»Nicci«, sagte Zedd zögerlich und fuchtelte vage herum auf der Suche nach Worten, »Ihr seid ... also, Ihr schätzt Richard genauso sehr wie ich und fühlt die gleiche Hingabe und Treue zu ihm. In vielerlei Hinsicht scheint Ihr fast wie ...« Er nahm die Hände hoch und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß auch nicht.«
»Zedd, Ihr, Cara, ich - wir alle lieben Richard, wenn Ihr das sagen wollt.«
»Ich glaube, darum geht es. Ich kann mich nicht an Kahlan erinnern, aber ich stelle mir vor, ich muss von Euch so denken, wie ich mir nur vorstellen kann, von ihr gedacht zu haben, also dass Ihr mehr seid als nur eine Vertraute, die im gleichen Kampf Seite an Seite mit ihm steht.«
Nicci fühlte sich, als hätte sie der Blitz getroffen. Sie wagte nicht einmal über den emotionalen Sprengstoff dieser Worte nachzudenken. Mit großer Mühe bewahrte sie die Fassung, legte nur die Stirn in Falten und fragte schließlich: »Worauf wollt Ihr hinaus?«
»Wie Cara und Richard halte ich sehr viel von Euch, insbesondere im Vergleich zu dem, was ich am Anfang über Euch dachte. Ich vertraue Euch, sagen wir einmal, wie ich einer Schwiegertochter vertrauen würde.«
Nicci schluckte. »Danke, Zedd. Angesichts meiner Herkunft und angesichts dessen, was ich selbst am Anfang dachte, bedeutet mir das mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt. Menschen zu haben ...«
Sie räusperte sich und schaute schließlich auf. Obwohl seine Worte sie getroffen hatten, sah sie darin nicht die eigentliche Bedeutung, sondern eher die Vorrede zu etwas Wichtigerem. »Wollt Ihr mir etwas mitteilen?«
Er nickte. »Ich habe noch etwas erfahren. Etwas ziemlich Beunruhigendes. Ich würde sonst niemandem davon erzählen, aber, also, außer Richard selbst gibt es keinen, dem ich mehr vertrauen würde als Euch und Cara. Ihr beide seid im Laufe der Zeit zu mehr als Freunden geworden. Ich möchte nur einfach zum Ausdruck bringen, wie viel...«
Sein Satz verhallte unbeendet, und er starrte ins Leere. Nicci legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Wir bekommen ihn zurück, Zedd, das verspreche ich Euch. Aber Ihr habt recht, was unsere Gefühle für ihn angeht. Richard hat mein Leben vollständig auf den Kopf gestellt. Wenn es etwas gibt, über das Ihr reden wollt, würde ich meinen, Ihr könnt Cara und mir fast so sehr vertrauen wie Richard. Wollt Ihr darauf hinaus? Wir empfinden das Gleiche für ihn und unsere Sache. Ich ... nun« - sie legte die Fingerspitzen aneinander -, »Ihr wisst, was ich meine.«
Nicci spürte, wie sie errötete, weil sie befürchtete, zu viel preisgegeben zu haben.
