Drinnen beleuchteten drei große, fast die gesamte hintere Wand einnehmende Fenster den Raum mit trübem, spätnachmittäglichem Licht. Regen prasselte gegen das Glas und lief in verschlungenen Rinnsalen daran herab. Die Wände des kleinen Raumes waren mit Bücherregalen aus Färbereiche verkleidet, und nur genau in der Mitte des Raumes gab es genügend Platz für einen schlichten Eichentisch, der wiederum gerade groß genug war für die vier Holzstühle, einen an jeder Seite. Mitten auf dem Tisch stand eine ungewöhnliche vierstrahlige Lampe, die jedem der leeren Plätze aus einem silbernen Reflektor sein eigenes Licht spendete. Mit einem Schwenk ihres Armes schickte Nicci einen Funken ihrer Gabe in die vier Dochte. Die Flammen loderten auf und verliehen dem Raum eine warme, gemütliche Atmosphäre. Richard fiel auf, dass ihr das Entzünden der Lampen keine Mühe zu bereiten schien, obwohl der Palast die Kräfte aller außer denen der Rahls schwächte. Berdine trat an eines der Regale rechts neben der Tür. »Ganz in der Nähe jener Textstelle in Kolos Tagebuch, wo von dem Buch die Rede ist, das unter keinen Umständen kopiert werden darf, gibt es einen Hinweis, der möglicherweise so zu deuten ist, dass die Männer, die Baraccus misstrauten, dieselben waren, die auch die Kopien angefertigt hatten. Zumindest denke ich, dass er das gemeint haben könnte, sicher bin ich mir aber nicht. Er bezeichnet sie als die ›Dummköpfe aus Yanklees abenteuerliche Erzählungen.«
Nicci wirbelte herum zu Berdine. »Yanklees abenteuerliche Erzählungen!«
Richard blickte von einer Frau zur anderen und fragte: »Was, bitte, sind Yanklees abenteuerliche Erzählungen?«
»Ein Buch«, antwortete Berdine.
Richard sah Nicci fragend an, woraufhin diese sich ereiferte. »Es ist mehr als bloß ein Buch, Richard. Yanklees abenteuerliche Erzählungen ist ein Buch der Prophezeiungen, ein sehr, sehr merkwürdiges Buch der Prophezeiungen übrigens. Seine Entstehung wird auf sieben Jahrhunderte vor dem Großen Krieg datiert. In den Gewölbekellern des Palastes der Propheten existierte eine Abschrift, eine Merkwürdigkeit, mit der sich jede Schwester im Zuge ihrer Ausbildung über Prophezeiungen beschäftigt hat.«
Richard ließ den Blick über die in den Regalen aufgereihten Bücher wandern. »Und was war daran so merkwürdig?«
»Es ist ein Buch der Prophezeiungen, das aus nichts als Tratsch und Hörensagen besteht.«
Richard wandte sich wieder zu ihr herum. »Ich verstehe nicht.«
»Na ja«, sagte Nicci und zögerte kurz, um die richtigen Worte zu finden, »man betrachtete seinen Inhalt nicht gerade als Prophezeiung künftiger Ereignisse. Vielmehr war man der Meinung, es enthalte sozusagen Prophezeiungen über künftigen ... Tratsch.«
Seufzend rieb Richard seine müden Augen, ehe er wieder zu Nicci aufsah. »Wollt Ihr damit etwa sagen, dieser Yanklee hat Weissagungen über Klatsch zu Papier gebracht?« Als Nicci darauf nickte, konnte er nur noch fragen: »Aber warum?«
Nicci beugte sich ein wenig näher. »Genau das ist die Frage, auf die alle eine Antwort wissen wollten.«
Richard schüttelte den Kopf, so als versuchte er, sich von den gedanklichen Spinnweben zu befreien.
»Es gibt viele Dinge, die geheim sind, musst du wissen« - Nicci wies auf Berdine -, »und das gilt auch für diese Geschichte mit dem Buch, das angeblich niemals kopiert werden durfte. Solche Geheimnisse bleiben oft deswegen geheim, weil die Menschen sie mit ins Grab nehmen. Aus diesem Grund ist es uns beim Studium historischer Aufzeichnungen oft unmöglich, bestimmte Rätsel zu lösen -über sie sind einfach keine Informationen erhältlich.
