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In liebevollem Gedenken an Keith Parkinson

Wer hergekommen ist, um zu hassen, sollte nun gehen, denn in seinem Hass verrät er nur sich selbst.

aus Das Buch des Lebens

Mucksmäuschenstill, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, stand Kahlan etwas abseits in den Schatten unter dem kleinen Vordach, beobachtete, wie das Böse leise an die Tür klopfte - und hoffte inständig, dass niemand auf das Klopfen antworten würde. So gerne sie die Nacht im Trockenen, mit einem Dach über dem Kopf, verbracht hätte, wollte sie dennoch nicht, dass das Unheil unschuldige Menschen heimsuchte. Trotzdem war sie sich nur allzu bewusst, dass sie nicht den geringsten Einfluss darauf hatte. Durch die schmalen Fenster zu beiden Seiten der Tür war der flackernde Schein einer einzelnen Laterne zu erkennen, dessen blasser, schimmernder Abglanz sich auf dem nassen Fußboden der Veranda widerspiegelte. Über ihrem Kopf hing, an zwei Eisenringen befestigt, ein Ladenschild, das jedes Mal, wenn es im windgepeitschten Regen hin und her schwang, ein Knarren und Quietschen von sich gab. Auf diesem dunklen, regennassen Ladenschild waren die gespenstisch weißen Umrisse eines gemalten Pferdes zu erkennen. Das durch die Fenster fallende Licht reichte nicht, um den Namen zu entziffern, aber da die drei anderen Frauen, die bei ihr waren, seit Tagen über kaum etwas anderes gesprochen hatten, wusste sie, dass der Name wohl Gasthaus zum Weißen Ross lauten musste.

Nach dem Geruch von Mist und feuchtem Heu zu urteilen, vermutete sie, dass eines der dunklen Gebäude nahebei ein Stall sein musste. In der vereinzelt aufgleißenden Helligkeit der fernen Blitze konnte sie gerade eben die ungeschlachten, kantigen Umrisse einiger dunkler Gebäude ausmachen, die geisterhaft jenseits der Wassermassen des strömenden Regens aufragten. Trotz des unablässigen Rauschens des wolkenbruchartigen Regens und des Donnergrollens schien das Dorf in tiefem Schlaf zu liegen. In einer so dunklen, scheußlichen Nacht konnte Kahlan sich kein angenehmeres Plätzchen vorstellen als sicher und warm zusammengerollt unter einer Bettdecke.

In einem nahen Stall wieherte ein Pferd, als Schwester Ulicia ein zweites Mal anklopfte, lauter und nachdrücklicher diesmal und offensichtlich entschlossen, sich trotz des tosenden Regens Gehör zu verschaffen, wenngleich nicht energisch genug, um den Eindruck von Feindseligkeit zu erwecken. Schwester Ulicia, die sonst gelegentlich zu impulsiven Rücksichtslosigkeiten neigte, schien sich bewusst Zurückhaltung auferlegt zu haben. Der Grund war Kahlan unbekannt, sie nahm aber an, dass es etwas mit dem Zweck ihres Hier seins zu tun hatte; ebenso gut konnte es aber auch auf ihre sprunghafte Launenhaftigkeit zurückzuführen sein. Mit der stets schwelenden Übellaunigkeit dieser Frau verhielt es sich wie mit einem Blitz - sie war nicht nur gefährlich, sondern vollkommen unberechenbar. Nicht immer gelang es Kahlan, exakt vorherzusehen, wann Schwester Ulicia zuschlagen würde, und dass sie es bislang unterlassen hatte, hieß noch lange nicht, dass es so bleiben musste. Auch die beiden anderen Schwestern waren nicht besserer Laune oder neigten weniger zu Wutanfällen. Nichtsdestoweniger nahm Kahlan an, dass die drei in Kürze ruhig und friedlich das Wiedersehen feiern würden.

Ganz in der Nähe blitzte es, so nahe, dass die blendend grelle, aber nur kurz währende Helligkeit für einen kurzen Moment eine ganze Straße von Gebäuden erkennen ließ, die sich dicht an die morastige, von Fahrspuren durchzogene Straße drängten. Gleich darauf folgendes Donnergrollen hallte durch die hügelige Landschaft und ließ den Boden unter ihren Füßen erzittern.