»Was ich versuche zu sagen«, fuhr Zedd schließlich fort, »ist Folgendes: Ich brauche eure Hilfe, und ich wollte euch sagen, wie viel ihr beide mir bedeutet - denn diese Dinge enthülle ich euch nicht leichtfertig oder aus einer Laune heraus. Mein ganzes Leben lang habe ich Geheimnisse gewahrt, einfach, weil sie gewahrt werden mussten. Das ist nicht sehr einfach, aber so ist es nun einmal. Die Zeiten haben sich jedoch geändert, und jetzt kann ich bestimmtes Wissen nicht mehr für mich behalten. Es steht so viel auf dem Spiel, mehr als jemals zuvor.«
Nicci nickte und wandte dem Zauberer ihre volle Aufmerksamkeit zu. »Ich verstehe. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Euer Vertrauen in mich nicht zu enttäuschen.«
Zedd schürzte die Lippen. »Dieses Buch, Das Buch der Umkehrungen und Dopplungen, war an einem Ort versteckt, von dessen Existenz außer mir niemand weiß. Es befand sich in den Katakomben unter der Burg.«
Nicci blickte Cara an. »Zedd«, fragte sie, »wollt Ihr sagen, unter der Burg gebe es Gebeine? Und zudem Bücher?«
Zedd nickte. »Eine Menge Bücher. Dort habe ich Das Buch der Umkehrungen und Dopplungen gefunden.«
Er trat ein paar Schritte zur Seite und starrte zu den Fenstern, in denen das Licht des Sturms jenseits des Eindämmungsfeldes flackerte. »Niemand, den ich kenne, wusste je von dem Ort der Gebeine dort unten. Ich habe ihn als Junge gefunden. Seit Urzeiten war dort keiner mehr gewesen. Im Staub Tausender von Jahren ließ sich nicht ein einziger Fußabdruck entdecken. Ich war der Erste, der seine Spuren in diesem uralten Staub hinterließ. Die Bedeutung dieser Tatsache brauchte man mir nicht erst erklären. Als Junge machten mir diese Katakomben eher Angst. Ich war aufgeregt, weil ich einen Weg zurück in die Burg suchte. Als ich die Katakomben entdeckte, war mir instinktiv klar, dass sie nicht ohne guten Grund verborgen worden waren, und so sehr ich manchmal in Versuchung geriet, habe ich doch nie mit jemandem darüber gesprochen. Es fühlte sich fast an, als hätte mir der Ort Zutritt gewährt, aber nur im Tausch gegen mein Schweigen. Ich habe nicht nur meine Verantwortung ernst genommen, ich fühlte mich für den Schutz dieses unentdeckten Ortes zuständig. Immerhin wurden dort die Überreste vieler Menschen aufbewahrt, vielleicht sogar meiner eigenen Vorfahren. Ich wusste, irgendwer würde diesen Fund für seine Zwecke ausnutzen, und das wollte ich nicht, denn diejenigen, die ihn verborgen hatten, betrachteten ihn offensichtlich als eine Art geweihten Ort.
Zusätzlich fühlte ich mich schuldig, weil ich den Frieden dieser Grabstätte gestört hatte, denn ursprünglich hatte ich nur einen Weg gesucht, der Strafe zu entgehen, die mir blühte, weil ich die Burg ohne Erlaubnis verlassen hatte. Ich war aus der Burg geschlichen, wollte zum Markt in Aydindril und mir den aufregenden Tand anschauen, der dort verhökert wurde. Das erschien mir so viel faszinierender als die langweiligen Studien, mit denen ich meine Zeit verbringen sollte.
Nach meiner zufälligen Entdeckung stellte ich vorsichtig Fragen und fand heraus, dass nicht einmal die alten Zauberer von diesem Ort unter der Burg wussten. Im Laufe der Zeit wurde mir klar, diese Katakomben wurden nicht einmal dort unten vermutet. Als Junge musste ich viel studieren, was fast meine ganze Zeit auffraß. Damals lebten noch viele Menschen in der Burg, und bei der Fülle meiner Aufgaben hatte ich kaum Gelegenheit, dort unten mehr als ein paar Stunden - insgesamt - zu verbringen. Rasch fand ich heraus, dass es in den Katakomben viele der gleichen Bücher wie oben gab, daher hielt ich die Entdeckung für nicht sehr wichtig.«
Er lächelte versonnen. »Ich betrachtete mich als großen Entdecker, der uralte Schätze gefunden hatte. Diese Schätze bestanden jedoch überwiegend aus Gebeinen und Büchern. Schon hier oben in der Burg gab es endlos viele langweilige Bücher, die ich lesen musste, und noch mehr Bücher ließen mich eher kalt. Aufregend war hingegen die Vorstellung, auf einen entworfenen Bann, der in Bernstein gefangen ist, oder in Juwelen gefasste Flüche zu stoßen. Danach suchte ich allerdings in den Katakomben vergeblich. Ich fand eben nur Knochen und alte Bücher.
