22

Richard stand ganz unten am Ende der Brustwehr, unweit des Sockels eines der hoch aufragenden Türme vor der zinnenbewehrten Außenmauer, den Blick auf die verlassene Stadt tief unten gerichtet. Das Zwielicht hatte die Farben des dahinschwindenden Tages verblassen lassen und tauchte die fernen, sanft geschwungenen sommergrünen Felder in tristes Grau. Unweit von ihm stand Cara, schweigend, aber auf der Hut.

Nicci kannte Richard gut genug, um augenblicklich zu sehen, dass sein Körper sich im Zustand gesteigerter Anspannung befand. Und sie kannte Cara gut genug, um hinter ihrer bewusst zur Schau gestellten Gelassenheit das Ebenbild dieser Anspannung lauern zu sehen. Sie presste eine Faust auf den sich angstvoll zusammenziehenden Knoten in ihrer Magengegend.

»Rikka meinte, du wolltest mich unbedingt sehen. Sie sagte, es sei dringend.«

Der Ausdruck auf Richards Gesicht stand dem sich zusammenbrauenden Unwetter in nichts nach. »Ich muss fort. Jetzt gleich.«

Irgendwie hatte Nicci genau das erwartet. Sie blickte an Richard vorbei zu Cara, aber die Mord-Sith zeigte keinerlei Regung. Seit Tagen schon hatte Richard vor sich hin gebrütet, war er still und abweisend gewesen und hatte darüber nachgedacht, was Jebra und Shota ihm berichtet hatten. Zedd hatte ihr geraten, ihn seinen Grübeleien zu überlassen, aber Nicci hatte eines solchen Rates nicht bedurft, denn vermutlich kannte sie seine finsteren Launen besser als jeder andere.

»Ich werde dich begleiten«, antwortete sie und machte klar, dass sie darüber nicht zu diskutieren gewillt war.

Er nickte gedankenverloren. »Es ist gut, Euch bei mir zu wissen; besonders bei dieser Geschichte.«

Zu ihrer Erleichterung musste sie sich nicht anhören, dass er ihr widersprach, auch wenn der letzte Teil seiner Bemerkung bewirkte, dass sich der bange Knoten in ihrer Magengegend noch fester zusammenzog. Ein fast mit den Händen greifbares Gefühl von Gefahr lag in der Luft, und in diesem Moment war ihr vor allem daran gelegen, dafür zu sorgen, dass er - was immer er vorhatte - den größtmöglichen Schutz genoss.

»Cara wird uns ebenfalls begleiten.«

Sein Blick war noch immer in die Ferne gerichtet. »Sicher.«

Sie bemerkte, dass er nach Süden schaute. »Jetzt, da Tom und Friedrich zurück sind, wird Tom ebenfalls darauf bestehen mitzukommen. Mit seinen Fähigkeiten wird er uns eine wertvolle Hilfe sein.«

Tom gehörte zu einer Elitetruppe von Beschützern des Lord Rahl und konnte trotz seines ansonsten freundlichen Wesens in Ausübung seines Dienstes überaus unangenehm werden. Wegen ihres gewinnenden Lächelns wurden Männer wie er jedenfalls nicht in solche Vertrauensstellungen beim Schutz des Lord Rahl berufen. Wie auch die anderen D’Haranischen Beschützer des Lord Rahl hatte sich Tom mit Leib und Seele der Aufgabe verschrieben, Richard zu beschützen.

»Er kann uns nicht begleiten«, sagte Richard. »Wir werden in der Sliph reisen, und das können nur Cara, Ihr und ich.«

Der Gedanke an diese Art des Reisens ließ Nicci schlucken. »Und wohin soll die Reise gehen, Richard?«

»Ich habe es mir überlegt«, sagte er statt einer Antwort.

»Was hast du dir überlegt?«

»Was ich tun muss.«

Ein unbestimmtes angstvolles Kribbeln schoss in ihre Finger. Als sie den Ausdruck unbedingter Entschlossenheit in seinen Augen sah, drohten ihr die Knie nachzugeben.

