20

Aber irgendetwas nagte immer noch an ihm, irgendein Detail wollte immer noch keinen rechten Sinn ergeben. Wie war es möglich, dass der Oberste Ankläger, Lothain, sich gegen seinen Glauben, ja gegen alles und jeden in der Alten Welt gewendet hatte? Die Erklärung, er sei der Macht und den Glaubensüberzeugungen der Alten Welt verfallen, erschien Richard zu einfach.

Und dann dämmerte es ihm. Die Erkenntnis durchflutete ihn mit der Plötzlichkeit und Wucht einer Flutwelle - und mit einer Stichhaltigkeit, die ihm den Atem nahm. Irgendetwas an den alten Aufzeichnungen hatte ihn immer schon gestört. Shota hatte seine Erinnerung an die Dinge, die damals geschehen waren, aufgerüttelt, wodurch sich plötzlich sämtliche vorhandenen Einzelteile zu einem Gesamtbild fügten. Nachdem er es einmal begriffen hatte, fragte er sich, wieso er nicht schon viel früher darauf gekommen war.

»Lothain war ein fanatischer Ankläger«, sagte er, halb zu sich selbst. Es sprudelte nur so aus ihm heraus, wie er mit starrem Blick dastand, die Augen aufgerissen. »Er hatte keineswegs eine neue Bestimmung für seinen Glaubenseifer gefunden. Er hatte sich nicht von ihnen abgewendet. Er war kein Verräter, sondern ein Spion. Und zwar von Anfang an. Er war wie ein Maulwurf, der sich immer näher an sein Ziel herangrub. Im Laufe einer recht langen Zeitspanne war es ihm gelungen, sich in eine gewisse Machtposition zu manövrieren. Zudem hatte er Komplizen, die im Verborgenen für ihn arbeiteten. Lothain war ein Zauberer, der nicht nur weithin hohes Ansehen genoss, sondern auch zu großer Macht gelangt war. Dank seines politischen Einflusses hatte er Zutritt zu höchsten Stellen. Als sich ihm schließlich die Chance bot, eine Chance, die er selbst mit herbeigeführt hatte, handelte er. Er sorgte dafür, dass seine Mitverschwörer der Tempelmission zugeteilt wurden. Wie die Imperiale Ordnung heute, so waren auch Lothain und seine Männer von starkem Glauben an ihre Sache beseelt. Sie waren es, die die Mission scheitern ließen. Es war nicht etwa ein Sinneswandel oder ein Akt irregeleiteten Verantwortungsbewusstseins. Das Ganze war von langer Hand vorbereitet und geschah in voller Absicht. Sie alle waren bereit, sich für ein ihrer Ansicht nach höheres Ziel selbst aufzuopfern und in den Tod zu gehen. Ich weiß nicht, wie viele von ihnen tatsächlich Spione waren, ob es auf sie alle zutraf, Tatsache aber ist, dass sie genug waren, um ihre Vorhaben in die Tat umzusetzen. Gut möglich auch, dass sie die anderen überzeugen konnten, aus einem verwirrten Gefühl moralischer Verpflichtung heraus mit ihnen gemeinsame Sache zu machen.