Dort unten gibt es Räume über Räume, die mit verstaubten Bücher vollgestopft sind. Ich hatte nie genug Zeit, diese Räume zu erkunden. So kann ich nicht einmal abschätzen, wie viele Bücher dort verborgen sind. Ich habe lediglich eine kleine Auswahl angesehen. Wie ich bereits erwähnte, kannte ich manche schon aus der Burg, und von den anderen haben mich damals wenige besonders beeindruckt, außer einigen wie eben Das Buch der Umkehrungen und Dopplungen.
Ich wurde erwachsen und verliebte mich in die wunderbarste Frau der Welt, mit der ich bald verheiratet war. Sie schenkte mir einen ganz anderen Schatz, eine Tochter - Richards Mutter. Für einen jungen Zauberer gab es in der Burg stets mehr zu tun, als man in den Stunden eines Tages erledigen konnte. Ich hatte keine Zeit übrig, die ich zwischen den alten Knochen hätte verbringen können. Und dann kam es zu diesem fürchterlichen Krieg mit D’Hara. Es folgte eine Zeit erbitterter Kämpfe. Ich war Oberster Zauberer geworden. Die Schlachten waren schauerlich. Ich musste Männer in den Tod schicken. Ich musste jungen und alten Zauberern in die Augen sehen, von denen ich wusste, dass sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren, ihnen sagen, dass sie ihr Bestes geben sollten, obwohl ich wusste, es würde nicht genügen und sie würden aller Wahrscheinlichkeit nach den Tod finden. Ich selbst, so wusste ich im tiefsten Herzen, hätte diese Aufgaben wohl bewältigt, aber es gab zu viel zu tun, und ich war nun einmal nur einer.
Nicht selten empfand ich meine Verantwortung, mein Wissen und Talent als Fluch. All den unschuldigen Menschen, die mich Oberster Zauberer nannten, ins Gesicht zu schauen, in der Gewissheit, mein Scheitern würde ihren Tod bedeuten, war mehr, als ich ertragen konnte.
In dieser Hinsicht weiß ich genau, was Richard durchmacht. Früher habe ich seine Stelle eingenommen. Ich habe die Welt auf meinen Schultern getragen.«
Mit einer Handbewegung beendete er seine melancholische Abschweifung vom Thema. »Jedenfalls gerieten die Katakomben wegen meiner anderen Verpflichtungen wieder in Vergessenheit, wie schon seit Tausenden von Jahren, ehe ich auf sie gestoßen war. Ich hatte einfach keine Zeit, mich dort unten umzuschauen. Nach meinen Erkundungen als Junge glaubte ich, es gebe sowieso nur alte und vergleichsweise unwichtige Bücher, die zusammen mit Gebeinen vergraben waren. Stattdessen hatte ich mich um dringlichere Angelegenheiten zu kümmern, bei denen es um Tod und Leben ging. Für mich war vor allem der geheime Eingang durch die Katakomben zur Burg wichtig. Dieser Gang hatte seinen unschätzbaren Wert gezeigt, als die Schwestern der Finsternis die Burg der Zauberer eingenommen hatten.
Damals, ich war noch jünger, und der Krieg, dem auch meine Frau zum Opfer gefallen war, hatte gerade erst sein Ende gefunden, hatten der Rat und ich einen heftigen Streit wegen der Kästchen der Ordnung. Und dann ... vergewaltigte Darken Rahl meine Tochter. Ich verließ die Midlands für alle Zeiten und brachte meine Tochter über die Grenze nach Westland. Sie war alles, was ich noch hatte und was mir etwas bedeutete. Ich glaubte, den Rest meiner Tage jenseits der Grenze im Westland zu verbringen.
Richard wurde geboren. Ich sah ihm beim Aufwachsen zu. Meine Tochter war so stolz auf ihn. Insgeheim war ich besorgt, er könnte die Gabe haben, und fürchtete, die Mächte von jenseits der Grenze könnten eines Tages kommen und nach ihm suchen. Und dann gab es ein Feuer wie aus heiterem Himmel, und schon hatte ich meine Tochter und Richard seine Mutter verloren.