Manchmal jedoch kursieren winzige pikante Details, Dinge, die irgendwelche Leute zufällig gesehen oder aufgeschnappt haben, und diese Menschen fangen dann an, über diese Dinge zu tratschen. Im Palast der Propheten gab es Schwestern, die fest davon überzeugt waren, dieses prophetische Buch über Tratsch enthalte Anspielungen darauf, als was sich diese künftigen Geheimnisse entpuppen würden.«
Richard machte ein erstauntes Gesicht. »Soll das heißen, diese Schwestern haben im Prinzip irgendwelches Gerede belauscht, mit dem Ziel, vielleicht irgendetwas aufzuschnappen?«
Nicci nickte. »So in etwa. Du musst wissen, dass einige wenige Schwestern dieses schlichte Bändchen für eine der bedeutsamsten prophetischen Schriften hielten, die überhaupt existieren. Es wurde unter strengen Sicherheitsvorkehrungen aufbewahrt und durfte, anders als manch anderes prophetische Buch, niemals, nicht einmal zu Studienzwecken, aus den Gewölbekellern entfernt werden. Es gab Schwestern, die dem Studium dieses scheinbar so albernen Buches einen Großteil ihrer Freizeit gewidmet haben. Da die Menschen sich normalerweise nicht die Mühe machen, Tratsch aufzuzeichnen, nimmt man an, dass Yanklees abenteuerliche Erzählungen das einzige Buch seiner Art ist - die einzige schriftlich festgehaltene Schilderung von Klatsch, auch wenn dieser noch gar nicht stattgefunden hat. Diese Schwestern glaubten, es gebe Ereignisse, die anders als mithilfe dieses Buches, das zeitlich ja vor ihnen liegt, weder aufgedeckt noch untersucht werden können. Im Wesentlichen waren sie im Glauben, heimlich hinter vorgehaltener Hand verbreiteten Tratsch über Dinge, über geheime Dinge, zu belauschen, die sich erst noch ereignen würden. Sie glaubten,
Yanklees abenteuerliche Erzählungen enthalte wertvolle Hinweise auf Geheimnisse, die niemandem sonst bekannt waren und an die man auf andere Art nicht herankommen konnte.«
Richard presste seine Fingerspitzen an die Stirn und versuchte das alles zu begreifen. »Eben sagtet Ihr, es habe Schwestern gegeben, die sich ganz dem Studium dieses Buches gewidmet hätten. Wisst Ihr vielleicht auch, wer diese Schwestern waren?«
Nicci nickte langsam. »Nun, Schwester Ulicia zum Beispiel.«
»Na großartig«, murmelte Richard.
Berdine öffnete die Glastür eines der Bücherschränke, zog einen Band aus dem Regal und wandte sich wieder um, um Richard und Nicci den Einband zu zeigen.
Der Titel lautete Yanklees abenteuerliche Geschichten.
»Als ich beim Lesen in Kolos Tagebuch auf die Formulierung ›Dummköpfe aus Yanklees abenteuerlichen Geschicktem stieß, klang das so merkwürdig, dass ich es mir fast zwangsläufig einprägen musste. Wisst Ihr, was ich meine? Dann, eines Tages, ich befand mich gerade in diesem Zimmer und war mit Nachforschungen beschäftigt, sprang mir der Titel ins Auge. Mir war gar nicht klar, dass es, wie Ihr sagtet, ein Buch der Prophezeiungen war, Nicci.«
Nicci zog die Schultern hoch. »Manche Bücher der Prophezeiungen sind nicht gleich als solche zu erkennen - erst recht nicht von jemandem, der nicht in diesen Dingen ausgebildet ist. Dem äußeren Schein nach können wichtige Schriften manchmal einfach nur langweilige Aufzeichnungen oder wie im Fall von › Yanklees abenteuerliche Geschicktem nichts weiter als banaler Unsinn sein.«
Berdine wies zu den Bücherschränken, die die Wände des kleinen Raumes säumten. »Außer, dass sich in diesem Raum schwerlich irgendwelche Banalitäten befinden würden.«
»Gutes Argument«, warf Richard ein.