Natürlich war nicht zu vermeiden, dass die anderen Zauberer in der Burg schon sehr bald dahinter kamen, dass das Tempel-der-Winde-Projekt in Gefahr gebracht worden war. Als dies geschah, war Lothain nur zu bereit, die gesamte an dieser Mission beteiligte Mannschaft unter Anklage zu stellen und dafür zu sorgen, dass sie samt und sonders hingerichtet wurden. Er wollte unbedingt verhindern, dass jemand am Leben blieb, der das tatsächliche Ausmaß dessen, was sie getan hatten, verraten konnte. Von Anfang an war es Lothains Plan gewesen, ihr genaues Vorgehen geheim zu halten, damit keine wirkungsvollen Gegenmaßnahmen ergriffen werden konnten. Die von Lothain für die Tempel-Truppe ausgewählten Spione gingen bereitwillig in den Tod und nahmen ihr Geheimnis mit ins Grab. Indem er die gesamte Tempel-Truppe anklagte und bestrafte, konnte er die ganze von ihm erdachte Verschwörung geheim halten, denn er eliminierte jeden, der über den tatsächlich angerichteten Schaden informiert war. Das gab ihm die Gewissheit, dass seine Sache eines Tages jeglichen Widerstand hinwegfegen, seine Anhänger die Welt beherrschen würden. Sobald es dazu kam, würde er der größte Held des Krieges sein. Blieb nur noch ein geringfügiges Problem. Nach dem Prozess bestanden die Verantwortlichen darauf, jemand müsse den Tempel der Winde abermals aufsuchen, um den Schaden wieder zu richten. Natürlich durfte Lothain nicht zulassen, dass dies ein anderer übernahm, denn der würde zwangsläufig das wahre Ausmaß der Sabotage aufdecken und womöglich ungeschehen machen können, also erklärte er sich bereit, selbst zu gehen. Das war von Anfang an sein Plan gewesen - wenn nötig, würde er selbst der Tempel-Truppe folgen und so die Wahrheit unter Verschluss halten. Da er der Oberste Ankläger war, nahm ihm jeder seine absolute Entschlossenheit ab, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Als Lothain schließlich am Tempel der Winde eintraf, sorgte er nicht nur dafür, dass der angerichtete Schaden nicht wiedergutzumachen war, sondern er benutzte das dort erlangte Wissen, um alles noch erheblich zu verschlimmern und auf diese Weise sicherzustellen, dass niemand die undichte Stelle finden und verschließen konnte. Anschließend vertuschte er sein Tun, indem er es so aussehen ließ, als sei alles wieder im Lot. Nur: Die von ihm unter Verwendung des Tempelwissens vorgenommenen Veränderungen entpuppten sich als so umfassend, dass die Sicherheitsalarmvorrichtungen ausgelöst wurden. Im Tempel, in jener anderen Welt, wusste Lothain nichts von den roten Monden, die dieser in der hiesigen Welt geschaffen hatte, weshalb er bei seiner Rückkehr gefasst wurde. Aber selbst das war ihm gleichgültig; er sah dem Tod mit Freuden entgegen, freute sich darauf, für das Erreichte mit ewigem Ruhm im Leben nach dem Tode belohnt zu werden - ganz so, wie Nicci die Denkweise der Menschen in der Alten Welt beschrieben hat.

Nun mussten die Zauberer in der Burg unbedingt das Ausmaß des von Lothain angerichteten Schadens kennen, der aber weigerte sich selbst unter Folter zu verraten, wie umfassend sein Plan gewesen war. Um herauszufinden, was sich damals tatsächlich zugetragen hatte, wurde Magda Searus Konfessorin. Aber sie war in dieser Arbeit unerfahren und hatte ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen. Zwar machte sie von ihrer Konfessorinnenkraft Gebrauch, nur war ihr damals noch nicht bewusst, wie wichtig es war, auch die richtigen Fragen zu stellen.«

Richard sah hoch in das Gesicht seiner Mutter. »Kahlan erzählte mir einmal, dass es im Grunde ganz einfach sei, ein Geständnis zu bekommen. Schwierig ist es vielmehr, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie man die richtigen Fragen stellt, um die Wahrheit zu erfahren. Merritt hatte die Konfessorinnenkräfte erst kurz zuvor erdacht, deshalb war noch niemandem die Funktionsweise dieser Kräfte klar.

Kahlan war zeit ihres Lebens darin ausgebildet worden, es richtig zu machen, damals aber, vor Tausenden von Jahren, fehlte Magda Searus noch das rechte Verständnis, um die richtigen Fragen zu stellen, noch dazu in der richtigen Reihenfolge, um die Wahrheit zu erfahren. Sie war zwar der Meinung, Lothain zu einem Geständnis seiner Taten bewogen zu haben, dennoch gelang es ihr nicht, das wahre Ausmaß seines Verrats aufzudecken. Er war ein Spion, und obwohl man sich zum ersten Mal einer Konfessorin bediente, konnte er nicht demaskiert werden. Mit dem Ergebnis, dass das wahre Ausmaß des von Lothains Männern in der Tempel-Truppe durchgeführten Umsturzes nie ans Licht kam.«