Kahlan wünschte sich, es gäbe etwas - wie ein Blitz, der ansonsten im Dunkel der Nacht verborgene Dinge offenbarte -, das ein wenig Klarheit in die verborgenen Erinnerungen an ihre Vergangenheit bringen, ein wenig Licht auf das dunkle Rätsel ihrer Person werfen könnte. Sie verspürte das heftige Bedürfnis, sich der Schwestern endlich zu entledigen, das brennende Verlangen, endlich selbst über ihr Leben zu bestimmen und herauszufinden, worin es eigentlich bestand. Das immerhin wusste sie über sich. Und sie wusste auch, dass diese Einstellung auf irgendwelche Erlebnisse gründen musste. Für sie stand außer Frage, dass da irgendetwas sein musste - Menschen, Ereignisse -, die sie zu der Frau gemacht hatten, die sie jetzt war; aber sosehr sie sich auch bemühte, es sich in Erinnerung zu rufen, es war ihr entfallen.

An jenem grauenvollen Tag, als sie im Auftrag der Schwestern die Kästchen der Ordnung gestohlen hatte, hatte sie sich geschworen herauszufinden, wer sie in Wahrheit war - und dass sie eines Tages frei sein würde!

Als Schwester Ulicia zum dritten Mal anklopfte, war von drinnen eine gedämpfte Stimme zu vernehmen.

»Ich hab Euch ja gehört!« Die Stimme eines Mannes. Seine nackten Füße tappten eine hölzerne Stiege herab. »Bin ja gleich da!«

Mit einem verdrießlichen Ausdruck wandte sich Schwester Ulicia zu Kahlan herum. »Du weißt, dass wir hier etwas zu erledigen haben.«

Warnend hob sie einen Finger vor Kahlans Gesicht. »Denk also nicht einmal daran, uns Ärger zu machen, oder dir widerfährt das Gleiche wie beim letzten Mal.«

Die Erinnerung ließ Kahlan schlucken. »Ja, Schwester Ulicia.«

»Ich kann nur hoffen, dass Tovi uns ein Zimmer besorgt hat«, klagte Schwester Cecilia. »Ich bin nicht in der Stimmung, mir anzuhören, es sei alles voll.«

»Es wird schon noch Platz geben«, beteuerte Schwester Armina beschwichtigend und durchkreuzte damit Schwester Cecilias Angewohnheit, stets vom Schlimmsten auszugehen.

Anders als Schwester Cecilia war sie nicht schon älter, sondern fast ebenso jung und attraktiv wie Schwester Ulicia, in Anbetracht ihres Wesens war ihr Aussehen für Kahlan allerdings vollkommen bedeutungslos. In Kahlans Augen waren sie alle Nattern.

»Wie auch immer«, setzte Schwester Ulicia im Flüsterton hinzu, den Blick starr auf die Tür gerichtet, »es wird noch Platz geben.«

Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und das schattenhafte Gesicht eines Mannes, der noch damit beschäftigt war, seine Hose unter dem Nachthemd zuzuknöpfen, spähte ihnen entgegen. Er bewegte seinen Kopf ein wenig nach rechts und links, um die Fremden mit einem Blick zu erfassen. Nachdem er sie als ungefährlich eingeschätzt hatte, öffnete er vollends die Tür und forderte sie mit einer ausholenden Armbewegung auf einzutreten.

»So kommt schon rein«, sagte er. »Alle miteinander.«

»Wer ist denn da?«, rief eine Frau, während sie die Stiege im Hintergrund herunterkam. In einer Hand hielt sie eine Laterne, mit der anderen hatte sie den Saum ihres Nachthemdes gerafft, um auf den Stufen nicht zu stolpern.

»Vier Frauen, die mitten in einer verregneten Nacht unterwegs sind«, rief ihr der Mann zu, wobei sein mürrischer Tonfall deutlich machte, was er von einem solchen Verhalten hielt.

Kahlan erstarrte mitten im Schritt. Er hatte wahrhaftig von »vier Frauen« gesprochen.

Demnach hatte er sie alle vier wahrgenommen und sich lange genug daran erinnert, dies auch zu sagen. So weit sie zurückdenken konnte, war so etwas noch nie vorgekommen. Niemand außer ihren Herrinnen, den vier Schwestern - den dreien in ihrer Begleitung sowie der einen, mit der sie hier verabredet waren -, erinnerte sich jemals daran, sie gesehen zu haben.

Schwester Cecilia, der die Bedeutung der Bemerkung offenbar entgangen war, stieß Kahlan vor sich her nach drinnen.