Berdine lächelte, zufrieden, dass er die Nützlichkeit ihrer Argumentation erkannt hatte. Sie legte das Buch auf den Tisch, der den Mittelpunkt der winzigen Bibliothek einnahm, klappte behutsam den Einband auf und blätterte in den spröden Seiten, bis sie die gewünschte Stelle gefunden hatte. Nacheinander sah sie zu beiden hoch.
»Da Kolo dieses Buch erwähnt hatte, dachte ich, dass ich es lesen sollte. Es war wirklich langweilig, fast wäre ich darüber eingeschlafen. Es schien überhaupt nichts von Bedeutung zu enthalten, bis ich auf das hier stieß.« Sie tippte mit dem Finger auf eine Seite. »Ich war sofort hellwach.«
Richard verdrehte den Kopf, um die Worte über ihrem Finger lesen zu können. Es kostete ihn einige Augenblicke angestrengten Nachdenkens, bis sich ihm die Bedeutung der auf Hoch-D’Haran verfassten Textstelle erschloss. Sich an der Schläfe kratzend, übersetzte er laut.
»›Das Kopieren des Schlüssels, der nie kopiert werden durfte, wird die sich stets einmischenden Dummköpfe mit solcher Nervosität erfüllen, dass sie vor Angst über ihr Tun erzittern werden und den Schatten des Schlüssels zwischen die Gebeine fallen lassen, auf dass nie offenbar werde, dass nur ein einziger Schlüssel jemals korrekt geschnitten wurde.‹«
Richard sträubten sich die Nackenhaare.
Cara verschränkte die Arme vor der Brust. »Mit anderen Worten:
Eurer Meinung nach bekamen sie es, als sie endlich zur Tat schritten und die Kopien anfertigten, mit der Angst und fertigten alle Kopien bis auf eine als billige Fälschungen an?«
Richard war in Gedanken noch immer bei der Formulierung »den Schatten des Schlüssels zwischen die Gebeine fallen lassen ...«. Er sah hoch zu Berdine. »Sie an den zentralen Lagerstätten verstecken. Sie bei den Gebeinen begraben.«
Ein Lächeln spielte über Berdines Lippen. »Es tut so gut, dass Ihr wieder hier seid, Lord Rahl. Ihr und ich, wir sind uns im Denken so ähnlich. Ich habe Euch sehr vermisst. Ich bin auf so viele solcher Dinge gestoßen, die ich mit Euch durchgehen möchte.«
Richard legte ihr behutsam einen Arm um die Schultern, zum Zeichen, dass er ganz ähnlich empfand, auch ohne es ausdrücklich zu sagen.
Berdine blätterte im Buch ein paar Seiten weiter und machte schließlich an einer Stelle Halt, auf der kein Text zu sehen war. »So wie hier, an dieser Stelle, scheinen in einer Reihe von Schriften ganze Textpassagen zu fehlen.«
»Prophezeiungen«, sagte Nicci. »Das ist Teil des Feuerkettenbanns, den die Schwestern der Finsternis bei Richards Gemahlin angewendet haben. Der Bann hat auch die Prophezeiungen gelöscht, die in Zusammenhang mit ihrer Existenz stehen.«
Berdine ließ sich Niccis Bemerkung durch den Kopf gehen. »Das wird alles sicherlich noch erschweren, denn dadurch werden uns eine Menge brauchbarer Hinweise vorenthalten, die von Nutzen sein könnten. Verna meinte auch, dass in den Büchern der Prophezeiung Textpassagen fehlen, wusste aber nicht, warum.«
Nicci ließ den Blick über die Bücherschränke wandern. »Zeigt mir alle Bücher, von denen Ihr sicher wisst, dass darin Teile des Textes fehlen.«
Niccis plötzliches Misstrauen verwunderte Richard.
Berdine öffnete mehrere der Glastüren und zog einige Bände hervor, die sie Nicci einen nach dem anderen reichte. Die überflog kurz die Titel und legte sie dann beiseite, auf den Tisch. »Prophezeiungen«, betonte sie noch einmal, während sie das letzte, das Berdine ihr eben erst gereicht hatte, auf den Stapel warf.
»Worauf wollt Ihr hinaus?«, fragte Richard.
