öffnete. Mit einer Scheibe subtraktiver Magie entfernte sie ein dünnes Stück Fleisch von ihrer Fingerspitze und zeichnete mit dem Blut, das hervorquoll, die benötigten Diagramme vor das Kästchen der Ordnung. Mit weiterem Blut aus der offenen Wunde zeichnete sie ein Eindämmungsfeld um das Kästchen. Es ähnelte dem des Raums, war nur wesentlich stärker. Ohne eingedämmt zu werden, konnte die Kraft, die aus dem Kästchen der Ordnung freigesetzt wurde, unabsichtlich den Schleier einreißen, aber das hätte nur den Tod der Person zur Folge, die das versuchte, wozu Nicci sich gerade anschickte.
Sie brauchte fast nicht in das Buch zu sehen, das sie, so kam es ihr vor, ihr halbes Leben lang studiert hatte. Nun fuhr sie mit den Gleichungen fort, die sich auf die Jahreszeit bezogen: auf den ersten Tag des Winters.
Nachdem das beendet war, zeichnete sie mit Blut zwei gegensätzliche Symbole und den Verbindungspunkt des Apex aus den dafür vorgesehenen Tafeln.
Auf eine Formel folgte die nächste, und während der nächsten Stunde brachten die Berechnungen die entstehende Schicht der Magie hervor, die in den nächsten Schritt eingebunden war. Jeder Knoten im Buch erforderte exakt die angemessene Ebene der Magie. An jedem Punkt ließ Nicci sie ohne Vorbehalt strömen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Im Laufe der Nacht bauten sich die Linien des Banns rings um das Kästchen auf - ganz ähnlich dem Prüfnetz des Feuerkettenbanns, dessen Linien grün leuchteten. Andere waren reinweiß, wieder andere waren aus subtraktiven Elementen entworfen, und schwärzer als schwarz bildeten sie leere Stellen in der Welt dort, wohin die Linien gehörten, wie Schlitze, die einen Einblick in die Unterwelt gewähren.
Als Nicci die letzte Zauberformel beendet hatte, hörte sie das Flüstern der Ordnung selbst, die Bestätigung dafür, dass sie alles richtig gemacht hatte. Dennoch war es weniger eine Stimme als vielmehr eine Macht, die den Gedanken in ihrem Kopf formte.
Die Macht ist offen, flüsterte es in der Dunkelheit. Die Worte fühlten sich an wie das Knacken von Eis.
»Ich fordere diese Zeit, diesen Ort, diese Welt auf, sich mit dem Spiel der Kästchen der Ordnung zu drehen.«
Nenne den Spieler.
Nicci legte die Hand auf das Kästchen, das schwarz wie der Tod war.
»Der Spieler heißt Richard Rahl«, sagte sie. »Achte seinen Willen. Erfülle seine Bitten, so er sich würdig erweist, töte ihn, wenn nicht, vernichte uns alle, wenn er uns enttäuscht.«
Es ist vollbracht. Von diesem Augenblick an ist die Macht der Ordnung für Richard Rahl im Spiel.
In der Prophezeiung hieß es: »Wenn der fuer grissa ost drauka in dieser letzten Schlacht nicht die Führung übernimmt, dann wird die Welt, bereits jetzt am Abgrund ewiger Finsternis, unter ebendiesen fürchterlichen Schatten fallen.«
Nicci war zu der Erkenntnis gelangt, dass Richard, wenn er siegen sollte, derjenige war, der sie in diese letzte Schlacht führte. Der einzige Weg dazu war, die Kästchen im Spiel zu haben. Auf diese Weise würde er die Prophezeiung wahrlich erfüllen: fuer grissa ost drauka -der Bringer des Todes.
In der Prophezeiung hieß es, sie müssten Richard folgen, doch es war mehr als eine Prophezeiung. Die Prophezeiung drückte nur formal aus, was Nicci wusste, dass Richard nämlich die Werte des höheren Lebens verkörperte.
Sie folgten eigentlich nicht der Prophezeiung; die Prophezeiung folgte Richard.
Das war die höchste Gefolgschaft für Richard, ihm bei dem zu folgen, was er mit den Kästchen der Ordnung tat, was er mit Leben und Tod machte. Es war die höchste Prüfung dessen, was er war, wer er sein würde, zu was er werden würde.
Richard selbst hatte die Bedingungen für einen Kampf genannt, als er zu den D’Haranischen Soldaten sprach und ihnen erklärte, wie der Krieg von nun an geführt werden musste: um alles oder nichts. Dies durfte sich davon nicht unterscheiden.
Jetzt ging es wahrlich um alles oder nichts.
Ulicia und ihre Schwestern der Finsternis hatten diesen Zugang zur Macht der Ordnung gleichermaßen geöffnet. Wenn Nicci recht hatte, was Richard betraf - und in dem Punkt war sie sich ganz sicher -, dann waren nun zwei Mächte in den Kampf verwickelt, der alles entscheiden würde.
Wenn der fuer grissa ost drauka in dieser letzten Schlacht nicht die Führung übernimmt, dann wird die Welt, bereits jetzt am Abgrund ewiger Finsternis, unter ebendiesen fürchterlichen Schatten fallen.
Sie mussten Richard in diesem Kampf vertrauen. Aus diesem Grund hatte Nicci die Kästchen der Ordnung in Richards Namen ins Spiel gebracht. Die Schwestern der Finsternis geboten nicht mehr als Einzige über die Macht der Ordnung. Ohne das, was sie gerade getan hatte, konnte er nicht siegen, geschweige denn überleben. Nicci driftete in eine andere Welt hinüber. Als sie schließlich die Augen aufschlug, hatte der Sturm aufgehört.
Die ersten Sonnenstrahlen schienen in die Fenster.
Der erste Tag des Winters dämmerte.
Richard hatte ein Jahr Zeit, um das richtige Kästchen zu öffnen. Das Leben aller lag nun in seinen Händen.
Nicci vertraute Richard ihr Leben an. Sie hatte ihm gerade das Leben aller anvertraut.
Wenn sie Richard nicht vertrauen konnte, dann war das Leben nicht lebenswert.