»Um Himmels willen«, rief die Frau, während sie zwischen den Plankentischen hindurchgeeilt kam. Mit einem Zungenschnalzen empörte sie sich über das scheußliche Wetter, als eine Bö den Regen gegen die Fensterscheiben prasseln ließ. »Nun bring sie bei diesem scheußlichen Wetter doch endlich rein, Orlan.«

Hinter ihnen wehte ein Schwall dicker Regentropfen herein und durchnässte eine Stelle des Fichtenholzbodens. Den Mund vor Verdruss verzogen, stemmte er sich gegen eine regennasse Bö und drückte die Tür zu, dann ließ er den schweren Eisenriegel wieder in die Halterungen fallen, um sie zu versperren.

Die Frau, das Haar zu einem lockeren Knoten geschlungen, hielt ihre Laterne ein wenig höher, um die vier nächtlichen Besucherinnen zu betrachten. Verwirrt kniff sie die Augen zusammen, als ihr Blick über die völlig durchnässten Besucher und wieder zurück wanderte. Sie öffnete den Mund, schien aber plötzlich vergessen zu haben, was sie hatte sagen wollen.

Kahlan hatte diesen leeren Blick schon tausend Mal gesehen und wusste, sie konnte sich nur erinnern, drei Besucherinnen gesehen zu haben. Kahlans Anblick blieb niemandem lange genug im Gedächtnis, um dies mit Worten zu bestätigen. Sie war praktisch unsichtbar. Schon glaubte sie, dem Wirt sei wegen der Dunkelheit und des Regens womöglich bloß ein Fehler unterlaufen, als er gegenüber seiner Frau von vier Besucherinnen gesprochen hatte.

»Kommt rein und trocknet euch erst einmal«, sagte die Frau, ein Lächeln aufrichtiger Herzlichkeit auf den Lippen. Sie schob Schwester Ulicia eine Hand unter den Arm und geleitete sie in den kleinen Gemeinschaftsraum. »Willkommen im Wirtshaus zum Weißen Ross.«

Die beiden anderen Schwestern, die den Raum ganz unverhohlen begutachteten, legten ihre Umhänge ab und schüttelten sie einmal kurz durch, ehe sie sie über eine Bank an einem der beiden Tische warfen. Hinten, neben der Stiege, bemerkte Kahlan eine einzelne dunkle Türöffnung. Eine Feuerstelle aus übereinander geschichteten flachen Steinen nahm den größten Teil der Wand zur Rechten ein. Die Luft in der schwach beleuchteten Gaststube war warm und durchdrungen von dem betörend verlockenden Duft eines Eintopfes in dem eisernen, an einem neben dem Kamin zur Seite geschwenkten Ausleger hängenden Kessel. Glühende Kohlen schimmerten rötlich glimmend unter einer dicken Schicht Asche hervor.

»Ihr drei Damen seht ja aus wie nasse Katzen. Ihr müsst euch hundeelend fühlen.« Mit den Armen fuchtelnd, wandte sie sich herum zum Wirt. »Orlan, sieh zu, dass du das Feuer in Gang kriegst.«

Kahlan sah ein junges Mädchen von vielleicht elf oder zwölf Jahren die Stiege herunter schleichen, gerade weit genug, dass es unter der dunklen Decke in die Gaststube hineinspähen konnte. Auf ihr langes weißes Nachthemd mit Rüschen an den Ärmeln war mit derbem, braunem Faden ein Pony gestickt, dessen Mähne und Schwanz mit einer Reihe loser Strähnen aus dunklem Garn wiedergegeben waren. Das Mädchen hatte sich auf die Stufen gehockt, um zuzuschauen, und sich ihr Nachthemd wie ein Zelt über die hageren Knie gezogen. Wenn sie lächelte, sah man ihre großen Zähne, die noch nicht recht zur Größe ihres übrigen Körpers passen wollten. Fremde, die mitten in der Nacht auftauchten, galten im Wirtshaus zum Weißen Ross offenbar als großes Abenteuer. Kahlan hoffte von ganzem Herzen, dass sich das Abenteuerliche ihres Besuchs darauf beschränkte. Unterdessen war Orlan, ein kräftiger Kerl und Bär von einem Mann, vor dem Kamin in die Hocke gegangen und legte ein paar Scheite Feuerholz nach. Seine dicken, plumpen Finger ließen die Eichenscheite wie Anmachholz erscheinen.