Statt ihm zu antworten, sah sie zu Berdine. »Gibt es noch mehr Schriften, in denen Text fehlt?«
Berdine nickte. »Ja, eine.«
Nach einem kurzen Blick zu Richard schob sie eine Bücherreihe aus dem Weg und zog ganz hinten in einem Schrank ein Paneel zur Seite. Das kleine fehlende Wandstück dahinter gab den Blick auf eine vergoldete Mauernische mit einem kleinen Buch darin frei, das auf einem grünen Samtkissen mit Goldrand ruhte. Der Ledereinband schien einmal rot gewesen zu sein, war jetzt aber so verblichen und abgegriffen, dass die wenigen verblassten Farbstellen seine einstige Pracht nur anzudeuten vermochten. Es war ein zierliches, wunderschönes Buch, das teils wegen seiner geringen Ausmaße, teils wegen der kunstvoll verzierten Lederarbeit bestach.
»Ich habe Lord Rahl - damit meine ich Darken Rahl - früher beim Übersetzen von Büchern auf Hoch-D’Haran geholfen«, erläuterte Berdine. »Dies war einer der Räume, in denen er seine privaten Schriften studierte - daher wusste ich auch, wo der Schlüssel zu finden war und dass dieses kleine Geheimfach hinter dem Bücherschrank existierte. Ich dachte wirklich, es könnte vielleicht von Nutzen sein.«
»Und, war es das?«, fragte Richard.
»Das dachte ich, aber jetzt fürchte ich, dass dem nicht so ist. Auch hier fehlt Text. Nur dass in diesem Buch nicht, wie in den anderen Büchern hier, da und dort bestimmte Passagen oder ganze Abschnitte fehlen, vielmehr steht in diesem Buch kein einziges Wort mehr. Es besteht nur noch aus leeren Seiten.«
Nicci war noch argwöhnischer geworden. »Lasst mal sehen.«
Berdine reichte ihr das kleine Bändchen. »Ich sage es Euch, es ist vollkommen leer. Überzeugt Euch selbst. Es ist vollkommen unbrauchbar.«
Nicci klappte den uralten, abgegriffenen Ledereinband auf und überflog die erste Seite. Dabei glitt ihr Finger wie beim Lesen über das Papier. Sie blätterte weiter und studierte die nächste Seite, dann noch eine und schließlich wiederholte sie die Prozedur.
»Bei den Gütigen Seelen«, hauchte sie, während sie zu lesen schien.
»Was ist denn?«, wollte Richard wissen.
Berdine stellte sich auf die Zehenspitzen und linste über den Rand des Buches. »Gar nichts ist. Seht selbst - die Seiten sind unbeschrieben.«
»Nein, sind sie nicht«, murmelte Nicci beim Lesen. »Dies ist ein Buch der Magie.«
Sie sah auf. »Unbeschrieben scheint es nur für jemanden zu sein, der nicht mit der Gabe gesegnet ist. Und wenn er es wäre, müsste sie im Falle dieses besonderen Werkes recht stark ausgeprägt sein, um es lesen zu können. Es ist ein überaus bedeutsames Werk.«
Berdine kräuselte verständnislos die Nase. »Was?«
»Bücher der Magie sind gefährlich, manche sogar außerordentlich gefährlich; einige wenige aber, so wie dieses, sind noch gefährlicher.« Nicci fuchtelte mit dem Buch vor dem Gesicht der Mord-Sith herum. »Und dieses hier ist weit mehr als nur außerordentlich gefährlich.