Die Stirn vor Konzentration in Falten gelegt, musterte ihn seine Mutter prüfend. »Bist du dir da ganz sicher, Richard?«

Er nickte. »Endlich fügt sich alles schlüssig ineinander. Dank Euren Hinzufügungen zu der Geschichte passen jetzt endlich alle Einzelheiten zusammen, die zuvor nie ein Bild ergeben wollten. Lothain war ein Spion und ging in den Tod, ohne seine wahre Identität preiszugeben - oder den Umstand, dass er seine eigenen Leute in die Tempel-Truppe eingeschleust hatte. Sie alle starben, ohne dass das wahre Ausmaß des von ihnen angerichteten Schadens jemals ans Licht gekommen wäre. Niemand, nicht einmal Baraccus, war sich des wahren Ausmaßes bewusst.«

Seine Mutter seufzte, den Blick in die Ferne gerichtet. »Das erklärt gewiss einige Lücken in dem, was mir zugeflogen ist.« Sie schaute ihn an, als sehe sie ihn in einem neuen Licht. »Sehr gut, Richard. Wirklich ausgezeichnet.«

Richard fuhr sich mit der Hand über seine müden Augen. Er war nicht besonders stolz darauf, dass er in den düsteren Sumpf der Geschichte hinuntergelangt und solch verabscheuungswürdige Taten ans Licht gefördert hatte, Taten, deren Auswirkungen ihn bis zum heutigen Tag verfolgten.

»Ihr sagtet, Baraccus hätte mir ein Buch hinterlassen?«

Sie nickte. »Er gab es seiner Frau zur sicheren Verwahrung mit. Aber bestimmt war es für dich.«

Richard seufzte. »Seid Ihr sicher?«

»Ja.« Behutsam verschränkte seine Mutter die Finger ineinander.

»Baraccus hatte diese Schrift noch während seines Aufenthalts im Tempel der Winde mithilfe des dort erlangten Wissens verfasst. Außer seinen eigenen haben nie jemandes Augen darin gelesen, kein Sterblicher hat auch nur den Einband aufgeschlagen, seit Baraccus die Niederschrift beendet und den Einband eigenhändig geschlossen hat. Es hat seit dieser Zeit unberührt in seiner geheimen Bibliothek gelegen.«

Die Vorstellung eines solchen Ortes ließ Richard frösteln. Er hatte keine Ahnung, wo sich eine solche Bibliothek befinden sollte, doch selbst wenn es ihm gelänge, die richtige Bibliothek zu finden, würde ihm das nicht verraten, was er wissen musste. Er vermutete, dass es aussichtslos war, stellte die Frage aber trotzdem.

»Habt Ihr eine Ahnung, wie dieses Buch betitelt ist - oder vielleicht, wovon es handelt?«

Seine Mutter nickte ernst. »Es trägt den Titel Geheimnisse der Kraft eines Kriegszauberers.«

»Bei den Gütigen Seelen«, entfuhr es Richard leise, als er zu ihr hochsah.

Die Ellbogen auf die Knie gestützt, ließ er das Gesicht in die Hände sinken. Er war so überwältigt, dass er meinte, das alles gar nicht verkraften zu können. Derselbe Mann, der dafür gesorgt hatte, dass Richard mit subtraktiver Magie geboren worden war, hatte ihm ein Buch mit Anleitungen zu jener Magie hinterlassen, mit der er allem Anschein nach Richard ausgestattet hatte, um besagten Traumwandler zu besiegen. Unfassbar! Und nachdem Baraccus zurückgekehrt war und Selbstmord begangen hatte, hatten die Zauberer jeden weiteren Versuch, in den Tempel zu gelangen, sei es, um dem Ruf der roten Monde zu folgen oder aus einem anderen, gleich wie unwahrscheinlichen Grund, aufgegeben. Sie hatten ihn nie betreten können, um das erst von der Tempeltruppe und anschließend von Lothain angerichtete Unheil wieder zu richten. Allein Baraccus hatte etwas tun können, um der Gefahr entgegenzuwirken.