Ich tröstete mich mit Richard. Ihm gab ich alles, was ich konnte, damit er sich zu dem entfaltete, was in ihm steckte. Mit ihm habe ich die schönste Zeit meines Lebens verbracht.
Von mir unbemerkt, da ich die Außenwelt nach Kräften zu vergessen suchte, hatten Ann und Nathan, von Prophezeiungen getrieben, George Cypher geholfen, Das Buch der gezählten Schatten aus der Burg der Zauberer zu bergen. Es befand sich in der privaten Enklave des Obersten Zauberers, wo ich es sicher verstaut hatte.«
»Augenblick«, unterbrach ihn Nicci. »Wollt Ihr damit sagen, Das Buch der gezählten Schatten, eines der wichtigsten Bücher überhaupt, lag einfach in der Burg herum?«
»Nun«, antwortete Zedd, »›herumliegen‹ ist wohl nicht der treffende Ausdruck. Wie ich schon sagte, es befand sich in der Enklave des Obersten Zauberers. Dieser Ort ist noch sicherer als die übrige Burg, und man kann dort nicht so ohne weiteres eindringen.«
»Wenn der Ort so sicher ist«, sagte Nicci, »wie haben Ann und Nathan sich das Buch dann mit George Cypher holen können?«
Zedd seufzte und blickte sie unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an. »Das hat mir auch Sorgen bereitet ... die einzige Abschrift eines Buches von solcher Bedeutung, und so ungeschützt...«
»Das wollte Richard Euch sagen«, meinte Nicci, die plötzlich begriff. »Deshalb hatte er es so eilig, hierher zurückzukommen. Er hat gesagt, er müsse sofort zu Euch. Ja, das war der Grund!«
Zedd runzelte die Stirn. »Wovon sprecht Ihr?«
Sie trat näher an den Zauberer heran und zog das kleine Buch aus ihrer Tasche. »Dies ist das Buch, mit dem Darken Rahl die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht hat...«
»Was?«
»Mit diesem Buch hat Darken Rahl die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht«, wiederholte sie für den verblüfften Zauberer. »Wir haben es im Palast des Volkes gefunden. Ich versprach Richard, es zu studieren und danach zu forschen, ob es eine Möglichkeit gibt, ungeschehen zu machen, was Schwester Ulicia getan hat, und ob man die Kästchen der Ordnung vielleicht wieder aus dem Spiel nehmen könne. Ich habe versucht, Richard zu erklären, dass Magie auf diese Weise nicht funktioniert, aber Ihr kennt Richard, er findet sich nicht so leicht damit ab, dass etwas nicht möglich ist.«
Zedd starrte das Buch an, das sie in die Höhe hielt, als wäre es eine Schlange, die beißen könnte. »Also dieser Junge braucht wirklich nur einen Stein umzudrehen, und schon stößt er auf Schwierigkeiten.«
»Zedd, hier steht eine Warnung: Um dieses Buch zu benutzen, müsse man den Schlüssel verwenden. Ohne den Schlüssel wird sonst alles, was vorher kam - also was von dem Buch schon benutzt wurde nicht nur unbrauchbar, sondern sogar tödlich sein. Es heißt, binnen eines Jahres müsse der Schlüssel benutzt werden, um zu vollenden, was mit diesem Buch gewirkt wurde.«
»Der Schlüssel«, flüsterte Zedd, als würde er das Ende der Welt bedeuten. »Die Kästchen müssen innerhalb eines Jahres geöffnet werden, nachdem sie ins Spiel gebracht wurden. Man braucht Das Buch der gezählten Schatten, um die Kästchen zu öffnen. Demnach muss das Buch der Schlüssel sein.«
»Ich glaube auch«, sagte Nicci. »Allerdings sind wir auf Hinweise gestoßen, dass zur Zeit des großen Krieges einige Zauberer insgesamt fünf Abschriften von dem ›Buch, das nie kopiert werden darf‹, angefertigt haben.«
»Und Ihr denkt, ›das Buch, das nie kopiert werden darf‹ sei Das Buch der gezählten Schatten!«
»Ja. Es gibt ein Buch mit Prophezeiungen, in dem steht: ›... und sie werden zittern vor Angst über ihr Tun und den Schatten des Schlüssels zwischen die Gebeine fallen lassen‹.«
Zedd starrte sie an. »Bei den Gütigen Seelen. Das klingt wie aus Yanklees abenteuerliche Erzählungen.«
»Stimmt. Allerdings«, fuhr Nicci fort, »waren alle Abschriften außer einer unkorrekt. Fünf Kopien - vier fehlerhaft, eine richtig.«
Zedd presste eine Hand gegen die Stirn. Nicci bemerkte, dass er schneller atmete als gewöhnlich. Wie er aussah, würde er im nächsten Moment in Ohnmacht fallen.