Für gewöhnlich werden solche Bücher, als eine Art Schutz, auf irgendeine Art mit Schilden gesichert. Erachtet man sie für ausreichend gefährlich, werden sie zusätzlich mit Bannen gesichert, die den Text so schnell wieder aus dem Gedächtnis einer Person löschen, dass diese sich nicht einmal mehr daran erinnert, ihn gesehen zu haben, was sie wiederum glauben lässt, die Seiten seien unbeschrieben. Eine nicht mit der Gabe gesegnete Person ist schlicht außerstande, die Worte eines Buches der Magie lange genug im Gedächtnis zu speichern. Obwohl man die Worte in diesem Buch sieht, vergisst man so schnell, sie gelesen zu haben, dass einem gar nicht der Gedanke kommt, auf den Seiten könnte etwas stehen - die Worte werden aus dem Gedächtnis getilgt, ehe man sie überhaupt bewusst wahrnimmt. Dieser spezielle Bann liefert teilweise die Grundlage für die Idee des Feuerkettenbanns. Die Zauberer aus alter Zeit - die sich solcher Banne des Öfteren zum Schutz der Schriften, an denen sie gerade arbeiteten, bedienten - begannen sich schließlich zu fragen, ob so etwas nicht auch mit einem Menschen möglich wäre, mit anderen Worten, ihn praktisch ebenso verschwinden zu lassen wie scheinbar den Text in einigen Werken der Magie.«
Sie machte eine unbestimmte Handbewegung, als ihre Aufmerksamkeit wieder mehr und mehr von dem Buch in Anspruch genommen wurde. »Sobald eine Seele im Spiel ist, wird die Sache natürlich komplizierter, als es sich in Worte fassen lässt.«
Richard war schon vor langer Zeit zu der Erkenntnis gelangt, dass er Das Buch der gezählten Schatten nur deshalb hatte auswendig lernen können, weil er die Gabe besaß. Wäre es nicht so gewesen, hatte ihm Zedd damals erklärt, hätte er die Worte gar nicht lange genug in seinem Gedächtnis speichern können, um auch nur eins von ihnen zu behalten.
»Und worum geht es nun in diesem Buch?«, fragte er. Endlich löste Nicci ihren Blick von den Seiten und sah auf. »Wir haben es hier mit einem Buch mit magischen Anleitungen zu tun.«
»Ich weiß, das sagtet Ihr bereits«, erwiderte er geduldig. »Aber Anleitungen wofür?«
Nicci ließ den Blick noch einmal prüfend über die Seite wandern und musste schlucken, ehe sie ihm erneut in die Augen sah. »Meiner Meinung nach handelt es sich um das Originalhandbuch mit den Anleitungen für das Ins-Spiel-Bringen der Kästchen der Ordnung.«
Wieder spürte Richard, wie ihm eine Gänsehaut die Arme und Beine hinaufkroch.
Vorsichtig nahm er das Buch aus Niccis Händen entgegen, und tatsächlich, es war alles andere als unbeschrieben. Jede einzelne Seite war eng mit winzigen handschriftlichen Worten, Diagrammen, Tabellen und Formeln bedeckt.
»Es ist auf Hoch-D’Haran.« Er sah hoch zu Nicci. »Wollt Ihr etwa behaupten, Ihr könnt Hoch-D’Haran lesen?«
»Selbstverständlich.«
Richard und Berdine wechselten einen Blick.
Gleich auf den ersten Blick hatte er erkannt, dass das Buch von äußerster Komplexität war. Er hatte Hoch-D’Haran gelernt, doch im Falle dieses Buches reichte das bestenfalls zu einem notdürftigen Verständnis.
»Die Sprache ist erheblich wissenschaftlicher als das Hoch-D’Haran, das ich zu lesen gewohnt bin«, meinte er, während er die Seiten überflog.
Nicci beugte sich zu ihm und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle auf der Seite, auf die er gerade starrte. »Das hier sind ausschließlich Querverweise zu Formeln, die bei den Beschwörungen benötigt werden. Für ein umfassendes Verständnis ist die Kenntnis dieser Formeln und Banne unerlässlich.«
Richard: »Und, seid Ihr mit ihnen vertraut?«
Sie verzog den Mund, während sie sich mit gerunzelter Stirn über die Seite beugte. »Das weiß ich nicht. Ich müsste mich eingehend damit befassen, um zu wissen, ob ich beim Übersetzen eine Hilfe sein könnte.«
Berdine stellte sich erneut auf die Zehenspitzen und linste in das Buch, so als wollte sie nachsehen, ob sich ihr die Worte jetzt vielleicht offenbarten. »Wieso könnt Ihr das nicht jetzt gleich feststellen? Ich meine, entweder Ihr könnt es lesen und verstehen oder eben nicht.«
Nicci fuhr sich mit den Fingern einer Hand durch ihr blondes Haar und holte tief Luft. »Mit Büchern der Magie ist das nicht ganz so einfach. Es ist ein bisschen so wie beim Lösen komplizierter mathematischer Gleichungen. Unter Umständen kennt man die Zahlen und glaubt zunächst zu wissen, worum es geht und dass man die Gleichungen auflösen kann, wenn man dann aber auf in der Gleichung verborgene unbekannte Symbole stößt - Symbole, die sich auf unbekannte Dinge beziehen -, wird die ganze Gleichung mehr oder weniger unlösbar. Es genügt eben nicht, nur ein paar Zahlen zu kennen. Man muss die Bedeutung jedes einzelnen Elements genau kennen oder zumindest wissen, wie man die dadurch ausgedrückten Mengen oder Werte erschließen kann.
