26

Rachel gähnte. Sofort kam Violet scheinbar aus dem Nichts herangerauscht und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige, fest genug, um sie von dem Felsen kippen zu lassen, auf dem sie gesessen hatte.

Benommen stemmte sich Rachel mit einem Arm hoch. Die andere Hand behutsam an ihre Wange gelegt, wartete sie, dass der betäubende Schmerz nachließ, wartete sie, dass ihre Umgebung sich allmählich wieder aus dem Nebel schälte. Zufrieden machte sich Violet wieder an ihre Arbeit.

Von dem anhaltenden Schlafmangel war Rachel so angeschlagen, dass sie nicht richtig auf gepasst hatte und Violets Hieb sie völlig unvorbereitet hatte treffen können. Das schmerzhafte Prickeln trieb ihr die Tränen in die Augen, gleichwohl war sie klug genug, den Mund zu halten und nicht zu zeigen, dass sie Schmerzen hatte.

»Zu gähnen ist bestenfalls unhöflich, im schlimmsten Fall aber ein Zeichen mangelnden Respekts.« Violets plumpes Gesicht linste über ihre Schulter. »Wenn du dich nicht benimmst, nehme ich das nächste Mal die Peitsche.«

»Ja, Königin Violet«, antwortete Rachel mit kleinlauter Stimme. Sie wusste nur zu gut, dass Violet keine leeren Drohungen machte. Sie war so ungeheuer müde, dass sie kaum noch die Augen offen halten konnte. War sie früher Violets »Gespielin« gewesen, so schien sie jetzt nicht mehr als das Ziel ihrer Misshandlungen zu sein. Mittlerweile war Violets Denken einzig von dem Wunsch nach Rache erfüllt. Nachts ließ sie einen Apparat aus Eisen in Rachels Mund anbringen. Es war eine grauenhafte Prozedur. Rachel wurde gezwungen, ihre Zunge in eine schnabelähnliche, aus zwei flachen, geriffelten Eisenplatten bestehende Klemme zu stecken, dann wurden die beiden Backen so fest miteinander verschraubt, dass sie ihre Zunge fest umschlossen.

Jedwede Form des Widerstandes, das hatte Rachel leidvoll erfahren müssen, trug ihr eine Tracht Prügel ein, woraufhin ihr die Wachen den Mund aufstemmten, um ihre Zunge anschließend unter Zuhilfenahme von schmerzhaft zupackenden Zangen in der Klemme zu platzieren. Letztendlich behielten sie stets die Oberhand, schließlieh konnte sie ihre Zunge nicht irgendwo verstecken. War die Klemme erst an ihrer Zunge befestigt, wurde ihr Kopf mit der eisernen Maske, ebenfalls ein Teil des Apparats, fest umschlossen, um ihrer Zunge jegliche Beweglichkeit zu nehmen.

Saß die Maske erst auf dem Gesicht, war es Rachel unmöglich zu sprechen. Selbst das Schlucken fiel ihr schwer. Anschließend wurde sie von Violet mit der Bemerkung, nun könne sie am eigenen Leib erfahren, was für ein Gefühl es sei, stumm zu sein und Schmerzen zu leiden, über Nacht in ihre alte Eisenkiste gesperrt. Und wie es schmerzte. Die ganze Nacht über in ihrem Eisenkäfig eingesperrt zu sein, die Zunge festgeschraubt in dieser entsetzlichen Schelle, hatte sie fast um den Verstand gebracht. Anfangs hatte sie, nahezu von Sinnen vor Angst, weil sie sich eingesperrt und allein fühlte, außerstande war, sich zu befreien oder wenigstens diesen schmerzhaften Apparat herunterzureißen, stundenlang geschrien. Doch Violet hatte nur hämisch gelacht und eine schwere Decke über die Kiste geworfen, um Rachels Geschrei zu ersticken. Das Greinen und Schreien hatte den Schmerz der Eisenklemme, die ihre Zunge festhielt, nur noch verschlimmert und diese in einen blutigen Klumpen verwandelt.

