13

Jebra rieb sich die Schultern, als hätte die bloße Erinnerung an den schrillen Klang der Gefechtshörner ihr von Neuem eine Gänsehaut bereitet. Sie atmete einmal tief durch, um ihre Fassung wiederzuerlangen, dann sah sie hoch zu Richard und fuhr mit ihrer Geschichte fort.

»Die Wachtposten eilten geschlossen zu den Verteidigungsanlagen der Stadt, sodass das Verlies unbewacht zurückblieb. Natürlich waren die Eisentüren, die sie hinter sich verriegelten, mehr als ausreichend, um jeden an der Flucht zu hindern. Kaum waren sie verschwunden, brachen einige der Gefangenen in Jubelschreie aus, Jubelschreie, die der anrückenden Imperialen Ordnung galten, dem sich abzeichnenden Fall Galeas und ihrer, wie sie glaubten, in Kürze bevorstehenden Freilassung. Doch nicht lange, und auch sie verstummten, als das Rufen und Schreien in der Ferne über uns immer mehr anschwoll. Stille senkte sich über die finsteren Verliese des Palasts.

Bald darauf konnte man das klirrende Aufeinanderprallen von Waffen hören, die kollektiven Schreie von Soldaten im Kampf auf Leben und Tod, die stetig näher kamen. Unter diese Schreie mischte sich das grauenhafte Kreischen der Verwundeten. Das Gebrüll der Soldaten schwoll immer mehr an, je weiter die Verteidiger zurückgedrängt wurden. Und dann stand der Feind im Palast. Ich hatte ja eine Zeit lang im Palast gelebt und viele der dort lebenden Menschen kennen gelernt, denen jetzt etwas bevorstand, das ...«

Jebra wischte sich die Tränen von der Wange. »Tut mir leid«, murmelte sie, während sie ein Taschentuch aus ihrem Ärmel zupfte und sich damit die Nase abtupfte. Dann räusperte sie sich und nahm ihren Bericht wieder auf.

»Ich weiß nicht, wie lange die Schlacht tobte, aber irgendwann kam der Moment, da hörte ich das Geräusch eines Rammbocks, der mit großer Wucht gegen die Eisentüren oben gestoßen wurde. Jeder Stoß hallte in den steinernen Mauern wider. Sobald eine Tür nachgegeben hatte, kam das Geräusch näher, wenn die nächste Tür in Angriff genommen wurde, bis schließlich auch diese aufgebrochen war. Und dann ergoss sich plötzlich eine Flut von Soldaten, alle mit Schlachtrufen auf den Lippen, die Treppen herab. Sie trugen Fackeln bei sich, die den winzigen Vorraum draußen vor meiner Zelle in hartes Licht tauchten. Wahrscheinlich waren sie auf der Suche nach der Schatzkammer, nach Beutegut. Stattdessen fanden sie ein verdrecktes Loch freudloser Abgeschiedenheit vor, sodass sie alle wieder die Treppen hinaufhasteten und uns in völliger Dunkelheit und in einem Zustand Herzrasender Angst zurückließen. Ich dachte schon, ich würde sie nie mehr wieder sehen, doch es dauerte gar nicht lange, und die Soldaten kehrten noch einmal zurück. Diesmal schleppten sie verzweifelt kreischende Frauen mit herbei - einige der Bediensteten aus dem Palast. Offenbar wollten die Soldaten mit ihren jüngsten Eroberungen alleine sein, fernab all der anderen Kerle, die sie ihnen einfach entreißen oder sich gar mit ihnen um solch kostbares lebendes Beutegut prügeln könnten. Was dann an meine Ohren drang, bewog mich, mich in den entlegensten Winkel meiner Zelle zu kauern, doch wirklich entziehen konnte ich mich dadurch nicht, denn ich musste das grauenhafte Geschehen noch immer in allen Einzelheiten hören. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was das für Männer sein mussten, die sich von solch schauderhaften Verbrechen, wie sie sie begingen, zu lautem Gelächter und Gejohle anregen ließen. Diese beklagenswerten Frauen hatten niemanden - absolut niemanden -, der ihnen half, keinerlei Hoffnung auf Rettung.