Sehr wahrscheinlich hatte Baraccus höchstselbst dafür gesorgt, dass niemand sonst in den Tempel der Winde gelangen konnte, vermutlich, um der Gefahr zu entgehen, irgendein anderer Spion könnte seine Bemühungen zunichte machen, die gewährleisten sollten, dass es ein Gegengewicht zu der Gefahr geben würde, nämlich die Geburt Richards.

Richard sah auf. Seine Mutter war nicht mehr da. An ihrer Stelle stand jetzt wieder Shota, die Spitzen ihres Kleides sachte wehend, wie in einer Brise. Es stimmte ihn traurig zu sehen, dass seine Mutter verschwunden war, gleichzeitig aber atmete er auf, denn es war überaus verstörend, sich über den Geist seiner Mutter mit Shota zu unterhalten.

»Diese Bibliothek, zu der Baraccus seine Frau mit den Geheimnissen der Kraft eines Kriegszauberers schickte, wo befindet die sich eigentlich?«

Betrübt schüttelte Shota den Kopf. »Ich fürchte, das weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass es außer Baraccus selbst und seiner Frau, Magda Searus, jemand wusste.«

»Es gibt so viele Bibliotheken; Baraccus’ Privatbibliothek könnte jeder von ihnen angegliedert sein. Habt Ihr denn gar keine Idee, welche in Frage käme?«

»Ich weiß nur, dass sie nicht, wie du andeutest, Teil einer anderen Bibliothek ist. Die von Baraccus angelegte Bibliothek war sein alleiniger Privatbesitz. Jedes Buch dort war sein Privatbesitz. Offenbar hat er sie gut versteckt, denn sie sind bis zum heutigen Tag unentdeckt geblieben.«

»Und aus irgendeinem Grund hielt er es für angebracht, diese Bücher nicht im sicheren Gewahrsam der Enklave des Obersten Zauberers zu lassen?«

»Was meinst du mit sicherem Gewahrsam? Es ist noch gar nicht lange her, da haben die Schwestern der Finsternis diesen Ort im Auftrag Jagangs entweiht und, unter anderem, Bücher mit zu Kaiser Jagang genommen. Jagang ist unentwegt auf der Suche nach alten Schriften, weil darin Wissen enthalten ist, das ihm beim Kampf um die Herrschaft über die Welt im Namen der Imperialen Ordnung nützlich sein könnte. Wäre das Buch, das Baraccus für dich geschrieben hat, hier in der Burg der Zauberer aufbewahrt worden, würde es sich jetzt womöglich in Jagangs Besitz befinden. Es war klug von Baraccus, einen Gegenstand von solcher Macht nicht hier zulassen, wo jeder ihn finden konnte, wo jeder Oberste Zauberer in seiner Nachfolge es hätte entdecken und damit herumpfuschen oder, falls es in die falschen Hände geraten wäre, sogar vernichten können.«

Genau dieses Schicksal hatte das Buch der gezählten Schatten erlitten. Aufgrund einer Prophezeiung hatten Ann und Nathan George Cypher geholfen, es nach Westland zurückzubringen, mit dem Ziel, dass Richard es, sobald er alt genug wäre, auswendig lernen und anschließend vernichten sollte, damit es nicht in falsche Hände geriet. Wie sich herausstellte, musste Darken Rahl dieses Buch schließlich in seinen Besitz bringen, um die Kästchen der Ordnung zu öffnen - jene Kästchen, die jetzt von Anns ehemaligen Schwestern ins Spiel gebracht worden waren, und die derzeit Kahlan, die letzte Konfessorin, in ihrer Gewalt hatten, die ihm wiederum wegen des Inhalts des Buches geholfen hatte, Darken Rahl zu besiegen.

Richard hob das Amulett, das einst Baraccus gehört hatte, ein Stück von seiner Brust und betrachtete die Symbole, die den Tanz mit dem Tod versinnbildlichten. Es war einfach zu viel, als dass es alles Zufall sein konnte.