»Und was musst du nun tun, Richard?«

»Ich hatte von Anfang an recht.« Er sah Cara an. »Schon damals, als ich Euch und Kahlan fortbrachte, in die Berge, drüben in Westland.«

Fragend runzelte Cara die Stirn. »Ja, ich erinnere mich. Ihr sagtet, wir würden uns in die menschenleeren Berge zurückziehen, weil Ihr endlich begriffen hättet, dass wir den Krieg gegen die Armee der Imperialen Ordnung nicht durch Kampf gewinnen könnten. Ihr sagtet, Ihr könntet unsere Truppen unmöglich in eine Schlacht führen, die sie auf jeden Fall verlieren würden.«

Richard nickte. »Und ich hatte damals recht, das ist mir jetzt klar geworden. Wir können gegen ihre Armee nicht gewinnen. Shota hat mir geholfen, das zu erkennen. Mag sein, dass sie mich überzeugen wollte, diese Schlacht zu schlagen, aber nicht zuletzt wegen der Dinge, die sie und Jebra mir gezeigt haben, weiß ich jetzt, dass wir sie unter keinen Umständen gewinnen können. Wir müssen los. Ich habe jetzt keine Zeit, Euch das jetzt alles haarklein zu erklären.«

Nicci starrte ihm hinterher. »Ich habe bereits ein paar Sachen zusammengesucht. Sie liegen bereit. Wieso kannst du mir nicht verraten, Richard, wie du dich entschieden hast?«

»Das werde ich noch«, sagte er. »Später.«

»Ihr vergeudet bloß Eure Zeit«, raunte ihr Cara im Flüsterton zu, als sie sich mit ihr zusammen Richard anschloss. »An der Frage hab ich mir auch schon die Zähne ausgebissen, bis ich es schließlich einfach leid war.«

Als Richard Caras Bemerkung hörte, fasste er Nicci beim Arm und zog sie zu sich heran. »Das alles ist noch nicht genügend durchdacht, ich muss es mir noch genau zurechtlegen. Ich werde es Euch und allen anderen erklären, sobald wir dort sind, aber im Augenblick haben wir dafür keine Zeit. In Ordnung?«

»Wenn wir wo sind?«, fragte Nicci.

»Bei der D’Haranischen Armee. Jagangs Hauptstreitmacht wird in Kürze Kurs auf D’Hara nehmen und dort einmarschieren. Ich muss unserer Armee klarmachen, dass wir keine Chance haben, die Schlacht zu gewinnen, die ihnen bevorsteht.«

»Das wird ihre Laune mächtig heben«, warf Cara ein. »Nichts gibt Soldaten am Vorabend einer Schlacht ein erhebenderes Gefühl als ein Anführer, der ihnen erklärt, dass sie die bevorstehende Schlacht verlieren und darin umkommen werden.«

»Soll ich ihnen stattdessen vielleicht eine Lüge auftischen?«, fragte er zurück.

Caras Antwort beschränkte sich auf einen finsteren Blick. Am Ende der Brustwehr zog Richard die schwere Eichentür am Fuß des Turms auf. Im Raum dahinter brannten bereits einige Lampen. Nicci hörte jemanden die steinernen Stufen an der Seite hinaufhasten.

»Richard!« Es war Zedd, der noch vor dem kräftigen blonden D’Haraner Tom die Stufen heraufgeeilt kam.

Richard blieb stehen und wartete, bis sein Großvater den Treppenabsatz erreicht und den einfachen, aus unverputztem Mauerwerk bestehenden Raum betreten hatte. Völlig außer Atem kam Zedd mit hastigen Schritten auf ihn zu.

»Richard! Was ist denn los? Rikka kam gerade zur Tür hereingestürzt und meinte, du seist im Begriff abzureisen.«

Richard nickte. »Ich wollte, dass du weißt, dass ich fortmuss. Aber ich werde nicht lange fortbleiben. In ein paar Tagen bin ich wieder zurück. Ich hoffe, in der Zwischenzeit gelingt es dir, Nathan und Ann, irgendetwas in den Büchern zu finden, das uns mit dem Feuerkettenbann weiterhilft. Vielleicht schafft ihr es ja sogar, eine Antwort auf die durch die Chimären verursachte Verunreinigung zu finden.«

Zedd tat seine ermunternden Worte gereizt mit einer Handbewegung ab. »Wo wir schon dabei sind, soll ich vielleicht gleich auch noch den Himmel vom Unwetter kurieren?«

»Sei mir bitte nicht böse, Zedd. Bitte. Ich muss wirklich fort.«

»Na schön, aber wohin willst du eigentlich - und weshalb?«

»Ich bin bereit, Lord Rahl«, rief Tom, der jetzt ebenfalls in den Raum gestürzt kam.