»Zedd, was ist los?«
Seine Hände zitterten. »Ihr habt eben gesagt, Das Buch der gezählten Schatten sei leicht zu stehlen gewesen. Das habe ich auch immer gedacht, jedoch habe ich mich nie weiter damit beschäftigt. Es war eher einer dieser Gedanken, die man im Hinterkopf hat und die nie wirklich bis ins Bewusstsein vordringen.«
»Ja«, sagte Nicci ungeduldig.
»Nun, als ich mich an Das Buch der Umkehrungen und Dopplungen erinnerte, fiel mir ein, wo ich es als Junge gesehen habe: in den Katakomben. Ich musste diesen Bann prüfen, und während Ihr mit Richard im Palast des Volkes wart, ging ich in die Katakomben und suchte danach.«
Nicci wusste bereits, was er sagen würde, ehe er es heraus hatte.
»Und während meiner Suche nach Das Buch der Umkehrungen und Dopplungen fand ich eine Abschrift von Das Buch der gezählten Schatten.«
»›... und sie werden zittern vor Angst über ihr Tun und den Schatten des Schlüssels zwischen die Gebeine fallen lassen‹«, zitierte Nicci erneut.
Zedd nickte. »Mein Leben lang habe ich nichts von einer Kopie dieses Buches gewusst. Mir wurde beigebracht, es gäbe keine, sondern nur das eine Exemplar. Das allein hat mir verdeutlicht, von welcher Bedeutung dieses Buch ist. Aber wenn es so bedeutsam ist, warum wurde es nicht an einem Ort verborgen, der mehr Sicherheit bietet? Diese Frage hat mich im Hinterkopf stets beschäftigt. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich so wütend auf den Rat war, der die Kästchen der Ordnung als Geschenke oder Gunstbeweise aus der Hand gab. Ich wusste, wie gefährlich diese Kästchen waren, aber niemand wollte mir glauben. Alle dachten, ich würde ihnen nur uralten Aberglauben oder Ammenmärchen auftischen.
Man wollte mir unter anderem deshalb nicht glauben, welche Gefahr die Kästchen darstellten, weil das Buch, das man braucht, um die Kästchen ins Spiel zu bringen, niemals gefunden wurde. Ohne das Buch war alles nur eine fantasiereiche Geschichte.« Er zeigte auf das Buch in Niccis Hand. »Niemand kannte auch nur den Titel des Buches. Es sieht mir aus wie Hoch-D’Haran. Wir müssen jemanden finden, der es übersetzt.«
»Ich verstehe Hoch-D’Haran.«
»Natürlich«, sagte Zedd, als könne ihn gar nichts mehr überraschen.
»Wie lautet der Titel?«
»Das Buch des Lebens.«
Zedd wurde beinahe so bleich wie sein wallendes Haar. Offensichtlich konnte man ihn immer noch schockieren. »Das Buch des Lebens«, wiederholte er und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht.