Er sah hoch zu Shota. »Wieso erhaltet Ihr eigentlich besondere Informationen? Woher stammen sie? Wie kommt es, dass sie Euch nur zu bestimmten Zeiten zufliegen, so wie jetzt? Warum nicht schon bei unserer ersten Begegnung oder als ich in den Tempel der vier Winde zu gelangen versuchte, um die Seuche zu beenden?«

»Ich vermute, sie stammen von demselben Ort, von dem auch du deine Antworten und Eingebungen erhältst, wenn du über ein Problem nachdenkst. Warum fällt dir nur in ganz bestimmten Augenblicken die Lösung zu einem Problem ein? Ich denke über eine Situation nach, und manchmal geschieht es eben, dass mir eine Lösung dazu einfällt. Im Grunde ist es wahrscheinlich nicht anders als bei anderen, wenn sie einen Einfall haben. Nur sind meine Gedanken ausschließlich dem Verstand einer Hexe vorbehalten und beziehen sich auf Ereignisse im Strom der Zeit. Vermutlich bist du auf ganz ähnliche Weise dahinter gekommen, was Lothain in Wahrheit getan hat; und genauso funktioniert es eben auch bei mir.«

Richard seufzte schwer und erhob sich. »Danke, Shota, für alles, was Ihr getan habt. Ich werde mich bemühen, einen Weg zu finden, wie mir Eure Worte von Nutzen sein können.«

Shota drückte seine Schulter. »Ich muss fort. Es gibt da eine Hexe, die ich unbedingt finden muss. Dank Nicci kenne ich jetzt wenigstens ihren Namen.«

Ihm kam eine Idee. »Wieso heißt sie wohl Sechs?«

Shotas Miene verdüsterte sich. »Es ist ein abwertender Name. Eine Hexe sieht viele Dinge im Strom der Zeit, vor allem jene, die ihre Töchter betreffen, die sie noch gebären könnte. Für eine Hexe ist das siebente Kind etwas ganz Besonderes; einem Kind den Namen Sechs zu geben, heißt, dass es zurückgeblieben ist, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Es ist eine unverhohlene, von Geburt an wirksame Kränkung, die sich auf den Charakter bezieht, den eine Hexe für ihre Tochter vorhersieht. Ein solcher Name kommt dem öffentlichen Eingeständnis gleich, dass diese Tochter mit einem Makel behaftet ist. Wahrscheinlich ist dieser Name schuld daran, dass die Tochter, Sechs, ihre eigene Mutter umbrachte.«

»Warum sollte eine Mutter dann dergleichen öffentlich verkünden? Warum nicht der Tochter einen anderen Namen geben und damit die eigene wahrscheinliche Ermordung verhindern?«

Shota betrachtete ihn, ein trauriges Lächeln auf den Lippen. »Weil es Hexen gibt, die große Stücke auf die Wahrheit halten, und diese Wahrheit anderen hilft, Gefahren aus dem Weg zu gehen. Eine Lüge wäre für eine solche Frau das Saatkorn, aus dem ein weit größeres Problem erwächst. Die Wahrheit ist für uns die einzige Hoffnung, die wir für die Zukunft hegen. Und Zukunft ist für uns gleichbedeutend mit Leben.«

»Na ja, jedenfalls klingt es ganz so, als würde der Name zu dem Ärger passen, den diese Frau macht.«

Shotas Lächeln, so traurig es gewesen war, erlosch, und ein finsterer Schatten huschte über ihre Stirn. Warnend hob sie einen Finger. »Für eine solche Frau wäre es ein Leichtes, ihren Namen geheim zu halten, stattdessen trägt sie ihn ganz offen, wie eine Schlange, die ihre Fangzähne entblößt. Zerbrich du dir den Kopf über andere Dinge und überlass sie mir. Eine Hexe ist äußerst gefährlich.«

Richard konnte sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. »Etwa so wie Ihr?«

Shota erwiderte das Lächeln nicht. »So wie ich.«

Richard blieb allein beim Brunnen zurück und schaute zu, wie Shota die Stufen hinaufstieg. Alle anderen, Nicci, Cara, Zedd, Nathan und Ann, standen dicht beisammen ein wenig abseits, leise in eine Unterhaltung vertieft. Sie schenkten Shota keine Beachtung, als sie einer ungesehenen Erscheinung gleich an ihnen vorüberschwebte. Richard folgte ihr die Stufen hinauf. Bereits in der Tür, wandte sie sich, ein Schattenriss im Licht, noch einmal um, fast so, als hätte sie selbst eine Erscheinung gesehen, und stützte eine Hand am Türrahmen ab.