»Tut mir leid«, erklärte ihm Richard, »aber du kannst nicht mit. Wir werden in der Sliph reisen müssen.«

In einer aufgebrachten Geste warf Zedd die Arme in die Luft. »Die Sliph! Erst gibst du dir größte Mühe, mich vom Versiegen der Magie zu überzeugen, und jetzt willst du dein Leben in die Hand eines magischen Geschöpfes legen? Verlierst du allmählich den Verstand, Richard? Was ist nur mit dir los?«

»Ich bin mir der Gefahr bewusst, aber das Risiko muss ich eingehen.« Richard gestikulierte. »Ist dir das Sonnenaufgangssymbol an der Tür zur Enklave des Obersten Zauberers dort oben bekannt?«

Als Zedd daraufhin nickte, tippte er auf die Oberseite seines silbernen Armbands. »Es ist das Gleiche wie dieses hier.«

»Ja und, weiter?«, wollte Zedd wissen.

»Weißt du nicht mehr? Ich habe dir doch schon erklärt, dass es eine besondere Bewandtnis damit hat. Es ist eine Mahnung, seine Wahrnehmung nicht auf ein einzelnes Detail zu fixieren, eine Warnung, stets alles gleichzeitig mit dem Blick zu erfassen und nichts unter Ausschließung alles anderen zu sehen. Es bedeutet, dass man dem Feind nicht gestatten darf, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und einen dadurch zu zwingen, sich ausschließlich auf das zu konzentrieren, was man seinem Willen entsprechend sehen soll. Denn sobald man das tut, ist man gegen alles andere blind. Genau das habe ich getan. Jagang hat mich gezwungen - mich und alle anderen -, mich auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Und genau das habe ich wie ein Narr die ganze Zeit über getan.«

»Seine Armee«, äußerte Nicci eine Vermutung. »Ist es das, was du meinst? Dass wir alle uns ausschließlich auf seine Invasionsstreitmacht konzentriert haben?«

»Genau das meine ich. Dieses Sonnenaufgangssymbol bedeutet, dass man für alles, was existiert, offen sein muss und sich niemals nur für ein Detail entscheiden darf.«

Zedd neigte den Kopf zur Seite. »Du musst dich auf die Gefahr konzentrieren, die im Begriff ist, dich zu töten, Richard. Seine Armee umfasst mehrere Millionen Soldaten, die sich auf dem Marsch hierher befinden, um jeden Widerstand zu überrennen und uns alle zu versklaven.«

»Ist mir bekannt. Gerade deswegen dürfen wir nicht gegen sie kämpfen, denn dann würden wir unweigerlich verlieren.«

Eine tiefe Röte schoss Zedd ins Gesicht. »Du schlägst also vor, wir sollen zulassen, dass seine Armee die Neue Welt widerstandslos überrollt? Dein Plan ist es, Jagangs Armee ungehindert Städte überrennen und all die Dinge tun zu lassen, die sich nach Jebras Bericht in Ebinissia zugetragen haben? Du willst einfach so zulassen, dass diese Menschen abgeschlachtet oder in die Sklaverei verschleppt werden?«

»Denk an die Lösung«, ermahnte Richard seinen Großvater, »nicht an das Problem.«

»Ein nicht besonders tröstlicher Rat für Menschen, denen soeben die Kehle durchgeschnitten wird.«

Richard straffte sich und starrte seinen Großvater an. Zedds Worte hatten ihm offenbar die Sprache verschlagen.

»So versteh doch«, ergriff Richard schließlich abermals das Wort, während er sich mit den Fingern durchs Haar fuhr. »Im Augenblick habe ich dafür keine Zeit. Sobald ich zurück bin, werde ich mit dir darüber sprechen. Zeit ist von entscheidender Bedeutung, und ich habe schon zu viel davon vergeudet. Ich kann nur hoffen, dass uns noch genügend davon bleibt.«

»Genug Zeit wofür?« Zedd geriet langsam in Rage.