Was sie aber letztendlich bewog, ihre Tränen und ihr Geschrei einzustellen, war Violet selbst, die plötzlich ihr Gesicht ganz nah vor das winzige Fenster schob und ihr erklärte, wenn sie nicht still wäre, würde sie Sechs befehlen, ihr die Zunge vollends herauszuschneiden. Ihr war augenblicklich klar gewesen, dass Sechs nicht zögern würde, wenn Violet sie darum bat.

Also stellte sie ihr Gebrüll ein und hörte auf, Theater zu machen. Stattdessen rollte sie sich in ihrem winzigen eisernen Gefängnis ganz klein zusammen und versuchte, sich die Dinge in Erinnerung zu rufen, die Chase ihr beigebracht hatte. Das war es auch, was sie zu guter Letzt wieder hatte zur Ruhe kommen lassen.

Chase hatte ihr nämlich geraten, sich in Gedanken nicht mit ihrer jeweiligen misslichen Lage zu befassen, sondern auf einen Augenblick zu lauern, wenn sie sich daraus befreien konnte. Er hatte ihr beigebracht, das Verhaltensmuster der Menschen zu beobachten und auf einen Moment der Unachtsamkeit zu warten. Und genau das tat sie. Nacht für Nacht lag sie, ohne je ein Auge zuzutun, in ihrer eisernen Kiste und harrte darauf, dass es endlich Morgen wurde, die Männer sie aus der Kiste zogen und ihr für den Tag diesen scheußlichen Apparat abnahmen.

Weil ihre Zunge wund und vernarbt war, konnte sie kaum noch Nahrung zu sich nehmen - nicht, dass man ihr viel zu essen gegeben hätte. Jeden Morgen nach dem Abnehmen der Schelle spürte sie mehrere Stunden lang ein schmerzhaftes Pochen in der Zunge. Auch ihre Kieferknochen schmerzten, schließlich hatte der Apparat ihren Mund die ganze Nacht über sperrangelweit offengehalten. Sie hatte Schmerzen beim Essen, und wenn sie sich doch einmal überwand, schmeckte alles nach altem schmutzigem Metall. Da auch das Sprechen wehtat, redete sie nur, wenn sie von Violet etwas gefragt wurde. Die wiederum setzte, sobald sie merkte, dass Rachel das Sprechen bewusst vermied, mitunter ein verächtliches Lächeln auf und nannte sie kleines Stummerchen.

Ein weiteres Mal in der Gewalt einer so abgrundtief boshaften Person zu sein hatte sie völlig entmutigt, zudem verspürte sie eine nie gekannte Trauer über den Verlust von Chase. Sie schaffte es einfach nicht, die Erinnerung an seine brutale Verwundung aus ihren Gedanken zu verbannen, und grämte sich unendlich seinetwegen. Ihr Kummer, das Elend und das völlige Alleingelassensein erschienen ihr unerträglich. Wenn Violet nicht gerade Zeichenunterricht nahm oder irgendwelche Bediensteten herumkommandierte, sich mit Essen vollstopfte, Geschmeide anprobierte oder sich bei einer Kleideranprobe vergnügte, vertrieb sie sich die Zeit damit, Rachel zu quälen. Um ihre Erinnerung an den Feuerstab aufzufrischen, mit dem sie Violet einst bedroht hatte, packte sie Rachel manchmal am Handgelenk und legte ihr ein winziges weiß glühendes Kohlestück auf den Arm, aber was Violet ihr auch antat, am allerschlimmsten war ihre Trauer um Chase. Jetzt, da Chase nicht mehr war, spielte es fast schon keine Rolle mehr, was mit ihr geschah.