Im Großen und Ganzen verhält es sich hier ebenso, obwohl ich es vereinfacht habe, damit Ihr versteht, was ich meine. Wir haben es hier nicht nur mit Symbolen zu tun, sondern mit längst nicht mehr gebräuchlichen Querverweisen auf Banne, was das Verständnis zusätzlich erschwert. Dass es auf Hoch-D’Haran ist, macht die Sache noch komplizierter, da die Worte und ihre Bedeutungen in dieser Sprache sich mit der Zeit gewandelt haben. Hinzu kommt, dass der Text in einer veralteten Geheimsprache abgefasst ist.«
Richard fasste sie am Arm, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Das ist wichtig, Nicci. Meint Ihr, Ihr könnt es schaffen?«
Zögernd schaute sie auf das Buch. »Es wird einige Zeit dauern, bis ich mit meiner Übersetzung so weit bin, dass ich dir sagen kann, ob ich eine Chance habe, mit Erfolg daran zu arbeiten.«
Richard nahm ihr das schmale Bändchen aus der Hand, klappte es zu und gab es ihr zurück. »Dann solltet Ihr es besser mitnehmen. Sobald wir mehr Zeit haben, könnt Ihr Euch damit beschäftigen und sehen, ob Ihr es versteht.«
Argwöhnisch runzelte sie die Stirn. »Warum? Was hast du vor?«
»Begreift Ihr nicht, Nicci? Das könnte die Lösung sein, nach der wir suchen. Wenn es Euch gelingt, es zu übersetzen und zu verstehen, was darin steht, könnte das hier drin enthaltene Wissen uns eine Möglichkeit an die Hand geben, dem entgegenzuwirken, was immer Schwester Ulicia getan hat, es ins Gegenteil zu kehren oder aufzuheben. Wir könnten womöglich die Kästchen der Ordnung aus dem Spiel nehmen.«
Sachte strich Nicci mit dem Daumen über den Einband des schmalen Buches. »Das mag ganz logisch klingen, Richard, aber zu wissen, wie etwas getan wird, bedeutet noch lange nicht, dass man es auch ungeschehen machen kann.«
»So als würde man versuchen, die eigene Schwangerschaft rückgängig zu machen?«, fragte Cara.
Nicci konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Ja, so in etwa.«
Caras überraschender Vergleich ließ ihn schlagartig wieder an Kahlan denken und an die Zeit, als sie schwanger war. Damals hatte ihr eine Gruppe brutaler Schläger aufgelauert und sie fast totgeprügelt. Sie hatte sein Kind verloren; ihre Schwangerschaft war zu Ende gewesen, ehe er überhaupt davon erfahren hatte. Bei der Erinnerung an das Bild der schwer verletzten Kahlan hätten ihm fast die Knie nachgegeben. Er hatte große Mühe, den scheußlichen Gedanken wieder in das Dunkel zurückzuverbannen, aus dem er so unvermittelt aufgetaucht war.
Ein sorgenvolles Zucken ging über Niccis Stirn, offenbar weil sie ihm seine inneren Qualen am Gesicht angesehen hatte, er ignorierte es jedoch und sagte: »Ich muss Euch hoffentlich nicht daran erinnern, wie wichtig das ist.«
Einen Moment lang fixierte sie ihn mit ihrem Blick, als wollte sie ihm sagen, dass das unmöglich sei, sie ihm aber seine Bitte auf keinen Fall abschlagen wolle. Schließlich presste sie entschlossen ihre Lippen aufeinander und nickte.
»Ich werde mein Bestes tun, Richard.«
Dann hellte sich ihre Miene plötzlich auf. Sie schlug das Buch ganz am Ende auf und blätterte hastig das letzte Blatt zurück. Einen Augenblick lang stand sie gedankenversunken da, den Blick nachdenklich auf die letzte Seite gerichtet.