»Was ist nur in euch gefahren, dass ihr bei diesem Regen unterwegs seid - noch dazu bei Nacht?«, fragte er und sah sich über seine Schulter nach ihnen um.

»Wir haben es sehr eilig, eine Freundin von uns einzuholen«, antwortete Schwester Ulicia und ließ ihn ein nichts sagendes Lächeln sehen. Sie war um einen sachlichen Ton bemüht. »Selbige sollte uns hier treffen. Ihr Name ist Tovi. Sie müsste uns bereits erwarten.«

Orlan stützte eine Hand auf sein Knie, um sich hochzustemmen.

»Für gewöhnlich sind die Gäste, die hier bei uns absteigen besonders in diesen unruhigen Zeiten - ziemlich verschwiegen. Die meisten nennen nicht mal ihren Namen.« Er hob eine Braue und sah Schwester Ulicia an. »Ganz so wie ihr - was das Verschweigen der Namen anbetrifft, meine ich.«

»Sie sind unsere Gäste, Orlan«, schalt ihn seine Frau. »Durchnässte, zweifellos müde und hungrige Gäste.« Sie ließ ein Lächeln sehen.

»Die Leute nennen mich Emmy. Mein Mann Orlan und ich führen das Weiße Ross, seit seine Eltern vor einigen Jahren verstorben sind.« Sie nahm drei hölzerne Schalen aus einem Regal. »Die Damen müssen doch völlig ausgehungert sein. Lasst mich euch ein wenig Eintopf holen. Orlan, hol ein paar Becher und bring den Damen heißen Tee.«

Im Vorübergehen deutete Orlan mit seiner fleischigen Hand auf die Schalen, die seine Frau in der Beuge ihres Armes trug. »Du hast da eine zu wenig.«

Sie sah ihn kurz verwundert an. »Nein, hab ich nicht; ich hab drei Schalen hier.«

Orlan nahm vier Becher aus dem obersten Regal des Küchenschranks. »Genau. Sag ich doch, du hast eine zu wenig.«

Kahlan wagte kaum zu atmen. Irgendetwas lief hier gründlich falsch. Die Schwestern Cecilia und Armina waren zu völliger Regungslosigkeit erstarrt und fixierten den Mann aus weit aufgerissenen Augen; die Bedeutung des Geplänkels Zwischen den beiden war ihnen nicht entgangen.

Kahlan blickte hinüber zum Stiegenschacht und sah das Mädchen, das sich am Geländer festhielt, sich auf den Stufen hockend in ihre Richtung beugen und darunter hervorlugen, offenbar um herauszufinden, was ihre Eltern da eigentlich redeten. Schwester Armina packte Schwester Ulicia am Ärmel. »Ulicia«, stieß sie im Flüsterton zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »er sieht ...«

Schwester Ulicia bedeutete ihr, still zu sein, dann runzelte sie die Stirn zu einem unergründlichen Blick und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Mann.

»Du täuschst dich«, sagte sie. »Wir sind nur zu dritt.«

Während sie sprach, stieß sie gleichzeitig mit ihrem schweren Eichenstab, den sie bei sich trug, nach Kahlan und drängte sie tiefer in die Schatten im hinteren Teil der Gaststube, als würde sie allein schon dadurch für ihn unsichtbar.

Aber Kahlan war es leid, immer im Schatten zu bleiben; sie wollte im Licht stehen und gesehen werden - wirklich wahrgenommen werden. Stets war es ihr wie ein unerreichbarer Traum erschienen, und nun auf einmal war es eine ganz reale Möglichkeit. Eine Möglichkeit, die die drei Schwestern einigermaßen aus der Fassung gebracht hatte.

Orlan musterte Schwester Ulicia fragend. Alle vier Becher mit seiner fleischigen Hand festhaltend, deutete er mit der anderen nacheinander auf die vier Besucherinnen, die in seinem Schankraum standen. »Eins, zwei, drei« - er lehnte sich ein wenig zur Seite, um an Schwester Ulicia vorbeisehen und auf Kahlan zeigen zu können »vier. Möchtet ihr alle Tee?«

Verdutzt kniff Kahlan die Augen zusammen. Sie hatte das Gefühl, als schlüge ihr das Herz bis zum Hals. Er hatte sie tatsächlich wahrgenommen ... und erinnerte sich an das, was er gesehen hatte.

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