Violet hatte offenbar beschlossen, ihr den größten Teil der Schuld am Verlust ihrer Zunge zuzuschreiben, weshalb sie sie für all die Dinge, die Rachel ihr einst angetan hatte, »disziplinieren« müsse, wie sie es nannte. Sie hatte ihr erklärt, es werde wohl eine Weile dauern, bis Rachel es verdient habe, dass man ihr diese schwerwiegenden Vergehen sowie ihre Flucht aus dem Schloss verzieh. Violet betrachtete ihre Flucht als ungehörige Zurückweisung ihrer, wie sie es nannte, »Großzügigkeit« gegenüber einem nichtsnutzigen Waisenkind. Nicht selten ließ sie sich endlos und in aller Ausführlichkeit über all die Mühen aus, die sie selbst und ihre Mutter Rachel zuliebe auf sich geladen hätten, nur um hinterher mit ansehen zu müssen, dass sie sich als undankbares verlottertes Gör entpuppte.

Als Violet es nach einer Weile leid wurde, sie zu quälen, schloss Rachel daraus, dass ihre Hinrichtung unmittelbar bevorstand. Mehrfach schon hatte sie Violet die Tötung von »schwerer Verbrechen« beschuldigter Gefangenen anordnen hören. Es musste nur jemand in ausreichend großem Maß ihr Missfallen erregen oder in Sechs’ Augen eine Gefahr für die Krone darstellen, und schon ordnete Violet seine Hinrichtung an. Hatte die betreffende Person überdies den verhängnisvollen Fehler begangen, Violets Autorität und Herrschaft offen in Frage zu stellen, gab sie den Wächtern für gewöhnlich Anweisung, diese lange hinauszuzögern und überaus schmerzhaft zu gestalten. Manchmal ging sie sogar hin, um zuzuschauen und sich zu vergewissern, dass dies auch wirklich geschah.

Rachel erinnerte sich noch an die Zeit, als Königin Milena die Hinrichtungen anordnete und Violet mit dem Zuschauen begann. Rachel, die sie als ihre Spielgefährtin zwangsläufig begleiten musste, hatte vor diesem schauderhaften Anblick stets die Augen abwenden müssen. Violet dagegen nie.

Sechs hatte ein verzweigtes System eingerichtet, das es den Menschen ermöglichte, unerkannt die Namen von Personen zu melden, die sich despektierlich über die Königin äußerten, und Violet klargemacht, dass die Personen, die diese heimlichen Denunziationen abgaben, für ihre Ergebenheit belohnt werden müssten. Violet war mit Geldzuwendungen für die Namen von Verrätern nicht knauserig.

Seit jener Zeit, als Rachel schon einmal in ihrer Gewalt gewesen war, hatte Violet eine neue Vorliebe für das Bereiten von Schmerz entwickelt, da Schmerz, so Sechs’ diesbezüglicher Kommentar, ein ausgezeichneter Lehrmeister sei. Vor allem die Vorstellung, absolute Gewalt über das Leben anderer zu haben und Menschen auf ein bloßes Wort von ihr leiden lassen zu können, hatte es Violet angetan. Darüber hinaus hatte sie einen überspitzten Argwohn gegen absolut jeden entwickelt - mit Ausnahme von Sechs natürlich, die für sie zur einzigen wirklich verlässlichen Vertrauensperson geworden war. Gegenüber den meisten ihrer »treuen Untertanen«, die sie nicht selten als nichtswürdiges Geschmeiß bezeichnete, hegte Violet größtes Misstrauen. Rachel erinnerte sich noch gut, dass Violet früher auch sie oft so genannt hatte.

Trotz der von allgemeiner Verunsicherung und wohlbegründeter Angst vor Königin Milena geprägten Atmosphäre war damals, als Rachel zum ersten Mal im Schloss gelebt hatte, gelegentlich noch gescherzt und gelacht worden.