Dann riss sich offenbar eine der jüngeren Frauen von dem Kerl, der sie festhielt, los und stürzte in wilder Panik Richtung Treppe. Ich hörte Stimmen rufen, jemand solle sie festhalten. Sie war flink und kräftig, trotzdem bekamen die Männer sie mühelos zu fassen und warfen sie zu Boden. Als ich sie um ihr Leben betteln, mit Tränenerstickter Stimme »Nicht, bitte nicht« wimmern hörte, erkannte ich schließlich ihre Stimme wieder. Während einer der Kerle sie am Boden festhielt, trat ihr ein anderer mit dem Stiefel auf das Knie und bog ihren Fuß nach oben, bis ich ihr Knie mit einem Knacken nachgeben hörte. Unter ihren von Schmerz und Entsetzen erfüllten Schreien wiederholte er die Prozedur bei ihrem anderen Bein. Die Männer johlten nur und meinten, jetzt, da sie wohl kaum noch einmal fortlaufen werde, könne sie sich doch etwas ernsthafter mit ihren neuen Pflichten befassen. Und dann fielen sie über sie her. Noch nie, in meinem ganzen Leben nicht, habe ich so entsetzliche Schreie gehört.

Ich weiß nicht, wie viele Soldaten in den Kerker hinunterkamen, aber es wurden in ständigem Wechsel mehr und mehr. Stunde um Stunde ging das so. Einige der Frauen weinten und wimmerten die ganze Zeit, während sie vergewaltigt wurden, ein Verhalten, das die Männer nur zu stürmischen Lachsalven aufstachelte. Aber das waren gar keine Männer, das waren Ungeheuer ohne Gewissen oder Selbstbeherrschung.

Einer der Soldaten, er hatte offenbar ein Versteck mit Schlüsseln entdeckt, machte die Runde und schloss die Zellentüren auf. Er stieß die Türen auf, verkündete unter lautem Gelächter und Gejohle die Befreiung aller Unterdrückten und lud die Gefangenen ein, sich in die Schlange einzureihen, um ihre Rache an den gottlosen Menschen zu nehmen, die sie verfolgt und unterjocht hätten. Das Mädchen, dem sie die Knie gebrochen hatten - Elizabeth war ihr Name -, hatte ihr ganzes junges Leben lang noch keinen Menschen unterdrückt; stets war sie mit einem Lächeln auf den Lippen ihrer Arbeit nachgegangen, weil sie so froh war, eine Anstellung im Palast zu haben, und sie in einen jungen Tischlerlehrling verschossen war, der ebenfalls dort arbeitete. Die Gefangenen strömten aus ihren Zellen hervor, nur zu begierig, bei dem grausigen Treiben mitzumachen.«

»Wieso haben sie Euch nicht aus der Zelle gezerrt?«, wollte Richard wissen.

Jebra unterbrach sich, um tief durchzuatmen, ehe sie fortfuhr. »Als meine Zellentür aufgestoßen wurde, drückte ich mich in die dunkelste Ecke meiner Zelle. Es bestand nicht der geringste Zweifel, was mit mir geschehen würde, wenn ich hinausginge oder entdeckt würde. Aber teils wegen der Schreie der Frauen, teils wegen des Gegröles und Gelächters der Soldaten, aber auch wegen des Geschiebes und Gerangels um einen Platz in der Schlange, bekamen die Soldaten irgendwie nicht mit, dass ich mich in der Dunkelheit im hinteren Teil meiner Zelle versteckt hatte. Unten in den Kerkern gab es ja kaum Licht. Offenbar dachten sie, die winzige Zelle sei leer, wie einige der anderen auch, denn niemand machte sich die Mühe, eine Fackel hineinzuhalten und einen Blick hineinzuwerfen schließlich waren die übrigen Gefangenen ausnahmslos Männer, Verbrecher, die es gar nicht erwarten konnten, endlich freizukommen. Ich hatte nie ein Wort mit ihnen gewechselt, daher wussten sie vermutlich gar nicht, dass eine Frau den Kerker dort unten mit ihnen teilte, sonst wären sie bestimmt hereingekommen und hätten mich geholt. Außerdem waren sie alle ... ziemlich beschäftigt.«