Nicci hörte Schritte den Treppenschacht heraufhasten. Jebra kam in den Raum gestürzt.

»Was ist denn los?«, wandte sie sich an Zedd.

Der wies mit einer Handbewegung auf Richard. »Soeben hat mein Enkelsohn beschlossen, dass wir den Krieg verlieren müssen und wir uns Jagangs Armee auf keinen Fall im Kampf stellen dürfen.«

»Lord Rahl, das kann nicht Euer Ernst sein«, rief sie entsetzt. »Ihr könnt Euch unmöglich ernsthaft mit dem Gedanken tragen zuzulassen, dass diese Rohlinge ...« Jebra ließ den Satz unbeendet, während sie vortrat und zu Richard hinaufstarrte. Plötzlich verharrte sie mitten in der Bewegung und wich wankend einen Schritt zurück. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht.

Ihr Unterkiefer klappte auf und begann zu zittern, während sie erfolglos versuchte, Worte über ihre Lippen zu bringen. Die Angst ließ ihre Gesichtszüge erschlaffen.

Dann verdrehte sie ihre blauen Augen und fiel in Ohnmacht. Als sie nach hinten kippte, fing Tom sie in seinen Armen auf und legte sie behutsam auf den harten Granitfußboden. Sofort scharten sich die anderen um die bewusstlose Frau.

Richard war bereits unterwegs zu der Tür, durch die man auf die eiserne Treppe gelangte, die an der Innenwand des Turmes entlang nach unten führte. »Ich überlasse es dir, dich um sie zu kümmern, Zedd -du bist der Experte im Heilen. Bei dir ist sie in guten Händen. Im Augenblick kann ich es mir nicht leisten, noch mehr Zeit zu verlieren.«

Bereits an der Tür, drehte er sich noch einmal um. »Ich komme zurück, sobald ich kann - versprochen. Wir dürften nicht mehr als ein paar Tage benötigen.«

»Aber Richard ...«

Er war bereits auf den Stufen. »Ich bin bald wieder da«, rief er mit aus der Düsternis widerhallender Stimme zu ihnen herauf. Ohne Zögern folgte Cara ihm in den dunklen Turm hinab. Ohne ihre Begleitung wollte Nicci ihn nicht allzu weit vorausgehen lassen, aber da sie wusste, dass er noch die Sliph rufen musste, blieben ihr noch ein paar Augenblicke. Während Zedd verschiedene Stellen an Jebras Kopf untersuchte, ging sie ihm gegenüber neben der Bewusstlosen in die Hocke und befühlte ihre Stirn mit der Hand.

»Sie glüht innerlich.«

Zedd blickte hoch, auf eine Weise, dass ihr Herz beinahe ausgesetzt hätte. »Sie hat eine Vision.«

»Woher wollt Ihr das wissen?«

»Im Allgemeinen kenne ich mich aus mit Seherinnen, und mit dieser ganz besonders. Sie hatte eine überaus eindringliche Vision. Jebra ist empfänglicher als die meisten Seherinnen. Bei bestimmten Arten von Visionen wird sie von ihren Gefühlen überwältigt, und diese muss so ungeheuer stark gewesen sein, dass sie darüber das Bewusstsein verlor.«

»Glaubt Ihr, sie hatte etwas mit Richard zu tun?«

»Lässt sich unmöglich sagen«, erwiderte der alte Zauberer. »Sie wird es uns wohl selbst sagen müssen.«

Vielleicht mochte Zedd keine Vermutung äußern, andererseits hatte sie selbst Richard unmittelbar vor ihrem Ohnmachtsanfall in die Augen gesehen. Nicci hatte keine Zeit für taktvolles Vorgehen. Sie durfte nicht zulassen, dass Richard ohne sie aufbrach - was er, dessen war sie sich sicher, tun würde, wenn sie nicht zugegen wäre, sobald er reisefertig war -, andererseits konnte sie aber auch nicht aufbrechen ohne zu wissen, ob Jebra eine Vision über ihn gehabt hatte, die möglicherweise etwas Wichtiges enthielt. Sie schob ihr die Hand unter den Nacken und presste ihre Finger auf Jebras Schädelansatz.