»Ein Letztes noch, Richard.« Sie sah ihm einen Moment lang prüfend in die Augen. »Deine Mutter ist, als du klein warst, bei einem Brand ums Leben gekommen.«

Richard nickte. »Das stimmt. Ein Kerl war mit George Cypher handgreiflich geworden, dem Mann, der mich großzog und von dem ich dachte, er wäre mein Vater. Der Kerl, der diesen Streit mit meinem Vater vom Zaun gebrochen hatte, stieß eine Lampe vom Tisch, und dadurch geriet das Haus in Brand. Mein Bruder und ich schliefen damals hinten im Schlafzimmer. Als der Kerl meinen Vater nach draußen zerrte und auf ihn einzuprügeln begann, kam meine Mutter hereingestürzt und schleppte meinen Bruder und mich aus dem brennenden Haus.«

Richard musste sich räuspern, so schmerzhaft war die Erinnerung noch immer. Er erinnerte sich, wie sie kurz erleichtert gelächelt hatte, als sie in Sicherheit waren, und an den letzten flüchtigen Kuss, den sie ihm auf die Stirn gegeben hatte.

»Nachdem meine Mutter sich überzeugt hatte, dass wir in Sicherheit waren, lief sie noch einmal zurück, um irgendetwas aus den Flammen zu retten - was genau, haben wir nie erfahren. Ihre Schreie brachten den Kerl wieder zur Besinnung, und er und mein Vater versuchten gemeinsam, sie noch zu retten, aber es war aussichtslos ... Die Hitze und die Flammen trieben sie immer wieder zurück, und sie konnten nichts mehr für sie tun. Erfüllt von Schuldgefühlen und Abscheu über das, was er angerichtet hatte, machte sich der Kerl dann unter Tränen und fortwährenden Beteuerungen, wie leid ihm das alles tue, aus dem Staub.

Es war eine entsetzliche Tragödie, vor allem, weil niemand mehr im Haus war, keine Wertgegenstände, nichts, was zu retten sich gelohnt hätte, was es wert gewesen wäre, ihr Leben dafür aufzuopfern. Meine Mutter ist wegen nichts gestorben.«

Shota, ein Schatten in der Tür, eine Hand auf dem Türpfosten, starrte ihn an, eine Ewigkeit, wie es schien. Richard wartete schweigend. Ihre Körperhaltung, ihre mandelförmigen Augen verhießen eine entsetzliche, tiefere Bedeutsamkeit. Schließlich sprach sie mit sanfter Stimme.

»Deine Mutter war nicht die Einzige, die bei diesem Brand ums Leben kam.«

Richard spürte, wie eine Gänsehaut seine Beine und Arme hinaufkroch. Alles, was sein Leben lang gewiss gewesen war, schien in einem einzigen Augenblick unter dem Blitzeinschlag ihrer Worte zu verdampfen.

»Was sagt Ihr da?«

Betrübt schüttelte Shota den Kopf. »Bei meinem Leben, Richard, ich schwöre es, mehr weiß ich nicht.«

Sie legte ihm ihre Hand an die Wange. »Als du das letzte Mal in Agaden warst, hast du mir einen großen Liebesdienst erwiesen. Du lehntest mein Angebot ab und sagtest, ich sei mehr wert, als jemanden gegen seinen Willen zu zwingen, bei mir zu bleiben. Du sagtest, ich hätte es verdient, jemanden zu haben, der mich für das achtet, was ich bin.