Jebras Gesicht, von Seelenqualen verzerrt, sank in ihre Hände. »Ich kann Euch nicht einmal ansatzweise schildern, welch grauenhafte Dinge den Frauen nur wenige Schritte von mir entfernt angetan wurden. Es wird mich für den Rest meines Lebens in meinen Albträumen verfolgen. Aber die Vergewaltigung der Frauen war längst nicht alles, worauf diese Kerle aus waren. Ihr eigentlicher Antrieb war das lustvolle Verlangen nach brutaler Gewalt, eine barbarische Begierde, hilflose Menschen zu erniedrigen und ihnen Schmerzen zuzufügen, sie ihre Macht über Leben und Tod spüren zu lassen.

Als die Frauen alle Bemühungen, sich zu wehren, einstellten, zu schreien und schließlich zu atmen aufhörten, beschlossen die Männer, loszuziehen und sich etwas zu essen und zu trinken zu beschaffen, um ihren Triumph zu feiern, und sich anschließend noch ein paar Frauen mehr zu greifen. Wie eine Gruppe bester Freunde an einem freien Tag, so gelobten sie alle feierlich, nicht eher zu ruhen, bis es auf der ganzen Welt keine einzige Frau mehr gebe, an der sie sich nicht vergangen hatten.«

Mit beiden Händen strich Jebra sich die Haare aus dem Gesicht.

»Nachdem sie alle davongeeilt waren, wurde es sehr still und ruhig im Kerker. Obwohl ich unkontrollierbar zitterte und weinte, hielt ich mich auch weiter im Dunkel meiner Zelle verborgen und versuchte, jedes Geräusch zu vermeiden, das mich hätte verraten können. Ständig hatte ich den entsetzlichen Gestank von Blut und anderen Dingen in der Nase. Es ist schon komisch, wie selbst die eigene Nase nach einer Weile dazu neigt, unempfindlich gegen Gerüche zu werden, bei denen einem vorher speiübel geworden war. Trotzdem konnte ich einfach nicht aufhören zu zittern. Jetzt konnte ich auch verstehen, wieso Cyrilla angesichts dieser Misshandlungen den Verstand verloren hatte.

Mein anhaltender Angstzustand hatte mich erschöpft, und doch fand ich keinen Schlaf - ich wagte nicht zu schlafen. Die Nacht zog sich dahin, und schließlich sah ich Licht den Treppenschacht heruntersickern; die Eisentüren waren ja nicht mehr vorhanden, um die Welt oben fernzuhalten. Aber ich traute mich noch immer nicht hinaus, wagte noch immer nicht, mich von der Stelle zu rühren. Den ganzen Tag lang harrte ich aus, wo ich war, bis wieder pechschwarze Nacht die Zelle füllte. Das Wüten und Plündern oben hielt unvermindert an. Was als Schlacht begonnen hatte, war in eine berauschte Siegesfeier umgeschlagen. Auch die Morgendämmerung brachte von oben noch keine Ruhe.

Ich war mir darüber im Klaren, dass ich nicht bleiben konnte, wo ich war. Der Gestank der toten Frauen wurde allmählich unerträglich, ebenso die Vorstellung, dort unten in dem finstern Loch inmitten der verwesenden Körper von Menschen zu hocken, die ich kannte. Und doch hatte ich solche Angst vor dem, was mich dort oben erwartete, dass ich mich auch diesen Tag und dann noch einmal die ganze nächste Nacht nicht von der Stelle rührte.