»Das ist interessant«, murmelte sie.
»Was denn?«, fragte Richard.
Sie sah von dem Text auf, den sie gerade las. »Mitunter wird am Ende eines Buches der Magie der letzte, unbedingt erforderliche Schritt weggelassen, sozusagen als Vorsichtsmaßnahme gegen unbefugten Gebrauch. Wäre das hier der Fall, ließe sich die Abfolge der speziellen erforderlichen Handlungen womöglich noch unterbrechen, selbst wenn die Kästchen bereits im Spiel wären. Verstehst du, was ich meine? Magische Schriften werden, sofern sie gefährlich genug sind, manchmal absichtlich unvollständig gelassen, sodass noch eine zusätzliche Ergänzung erforderlich ist.«
»Was zum Beispiel?«
»Keine Ahnung. Das versuche ich ja gerade herauszufinden.« Sie hob einen Finger. »Lass mich eben noch ein wenig an dieser Stelle hier weiterlesen ...«
Augenblicke darauf blickte sie auf und tippte mit dem Finger auf die Seite. »Ja, ich hatte recht. Es gibt hier einen Hinweis, demzufolge für den Gebrauch des Buches unbedingt der Schlüssel benutzt werden muss. Ohne diesen Schlüssel wird alles bis dahin Erwirkte nicht nur unnütz sein, sondern fatale Auswirkungen haben. Hier steht ausdrücklich, dass jeder mit diesem Buch eingeleitete Vorgang innerhalb eines Jahres mithilfe des Schlüssels zum Abschluss gebracht werden muss.«
»Mithilfe des Schlüssels«, echote Richard mit ausdrucksloser Stimme.
Er sah zu Berdine.
»›Und sie werden zittern vor Angst über ihr Tun und den Schatten des Schlüssels zwischen die Gebeine fallen lassen‹«, zitierte sie aus Yanklees abenteuerliche Erzählungen. »Meint Ihr, das könnte vielleicht der Schlüssel sein, von dem in diesem Text die Rede ist?«
In den dunklen Randzonen seines Unterbewusstseins regte sich etwas. Dann auf einmal zündete der Funke der Erkenntnis, und Richard begriff.
Blitzartig überlief es ihn eiskalt am ganzen Körper, und aus seinen Armen und Beinen wich jegliches Gefühl.
»Bei den Gütigen Seelen ...«, murmelte er leise.
Nicci sah ihn stirnrunzelnd an. »Was ist denn, Richard? Du bist ja kreidebleich geworden.«
Er hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich hörte er sich sagen: »Ich muss sofort zurück zu Zedd.«
Nicci legte ihm ihre Hand auf den Arm. »Was ist denn los?«
»Ich denke, ich weiß, was der Schlüssel ist.«
Auf einmal raste sein Herz, und er fing an zu keuchen. Alles, was er stets als sicher vorausgesetzt hatte, wurde auf den Kopf gestellt und die einzelnen Teile auseinandergerissen. Es war, als bekäme er keine Luft mehr.
Und sie werden zittern vor Angst über ihr Tun und den Schatten des Schlüssels zwischen die Gebeine fallen lassen.
»Ja, und was glaubst du nun, ist...«
»Das erkläre ich Euch, sobald wir dort sind. Wir müssen los - auf der Stelle.«
Besorgt ließ Nicci das Buch in eine Tasche des schwarzen Rocks ihres Kleides gleiten. »Ich werde mein Bestes tun, Richard. Ich werde dieses Rätsel lösen - versprochen.«
Er nickte geistesabwesend, während sich die Gedanken in seinem Kopf bei dem Versuch, die einzelnen Teile zu einem Ganzen zu fügen, überschlugen, und als er sich schließlich zu bewegen begann, war es, als beobachtete er sich selbst dabei.
Er fasste Berdine am Arm. »Baraccus hatte ein geheimes Versteck, eine Bibliothek. Ihr müsst für mich herausfinden, wo es sich befand.«
Berdine quittierte seine eindringliche Bitte mit einem Nicken. »Geht in Ordnung, Lord Rahl. Ich werde sehen, was ich in Erfahrung bringen kann. Ich werde mein Bestes tun.«
Sie sah auf die weiß hervortretenden Knöchel seiner Hand, die ihren Arm gepackt hielt, bis er schließlich merkte, dass er ihr vermutlich wehtat und sie losließ.