So verärgert ich in diesem Moment über dich war, es gab mir zu denken. Ich bin noch nie zurückgewiesen worden, aber du hast es getan, und aus dem einzig richtigen Grund - weil du mir zugetan warst und es dir wichtig war, dass ich bekomme, was mein Leben lebenswert macht. Deine Zuneigung war so groß, dass du es riskiert hast, dir meinen Zorn zuzuziehen.

Als ich die Ähnlichkeit deiner Mutter annahm, beeinflusste dieses Talent in bestimmter Weise den Informationsfluss, der mich erreichte. Und aus diesem Grund drang, als ich gerade gehen wollte, dieser einzelne Gedanke in mein Bewusstsein: Deine Mutter war nicht die Einzige, die bei diesem Brand ums Leben gekommen ist. Wie alles, was ich dem Strom der Ereignisse in der Zeit entnehme, kam auch das wie eine intuitive Vision über mich. Ich weiß weder, was es bedeutet, noch habe ich weitere Informationen darüber. Ich schwöre es, Richard, wirklich nicht. Unter normalen Umständen hätte ich dir dieses winzige Detail gar nicht enthüllt, da es so überfrachtet ist mit Möglichkeiten und Fragen, andererseits können diese Umstände kaum als normal gelten. Ich fand, du solltest wissen, was mir zugeflogen ist, du solltest bis in alle Einzelheiten über mein Wissen informiert sein. Nicht alles, was ich dem Strom der Zeit entnehme, ist nützlich - deswegen enthülle ich den Menschen solche isolierten Details nicht immer. In diesem Fall jedoch befand ich, dass du es erfahren solltest, denn es könnte sich herausstellen, dass es für dich wichtig ist und dir womöglich helfen könnte.«

Richard fühlte sich benommen und verwirrt. Er war nicht sicher, ob er glaubte, dass es tatsächlich das bedeutete, wonach es sich anhörte.

»Bedeutet es möglicherweise, dass sie deswegen nicht als Einzige gestorben ist, weil an diesem Tag ein Teil von uns mit ihr starb? Dass wir im Grunde unseres Herzens nie wieder so sein würden wie zuvor? Könnte es sein, dass sie in diesem Sinne nicht als Einzige in den Flammen umgekommen ist?«

»Ich weiß es nicht, Richard, wirklich nicht, aber möglich wäre es. Es könnte insofern belanglos sein, als es dir jetzt nicht unbedingt weiterhilft. Ich weiß nicht immer alles über die Dinge, die mir der Strom der Zeit enthüllt, oder ob sie bedeutsam sind. Gut möglich, dass es sich so verhält, wie du sagst, und mehr nicht. Ich kann dir nur helfen, indem ich meine Informationen korrekt an dich weitergebe, und das habe ich getan. Genau so ist es mir zugeflogen, in exakt diesen Worten: Deine Mutter war nicht die Einzige, die bei diesem Brand ums Leben gekommen ist.«

Richard fühlte, wie ihm eine Träne über die Wange lief. »Ich fühle mich so alleine, Shota. Ihr habt Jebra mit hierher gebracht, damit sie mir Dinge erzählt, die mir Albträume bereiten. Ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll, ich bin völlig ratlos. So viele Menschen setzen ihre Hoffnung auf mich, sind auf mich angewiesen. Könnt Ihr mir nicht irgendetwas sagen, was mich zumindest in die richtige Richtung lenkt, ehe wir alle verloren sind?«

Mit dem Finger wischte Shota ihm die Träne von der Wange, eine schlichte Geste, die ihm wieder ein wenig Zuversicht gab.

»Tut mir leid, Richard. Ich kenne die Antworten nicht, die dich retten würden. Wüsste ich sie, glaube mir, ich würde sie dir nur zu gerne geben. Aber ich sehe das Gute in dir. Ich glaube an dich. Du hast alles, was du brauchst, um erfolgreich zu sein. Manchmal wirst du an dir zweifeln. Gib nicht auf. Denk immer daran, ich glaube an dich. Ich weiß, du kannst dein Ziel erreichen. Es gibt nicht viele wie dich, Richard. Glaube an dich. Und wisse, ich glaube fest daran, dass du derjenige bist, der es schaffen kann.«

Noch einmal wandte sie sich um, ein dunkler Schatten vor dem schwindenden Licht.