Ich war so durstig und hungrig, dass ich begann, Becher voller Wasser auf dem Fußboden neben Brotlaiben stehen zu sehen, ja, ich konnte das nur wenige Fuß entfernt liegende Brot sogar riechen. Doch sobald ich die Hand danach ausstreckte, war es nicht mehr da. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann es passierte, aber irgendwann kam der Moment, da ich mich so sehr nach einem Ende dieser anhaltenden, lähmenden Angst sehnte, dass ich mein Ende schließlich akzeptierte, fast herbeisehnte. Ich wusste nur zu gut, was mir bevorstand, überlegte aber, dass damit endlich wenigstens meine grauenhafte, quälende Agonie ein Ende hätte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass es endlich vorbei wäre. Mir war klar, welches Leid, welche Erniedrigung und Qualen ich würde über mich ergehen lassen müssen, aber ich wusste auch, dass es, wie für die Frauen, die dort leblos nicht weit von mir entfernt am Boden lagen, irgendwann ein Ende haben würde und ich nicht mehr zu leiden brauchte.

Also wagte ich mich schließlich aus der Dunkelheit meiner Zelle nach draußen. Das Erste, was ich sah, waren die toten Augen Elizabeths, die mir direkt ins Gesicht starrten, so als hätte sie den Kopf herumgewandt und wartete nur darauf, dass ich hervorkomme, um zu sehen, was man ihr angetan hatte. Ihr Gesichtsausdruck schien eine stumme, an mich gerichtete Bitte, im Interesse der Gerechtigkeit Zeugnis abzulegen. Doch da war niemand, vor dem ich hätte Zeugnis ablegen können, und Gerechtigkeit war nicht zu haben, nur mein stummes Zeugnis ihres einsamen Endes.

Ihr Anblick und der der anderen Frauen ließ mich sofort wieder in die Zelle zurücktreten. Doch dann überkam mich ein Anfall blinder Panik. Ich hielt mir gegen den entsetzlichen Gestank den Saum meines Kleides vor die Nase und rannte mitten durch das Gewirr verdrehter, nackter Gliedmaßen und Körper. Ohne zu wissen, wohin ich rannte, aber in dem sicheren Wissen, wovor ich floh, hastete ich die Treppe hinauf. Und während ich rannte, betete ich unablässig für die Gnade eines schnellen Endes.

Den Palast wieder zu sehen war ein Schock. Er war einmal ein prächtiges Bauwerk gewesen, zumal die sorgfältigen Renovierungsarbeiten nach dem früheren Angriff vor ein paar Jahren gerade erst abgeschlossen waren. Jetzt war er nicht einmal mehr eine Ruine. Es war mir vollkommen unverständlich, wieso Soldaten sich die Mühe gemacht hatten, Dinge auf diese Weise zu zerstören, wie ihnen dieser ermüdend langwierige Akt der Zerstörung Spaß gemacht haben konnte. Überall wimmelte es von Soldaten, die die von ihren Kameraden zurückgelassenen Überreste durchwühlten, die Leichen fledderten und überhaupt alles fortschleppten, was sie nur tragen konnten, die aus blanker Verachtung elegante Dekorationen zertrümmerten und scherzend vor irgendwelchen Zimmern Schlange standen, wo sie darauf warteten, dass sie bei den weiblichen Gefangenen an die Reihe kämen. Männer wie diese hatte ich noch nie gesehen; es waren Soldaten, die sofort Gefühle ungehemmten Schreckens weckten, Hochgewachsene, ungeschlachte, ungewaschene Kerle in Narbenübersäten, blutverschmierten Lederrüstungen. Die meisten waren über und über mit Ketten, Gürteln und Nietenbesetzten Riemen bedeckt. Viele hatten sich den Schädel kahl rasiert, andere stierten unter Strähnen langen, verfilzten und fettigen Haars hervor. Alle verströmten sie etwas gänzlich Unzivilisiertes, kaum noch Menschliches. Es waren keine Soldaten, es waren einfach Kerle, die es längst aufgegeben hatten, sich den Anschein zivilisierten Verhaltens zu geben. Sie handelten oder feilschten nicht wie gewöhnliche Soldaten, sie nahmen sich einfach, was immer sie begehrten, und prügelten sich sogar um gänzlich wertlosen Plunder. Einfach aus einer Laune heraus schlugen sie Menschen nieder, löschten Leben aus und mordeten - ohne Sinn und Gewissen. Es waren Männer bar jeglicher zivilisierten Moral, grausame Rohlinge, die hemmungslos unter Unschuldigen wüteten.«

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