»Was tut Ihr da?«, fragte Zedd misstrauisch. »Falls es das ist, was ich glaube, dass es ist, wäre das nicht nur leichtfertig, sondern geradezu gefährlich.«

»Das Gleiche gilt für Unwissenheit«, konterte sie und setzte einen Energiestrom frei.

Schlagartig schlug Jebra die Augen auf. Sie stöhnte.

»Nein ...«

»Ruhig, ganz ruhig«, redete Zedd auf sie ein, »alles in Ordnung, meine Beste. Wir sind ja bei Euch.«

Nicci kam sofort zur Sache. »Was habt Ihr gesehen?«

Jebras panikerfüllte Augen schwenkten zu ihr herum. Sie streckte die Hand aus und packte den Kragen von Niccis Kleid.

»Lasst ihn nicht allein!«

Nicci musste nicht nachfragen, wen Jebra meinte. »Warum? Was habt Ihr gesehen?«

»Lasst ihn auf keinen Fall allein! Lasst ihn nicht aus den Augen nicht einen einzigen Moment!«

»Warum?«, wiederholte Nicci noch einmal. »Was passiert, wenn er alleingelassen wird?«

»Wenn er alleingelassen wird, ist er für uns verloren.«

»Wie das? Was habt Ihr gesehen?«

Jebra langte nach oben und zog Niccis Gesicht mit beiden Händen näher zu sich heran. »Geht. Lasst ihn nicht allein. Was ich gesehen habe, spielt keine Rolle. Solange er nicht allein ist, kann nichts geschehen. Begreift Ihr nicht? Wenn Ihr zulasst, dass er von Euch und Cara getrennt wird, spielt es keine Rolle mehr, was ich gesehen habe - für keinen von uns. Wie diese Trennung vonstatten gehen wird, vermag ich Euch nicht zu sagen, nur so viel: Ihr dürft es unter keinen Umständen so weit kommen lassen. Das allein ist wichtig. So geht schon! Bleibt bei ihm!«

Schluckend nickte Nicci.

»Es wäre besser, Ihr tut, was sie sagt«, riet ihr Zedd. »Ich kann in dieser Angelegenheit nichts tun. Es liegt ganz bei Euch.«

Als er ihre Hand ergriff, tat er dies nicht als Oberster Zauberer, sondern als Richards Großvater. »Weicht ihm nicht von der Seite, Nicci. Beschützt ihn. In vieler Hinsicht ist er der Sucher, der Lord Rahl, der Führer des D’Haranischen Reiches, aber in anderen Dingen ist er im Grunde seines Herzens immer noch ein Waldführer, unser Richard. Passt auf ihn auf, bitte. Wir alle verlassen uns auf Euch.«

Nicci starrte ihn an nach dieser flehentlichen Bitte, die unerwartet persönlich war und über all die umfassenderen Erfordernisse erhaben schien, die Freiheit der Neuen Welt zu sichern, und die alles auf die schlichte Liebe zu Richard, den jungen Mann, reduzierte. In diesem Augenblick begriff sie, dass ohne die aufrichtige und schlichte Sorge um Richard als Person alles andere bedeutungslos wurde. Als sie Anstalten machte, sich zu erheben, zog Jebra sie erneut zu sich herab. »Die ist keine Vision eines ›Vielleicht‹, einer vagen Möglichkeit. Dies ist eine Gewissheit. Lasst ihn nicht allein, oder er wird ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein.«

»Wem?«

Jebra biss sich auf die Unterlippe, während ihr die Tränen in ihre blauen Augen traten. »Der dunklen Hexe.«

Nicci spürte ein Frösteln eiskalter Angst zwischen ihren Schultern heraufkriechen.

»Geht jetzt«, hauchte Jebra kraftlos. »Bitte geht. Eilt Euch. Lasst ihn nicht ohne Euch aufbrechen.«

Mit einem Satz war Nicci auf den Beinen und stürzte aus dem Raum. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und wandte sich um. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie nicht ganz sicher auf den Beinen stand.