»Ob Kahlan jemals existiert hat oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Die gesamte Welt des Lebens, das Leben jedes Einzelnen steht auf dem Spiel. Du musst dieses eine Menschenleben vergessen, Richard, und stattdessen an all die anderen denken.«

»Sagen das die Prophezeiungen, Shota?« Richard fühlte sich zu niedergeschlagen, um die Stimme zu heben. »Irgendetwas aus dem Strom der Zeit?«

Shota schüttelte den Kopf. »Es ist einfach nur der Rat einer Hexe.«

Sie machte sich auf den Weg zur Koppel, um ihr Pferd zu holen. »Zu viel steht auf dem Spiel, Richard. Du musst aufhören, diesem Phantom hinterher zujagen.«

Als Richard wieder hineinging, hatten sich alle, in eine leise Unterhaltung vertieft, die vom Mitgefühl für ihre schwere Prüfung erfüllt war, um Jebra geschart.

Zedd unterbrach sich mitten im Satz. »Ziemlich merkwürdig, findest du nicht auch, mein Junge?«

Richard ließ seinen Blick über die konsternierten Mienen schweifen.

»Merkwürdig? Was meinst du?«

Zedd breitete die Hände aus. »Na, dass Shota mitten in Jebras Geschichte einfach aufsteht und verschwindet.«

»Verschwindet«, wiederholte Richard nachdenklich.

Nicci nickte. »Wir alle dachten, sie würde noch bleiben und etwas sagen, nachdem Jebra fertig war.«

»Vielleicht musste sie ja los, um sich jemanden zu suchen, den sie ins Bockshorn jagen kann«, brummte Cara.

Ann seufzte. »Vielleicht wollte sie sich auch nur auf die Suche nach dieser anderen Hexe machen.«

»Oder aber als Hexe hält sie nicht viel davon, sich ordentlich zu verabschieden«, schlug Nathan vor.

Richard sagte nichts. Er hatte dieses Verhalten schon einmal bei Shota beobachtet, damals, als sie bei seiner und Kahlans Hochzeit aufgetaucht war und Kahlan die Halskette geschenkt hatte. Auch da hatte niemand mitbekommen, dass sie mit Richard und Kahlan gesprochen hatte, hatte niemand sie wieder gehen sehen. Die anderen nahmen ihre Unterhaltung wieder auf, mit Ausnahme seines Großvaters. Zedd wirkte beunruhigt.

»Was ist denn?«, erkundigte sich Richard.

Kopfschüttelnd legte er Richard den Arm um die Schultern, beugte sich zu ihm und sagte in vertraulichem Ton: »Ich weiß nicht, warum, aber ich spüre, wie meine Gedanken immer wieder zu den Erinnerungen an deine Mutter abschweifen.«

»Meine Mutter.«

Zedd nickte. »Ich vermisse sie wirklich sehr.«

»Ich auch«, sagte Richard. »Und wo du gerade davon sprichst, ich schätze, ich war in Gedanken auch gerade bei ihr.«

Zedds Blick bekam etwas Entrücktes. »An dem Tag damals ist mit ihr auch ein Teil von mir gestorben.«

Richard brauchte einen Moment, um seine Stimme wieder zu finden.

»Hast du eine Idee, warum sie noch einmal in das brennende Haus zurücklief? Glaubst du, dort drinnen gab es irgendetwas Wichtiges? Womöglich etwas, von dem wir gar nichts wissen?«

Entschieden schüttelte Zedd den Kopf. »Damals war ich mir sicher, dass es einen guten Grund gegeben haben musste, aber ich habe die Asche eigenhändig durchsucht.« Tränen traten ihm in die Augen.

»Da war nichts, nur ihre Gebeine.«

Richard blickte zur Tür hinaus und sah den geisterhaften Schatten Shotas auf ihrem Pferd, die sich, ohne sich noch einmal umzuschauen, auf den Weg machte, die Straße hinunter.

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