Jetzt dagegen verfielen alle, wann immer Königin Violet oder Sechs in der Nähe waren, in ängstlich zitterndes Schweigen. Niemandem aus dem Reinigungspersonal, keiner der Wäscherinnen oder Näherinnen, keinem der Köche oder Soldaten kam jemals ein Lächeln oder gar ein Lachen über die Lippen. Alle schienen in beständiger Angst zu leben, während sie beflissen ihrer Arbeit nachgingen. Stets war die Atmosphäre im Schloss von der Angst erfüllt, dass jeder jederzeit auf jeden mit dem Finger zeigen konnte. Alle gaben sich allergrößte Mühe, offen ihren Respekt für die Königin zu zeigen, vor allem in Gegenwart ihrer grimmigen Beraterin. Die Menschen schienen Sechs ebenso zu fürchten wie Violet. Lächelte Sechs das ihr eigene, seltsam leere, schlangengleiche Lächeln, trat den Menschen der Schweiß auf die Stirn, und sie erstarrten auf der Stelle mit entsetzt geweiteten Augen, nur um erleichtert aufzuatmen, sobald sie wieder außer Sicht geschwebt war.

»Genau hier«, sagte Sechs.

»Genau hier was«, fragte Violet, während sie an einer Brotstange herumnagte.

Rachel ermahnte sich, künftig besser Acht zu geben und machte es sich wieder auf dem Felsen bequem, auf dem sie gesessen hatte. Die Ohrfeige hatte sie sich selbst zuzuschreiben, immerhin hatte sie aus Langeweile nicht richtig aufgepasst.

Nein, das ist nicht wahr, schalt sie sich selbst. Chase hatte ihr ins Gewissen geredet, niemals für einen anderen die Schuld zu übernehmen.

Chase. Sie brauchte nur an ihn zu denken, und schon sank ihr das Herz. Wenn sie vor lauter Trauer nicht zu weinen anfangen wollte, musste sie sich mit etwas anderem befassen. Violet ließ ihr praktisch nichts durchgehen, was sie nicht ausdrücklich vorab erlaubt hatte, und das galt auch fürs Weinen.

»Genau hier«, wiederholte Sechs im Tonfall überstrapazierter Geduld. Als Violet sie daraufhin nur anstarrte, ließ Sechs ihren langen Finger über die von der Fackel beschienene Felswand wandern. »Was fehlt?«

Unabhängig von dem folgenden Frage- und Antwortspiel staunte Rachel immer wieder, wie gut Violet in Wahrheit zeichnen konnte. Sämtliche Höhlenwände, vom Eingang bis hinten durch zu der Stelle, an der sie jetzt arbeiteten, waren mit Zeichnungen bedeckt, die auf jeder verfügbaren freien Fläche angebracht waren. An manchen Stellen wirkten sie wie in kleine, zwischen älteren Zeichnungen übrig gebliebene Freiflächen gezwängt. Einige Zeichnungen waren von außerordentlicher Qualität und in der Ausführung so detailliert, dass sie sogar Schattierungen aufwiesen. Die meisten waren jedoch einfache Strichzeichnungen von Gerippen, Feldfrüchten, Schlangen oder anderen Tieren. Es gab Darstellungen von Personen, die aus Bechern mit Totenschädeln und gekreuzten Knochen darauf tranken. An anderer Stelle sah man eine Frau, die ganz aus dünnen Zweigen zu bestehen schien, aus einem brennenden Haus stürzen; auch die Frau war über und über von Flammen umhüllt. Dann wieder sah man einen Mann ganz in der Nähe eines sinkenden Bootes auf dem Wasser treiben. In einer anderen Szene hatte sich eine Schlange in den Knöchel eines Mannes verbissen. Auch Bilder von Särgen und Gräbern jeglicher Art waren überall an den Wänden zu erkennen. Aber eins war allen Bildern gemeinsam:

Es waren ausnahmslos Darstellungen grauenhafter Dinge. Aber in der ganzen Höhle gab es nicht eine einzige Zeichnung, deren Komplexität auch nur annäherungsweise an das Gebilde heranreichte, das Violet zeichnete.