»Ich schwöre es, Zedd. So lange ich atme, kann er sich meines Schutzes sicher sein.«

Sie sah Zedd nicken, während ihm eine Träne über die faltenzerfurchte Wange rann. »Beeilt Euch.«

Nicci wandte sich um und rannte die eiserne Treppe zwei Stufen auf einmal nehmend hinab. Und die ganze Zeit, während ihre Schritte im Rund des mächtigen Turmes widerhallten, fragte sie sich, was Jebra wohl in ihrer Vision gesehen hatte, das Richard in dem Fall, dass er von ihnen getrennt oder allein gelassen wurde, erwartete, bis sie schließlich entschied, es kam gar nicht auf das Schicksal an, das ihm in dieser Vision beschieden war. Das Einzige, was zählte, war, dass sie es unter keinen Umständen so weit kommen lassen durfte. Richard und Cara standen bereits wartend auf der Ummauerung des großen Brunnens der Sliph, jenes Wesens, das all die Zeit, in der die Große Barriere Bestand gehabt hatte, zusammen mit der Alten Welt hinter einer Mauer fortgesperrt gewesen war.

Hinter ihnen beobachtete das quecksilbrige Gesicht der Sliph, wie Nicci in den Raum hineinstürzte. »Möchtet Ihr reisen?«, fragte sie mit ihrer gespenstischen, im kreisrunden Raum widerhallenden Stimme.

»Ja, ich möchte reisen«, antwortete Nicci völlig außer Atem, während sie ihr Bündel vom Boden aufnahm. Offenbar hatte Cara es dort für sie bereitgelegt. Sie bedankte sich bei der Mord-Sith. Nachdem sie ihren Arm durch den Riemen geschoben und das Bündel auf ihren Rücken gehievt hatte, reichte Richard ihr die Hand.

»Kommt jetzt.«

Sie ergriff sie und ließ sich mit einem kraftvollen Zug auf die Ummauerung helfen; dabei hatte sie solches Herzklopfen, dass es ihr bis zum Hals hinauf zu schlagen schien. Da sie schon auf diese Weise gereist war, war ihr das überwältigende, ekstatische Gefühl dieses Erlebnisses nicht völlig unbekannt, trotzdem konnte sie sich der Angst nicht erwehren, die sie bei der Vorstellung überkam, das lebendige Quecksilber der Sliph einatmen zu sollen. Es war ein Gedanke, der jeder Vorstellung des Lebenshauches widersprach.

»Es wird Euch ein Vergnügen sein«, sagte die Sliph, als Nicci sich zu den anderen gesellte. Nicci unterließ es, ihr zu widersprechen.

»Also los«, sagte Richard. »Ich möchte reisen.«

Ein silbrig glänzender Arm erhob sich aus dem Becken und legte sich um Richard und Cara, nicht aber um Nicci.

»Augenblick!«, rief sie. »Ich muss die beiden begleiten.« Die Sliph erstarrte. »Hör zu, Richard. Du musst Cara und mich bei den Händen fassen. Du darfst unter gar keinen Umständen loslassen.«

»Ihr habt es doch schon einmal gemacht, Nicci. Es wird ...«

»Hör zu! Wir beide, Cara und ich, vertrauen dir, und du musst uns vertrauen. Du darfst unter keinen Umständen von uns getrennt werden. Egal, was passiert. Auch nicht für einen einzigen Augenblick. Sollte das geschehen, bist du für uns verloren. Sollte das passieren, wird das, was du vorhast, nicht geschehen.«

Einen Moment lang musterte Richard schweigend ihr Gesicht.