»Danke, Berdine. Ich weiß, ich kann mich auf Euch verlassen.« Die anderen starrten ihn an. »Ich muss sofort zurück zu Zedd. Ich muss ihn so schnell wie möglich sprechen. Ich muss wissen, wo er es gefunden hat.«
»Gefunden, was denn?« Die Hand auf seine Brust gepresst, hielt Nicci ihn zurück, ehe er durch die Tür schlüpfen konnte. »Was ist denn nur so wichtig, Richard, dass ...«
»Hört zu, ich werde alles erklären, sobald wir wieder dort sind«, fiel er ihr ins Wort. »Aber jetzt muss ich erst einmal nachdenken.«
Nicci und Cara wechselten einen besorgten Blick. »Also gut, Richard. Aber beruhige dich. Wir werden schon früh genug wieder in der Burg der Zauberer sein.«
Er krallte eine Hand in Caras roten Lederanzug und bugsierte sie vor sich durch die Tür. »Bringt uns zurück zur Sliph - auf dem schnellsten Weg.«
Cara, jetzt ganz geschäftsmäßig, ließ ihren Strafer in die Hand schnellen. »Gut, dann kommt.«
Ohne in seiner Bewegung innezuhalten, wandte er sich um zu Berdine. »Ihr müsst für mich unbedingt alles über diesen Baraccus in Erfahrung bringen, wirklich alles!«
Berdine eilte ihm hinterher, dicht gefolgt von Nicci. »Werde ich, Lord Rahl.«
Er zeigte mit dem Finger auf sie. »Verna wird in Kürze hierher zurückkehren. Richtet ihr aus, ich hätte gesagt, dass sie Euch unbedingt helfen soll. Lasst Euch auch von den Schwestern helfen. Wenn es sein muss, geht jede Schrift in der gesamten Bibliothek durch, aber findet alles über diesen Baraccus heraus - wo er geboren wurde, wo er aufwuchs, was er mochte und was nicht. Er war damals Oberster Zauberer, es sollte also einiges über ihn aufzutreiben sein. Ich will wissen, wer ihm die Haare schnitt, wer seine Kleidung nähte, was seine Lieblingsfarbe war. Alles, ganz gleich wie banal es Euch erscheinen mag. Und wo Ihr schon dabei seid, seht zu, ob Ihr noch irgendwas über die Umtriebe dieser Dummköpfe aus Yanklees abenteuerliche Erzählungen in Erfahrung bringen könnt.«
»Seid unbesorgt, Lord Rahl, wenn es Informationen über sie gibt, werde ich sie mir beschaffen. Ich werde all das herausfinden und Euch dann bei Eurer Rückkehr Bericht erstatten.«
Er ergriff Niccis Hand, um sicherzugehen, dass sie nicht zurückblieb, dann wandte er sich an Cara. »So beeilt Euch doch.«
Berdine, den Strafer in der Hand, eilte ihnen hinterher und sicherte nach hinten ab. Die aufblitzenden Reflexionen auf den polierten Rüstungen und Waffen, das leise Klirren der Ausrüstung, als die Soldaten die Verfolgung aufnahmen, als wäre der Hüter höchstselbst hinter Lord Rahl her, all das bekam Richard nur am Rande mit. Während seine Gedanken ebenso schnell rasten wie seine Füße, gelangte er zu dem Schluss, dass er sich am besten zuerst noch einmal nach Caska begab.
Doch dann - je länger er über die Idee nachdachte und sich die Einzelteile des Rätsels wieder zu einem Ganzen zu fügen begannen besann er sich anders. Mithilfe der Sliph würde er von der Burg der Zauberer aus im Handumdrehen nach Caska reisen können, zudem war der Besuch bei Zedd viel dringender.
Noch während sie durch das Labyrinth aus Hallen, Zimmern und Korridoren hasteten, vernahm Richard von fern das Schlagen der Glocke, das die Menschen zur Andacht für den Lord Rahl rief, und er fragte sich, ob sie alle schon bald vor dem Hüter der Unterwelt niederknien und ihre Andacht an ihn richten würden.