Die anderen Bilder enthielten nur selten lebensgroße Darstellungen von Menschen, und wenn doch, fanden sich dort nur selten zusätzliche Details, wie zum Beispiel auf sie herabstürzende Felsbrocken oder Pferde, die ihre Reiter in den Staub trampelten. Die meisten Bilder zeigten ganz ähnliche Dinge, maßen aber bestenfalls ein paar Handspannen in der Breite. Violets Zeichnung dagegen erstreckte sich bereits jetzt über eine Dutzende Fuß breite, vom Boden bis zur Höhe ihrer ausgestreckten Arme reichende Fläche und schien immer tiefer in die Höhle hineinzuwachsen. Sie hatte das ganze Bild eigenhändig gezeichnet, wenn auch natürlich unter Sechs’ ständiger Anleitung.

Was Rachel jedoch am meisten beunruhigte, war, dass Violet, nachdem sie bereits eine ganze Weile an der Zeichnung gearbeitet und Sterne und Formeln, Diagramme und seltsam verschlungene Symbole eingearbeitet hatte, im Zentrum des Ganzen die Umrisse einer menschlichen Gestalt eingezeichnet hatte.

Diese Gestalt war Richard.

Violets Zeichnung unterschied sich von allen anderen in der Höhle, die im Vergleich zu ihrer primitiv und unfertig wirkten. Sämtliche anderen Darstellungen hatten unverfängliche, deutlich erkennbare Dinge zum Gegenstand, Gewitterwolken etwa, mit schrägen Strichen für den Regen darunter, einen Zähne bleckenden Wolf oder einen Mann, der sich im Zurücksinken an die Brust fasst. Außer den Figuren selbst war bis auf ein paar simple Attribute auf der Felswand kaum etwas zu sehen. Violets Zeichnung dagegen war über und über mit Details versehen, die gänzlich anderer Natur waren. Man sah Zahlen und Skizzen, Worte in fremden Sprachen, einige davon entlang den Linien von Diagrammen, sorgfältig platzierte Zahlen an den Berührungspunkten der Winkelschenkel und, über die gesamte Illustration verstreut, merkwürdige geometrische Symbole. Wann immer Violet eines dieser Symbole einzeichnete, stand Sechs hochkonzentriert daneben, erteilte ihr für jede einzelne Linie mit leiser Stimme Anweisungen und korrigierte sie bisweilen auch, wenn Violet schon kurz davor war, die Kreide aufzusetzen, um zu verhindern, dass sie die nächste Linie an der verkehrten Stelle oder in der falschen Reihenfolge auf die Felswand aufbrachte. Einmal wurde Sechs nervös und riss Violets Handgelenk im letzten Moment noch zurück, ehe sie die Kreide auf die Felswand setzen konnte, nur um Violets Hand anschließend mit einem erleichterten Seufzer zu führen und ihr zu helfen, den richtigen Anfang zu finden. Im Gegensatz zu den übrigen Zeichnungen in der Höhle war Violets in unterschiedlichen Farben ausgeführt. Die anderen Zeichnungen entlang der gesamten Strecke bis tief in die Höhle hinein, wo Violets begann, waren einfache Kreidezeichnungen. In ihrer dagegen waren an einer Stelle grüne Bäume zu sehen, an einer anderen blaues Wasser, sowie eine gelbe Sonne und rote Wolken. Einige der skizzenhaften Illustrationen waren ganz in Weiß gehalten, andere dagegen waren bunt, farblich aber sehr durchdacht gestaltet. Und anders als bei allen anderen Zeichnungen konnte Rachel, wenn sie sich beim Verlassen der Höhle umdrehte, bestimmte Einzelheiten der Zeichnung im Dunkeln leuchten sehen. Es war jedoch nicht die Kreide selbst, die diesen Lichteffekt bewirkte, da dieselbe Kreide an anderen Stellen der Zeichnung nicht im Dunkeln leuchtete. Eine Partie eines Sinnbildes leuchtete sogar bei völliger Finsternis; ein seltsam aussehendes Gesicht, das inmitten eines ansonsten vollkommen dunklen, gänzlich aus komplizierten Mustern bestehenden Gebildes erstrahlte. Kam die Fackel in seine Nähe, war das Gesicht selbst nicht zu erkennen, das dann nur ein chaotisches Geflecht aus Linien zu sein schien. Rachel vermochte nie wirklich zu unterscheiden, welche Teile des Gebildes das Gesicht ausmachten, und doch strahlte es ihr im Dunkeln entgegen, folgten ihr seine Augen und schauten ihr hinterher, wann immer sie die Höhle verließ. Was ihr aber wirklich eine Gänsehaut bereitete, war die Darstellung Richards. Sein schwarzer Anzug war detailgetreu wiedergegeben, exakt so, wie Rachel ihn in Erinnerung hatte. Nicht einmal die rätselhaften Symbole fehlten, die den Saum seiner Jacke zierten. In ihren Anweisungen hatte Sechs sehr genau darauf geachtet, wie Violet dieses Muster wiedergab. In Violets Darstellung trug Richard außerdem den fließenden Umhang, der aussah, als wäre er aus Gold gesponnen. In ihrer Darstellung sah es allerdings fast so aus, als befände er sich unter Wasser. Zudem war er von wellenförmigen farbigen Schlieren umgeben, die Sechs als »Auras« bezeichnet hatte. Zwischen jeder dieser Farben und Richard waren komplizierte Formeln und Muster zu erkennen, zwischengeschaltete Elemente zwischen seiner Person und seinem Wesen, die miteinander verbunden werden würden, um eine vermittelnde Barriere zu bilden. Was das bedeutete, war Rachel nicht recht klar, es war allerdings nicht zu übersehen, dass Violet großen Wert darauf legte. Auf diesen Teil, die Elemente der vermittelnden Barriere, schien Sechs besonders stolz zu sein; manchmal stand sie lange davor und starrte einfach nur darauf.