»Hatte Jebra etwa eine Vision, dass etwas passieren könnte?«

»Nur, wenn du von uns getrennt wirst, wenn du alleine bist.«

»Was hat sie gesehen?«

»Diese Hexe, Sechs. Jebra nannte sie ›die dunkle Hexe‹.«

Wieder musterte er ihr Gesicht. »Shota hat sich auf die Suche nach dieser Sechs begeben.«

»Das mag schon sein, nur hat sie längst Shotas Autorität auf deren eigenem Territorium an sich gerissen.«

»Vorübergehend vielleicht. Aber ich möchte nicht in ihrer Haut stecken, wenn Shota sie zu fassen kriegt. Der letzten Person, die bei ihr aufgetaucht ist, um sie um ihr Zuhause zu bringen, hat Shota das Fell über die Ohren gezogen und anschließend ihren Thron damit bezogen, und das war immerhin ein Zauberer.«

»Ich will Shotas Gefährlichkeit ja gar nicht in Zweifel ziehen, nur:

Wir wissen nicht, wie gefährlich diese Sechs ist. Die Gabe ist bei jedem unterschiedlich ausgeprägt. Womöglich stellt sich am Ende heraus, dass Shota den Fähigkeiten dieser Sechs nicht gewachsen ist. Ich weiß nur, dass die Schwestern der Finsternis eine Heidenangst vor ihr haben. Jebra hatte eine grauenhafte Vision und meinte, du dürftest auf keinen Fall alleingelassen werden. Und ich bin nicht gewillt, dieser Vision auch nur den Hauch einer Chance zu geben, sich zu erfüllen.«

Offenbar hatte er ihr die Entschlossenheit im Gesicht angesehen, denn er nickte. »Also gut.« Er ergriff Caras und ihre Hand. »Lasst also auf keinen Fall los, dann müssen wir uns keine Sorgen machen.«

Zur Bestätigung drückte Nicci seine Hand, dann steckte sie den Kopf an ihm vorbei und sagte zu Cara: »Habt Ihr verstanden? Wir dürfen ihn nicht aus den Augen lassen. Nicht einen einzigen Augenblick.«

Caras Miene verdüsterte sich. »Wann habe ich je den Wunsch geäußert, ihn aus den Augen zu lassen?«

»Wohin möchtest du reisen?«, fragte die Sliph.

Nicci sah kurz zu Richard und Cara, ehe sie begriff, dass die Frage an sie gerichtet war.

»Dorthin, wohin die beiden wollen.«

Das silbrige Gesicht nahm einen listigen Ausdruck an. »Ich darf nicht verraten, was meine Kunden tun, während sie in mir sind. Sag mir, was du möchtest, und ich werde dich zufriedenstellen.«

Nicci sah stirnrunzelnd zu Richard.

»Sie verrät nie etwas über einen Dritten; das ist bei ihr so eine Art Berufsehre. Wir reisen zum Palast der Propheten.«

»Also zum Palast der Propheten«, sagte Nicci. »Ich möchte zum Palast der Propheten reisen.«

»Sie wird Cara und mich begleiten«, fügte Richard erklärend hinzu.

»An genau denselben Ort. Hast du verstanden? Sie wird uns Gesellschaft leisten, während wir dorthin reisen.«

»Ja, Herr. Wir werden reisen.« Das Gesicht, einer auf Hochglanz polierten Statue nicht unähnlich, lächelte. »Es wird euch ein Vergnügen sein.«

Der flüssige silbrige Arm zog sich um die drei zusammen und hob sie von der Ummauerung. Nicci packte Richards Hand noch fester. Nicci hielt den Atem an, als sie in die völlige Dunkelheit der Sliph eintauchten; sie wusste, dass sie einatmen musste, doch der bloße Gedanke, die silbrige Flüssigkeit in ihre Lungen zu saugen, bereitete ihr entsetzliche Angst.

Atme.

Schließlich tat sie es doch. Mit einem verzweifelten Atemzug sog sie die Sliph in ihre Lungen. Farben, Licht und Formen verschmolzen rings um sie her zu einem einzigartigen Schauspiel. Fest an Richards Hand geklammert, glitten sie in die seidige Ferne. Es war ein großartiges, gemächliches Gefühl des Dahinschwebens, gleichzeitig aber auch so, als schösse man mit unglaublicher Geschwindigkeit Kopf voran dahin.

Mit einem weiteren Schwindel erregenden Atemzug nahm sie das Wesen der Sliph in sich auf, bis sie sich völlig von allem befreit fühlte, was sie verfolgte, von dem erdrückenden Gewicht, das auf ihrer Seele lastete. Was blieb, war ihre Verbindung zu Richard, nichts anderes existierte, niemand sonst existierte. Es war die pure Verzückung.

Sie wünschte sich, es würde niemals enden.

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