In diesem Bild war Richard mit dem Schwert der Wahrheit dargestellt, es war jedoch nur undeutlich wiedergegeben, so als hätte er es bei sich und auch wieder nicht. In Violets Darstellung - Richard hielt es so, dass es quer über seiner Brust lag - schien es fast Teil seiner Person zu sein, und doch war es so undeutlich wiedergegeben, dass Rachel nicht mit Gewissheit zu entscheiden vermochte, ob es wirklich so aussehen sollte, als halte er es in den Händen. Diese Art der Darstellung hatte Violet außerordentliche Sorgfalt abverlangt; Sechs hatte sie sie mehrmals wiederholen lassen, weil sie, wie sie es nannte, zu »wesenhaft« sei.

Rachel fand den Einfall, Richard in der Zeichnung mit dem Schwert darzustellen, etwas verwirrend, denn immerhin war doch jetzt Samuel im Besitz von Richards Schwert. Dennoch erschien es ihr irgendwie nur richtig, Richard mit dem Schwert darzustellen, und vielleicht sah Sechs es ja ebenso.

Violet trat einen Schritt zurück, neigte den Kopf zur Seite und begutachtete ihr Werk. Sechs stand da wie gebannt und starrte darauf, als wäre sie allein in der Höhle. Zögernd streckte sie die Hand vor und strich sachte über die Linien rings um Richard.

»Wie lange noch, bis wir die endgültige Verbindung der Elemente durchführen?«, fragte Violet.

Während Sechs mit den Fingern langsam und mit Bedacht die Linien nachzeichnete, reagierten einige der dazwischengeschalteten Elemente sofort auf ihre Berührung, indem sie funkelnd im trüben Licht aufleuchteten.

»Bald«, antwortete sie mit leiser Stimme. »Bald.«

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