»Was für ein passender Name«, sagte er. »Die Macht der Ordnung wird aus dem Leben selbst hervorgebracht. Öffnet man das richtige Kästchen, erwirbt man die Macht der Ordnung, die Essenz des Lebens, Macht über alles Lebende und Tote. Man würde über unangefochtene Macht verfügen. Öffnet man das falsche Kästchen, beansprucht die Magie denjenigen für sich - er ist tot. Aber öffnet man das andere falsche Kästchen, verbrennt jedes Lebewesen zu nichts. Es wäre das Ende allen Lebens.
Die Magie der Ordnung ist ein Zwilling der Magie des Lebens, und der Tod gehört zum Leben, daher ist die Magie der Ordnung sowohl mit dem Tod als auch mit dem Leben verbunden. Und der Schlüssel ist das Mittel, mit dem man herausfindet, welches Kästchen welches ist. Die Person, die sie öffnet, kann sich auf ihr Glück verlassen, aber sie wäre wahnsinnig, das zu tun, ohne den Schlüssel zu benutzen und sicherzugehen, welches Kästchen welches ist.«
»Wahnsinnig«, sagte Nicci, »wie die Schwestern der Finsternis, die sich nicht unbedingt darum scheren, ob sie das falsche Kästchen öffnen.«
Zedd konnte sie nur anstarren.
»So, Ihr habt gesagt, Ihr hättet eine der Kopien gefunden«, sagte Cara schließlich, nachdem Zedd eine Weile gedankenverloren geschwiegen hatte. Nicci war erleichtert, dass Cara ihn darauf ansprach.
»Ich fürchte, das ist noch nicht einmal das Schlimmste«, sagte er.
»Versteht ihr, Richard hat Das Buch der gezählten Schatten als Junge auswendig gelernt. George Cypher hatte Angst, es könnte in die falschen Hände gelangen, dennoch war er weise genug, das Wissen, das in dem Buch enthalten ist, nicht zu vernichten. Deshalb musste Richard es auswendig lernen. Danach haben Richard und George Cypher, bei dem Richard aufwuchs und den er damals für seinen Vater hielt, Das Buch der gezählten Schatten verbrannt. Tatsache ist, ich war dabei. Ich kann mich so gut daran erinnern, weil ich so schockiert war, und zwar aus zwei Gründen. Zum Ersten erfuhr ich, dass man das Buch aus meiner Enklave in der Burg gestohlen hatte, damit Richard es auswendig lernte, und zum Zweiten, weil es ein Buch der Magie war, und demnach konnte Richard es nur auswendig lernen und rezitieren, wenn er über die Gabe verfügte.
Als Darken Rahl Richard gefangen nahm und die Kästchen öffnete, brachte er Richard dazu, die Anweisungen aus Das Buch der gezählten Schatten vorzulesen. Ich weiß nicht, wie - vermutlich war es ein Resultat des Feuerkettenbanns.
Schließlich fand ich die Kopie von Das Buch der gezählten Schatten unten in den Katakomben, und ich war wie vom Donner gerührt. Ich las es, und es stimmte Wort für Wort mit dem überein, was Richard gelernt hatte.«
Nicci legte den Kopf schief. »Es war das Gleiche? Ganz bestimmt?«
»Auf jeden Fall«, beharrte Zedd entschieden. »Die zwei Bücher waren identisch.«
Nun wurde auch Nicci langsam übel. »Das kann nur zweierlei bedeuten. Entweder war das eine das Original und das andere die korrekte Kopie des Schlüssels ... oder es waren beides falsche Schlüssel, fehlerhafte Kopien.«
»Nein, sie können nicht fehlerhaft gewesen sein«, meinte Zedd. »Als Richard das Buch bis zum Schluss gelesen hatte, ließ er ganz am Ende ein wichtiges Element aus. Durch das Auslassen dieses einen Teils des Buches besiegte er Darken Rahl. Er hat es eigentlich selbst in eine fehlerhafte Kopie verwandelt und Darken Rahl überlistet. Wie ich Richard so oft eingebläut habe, ist eine List oft die beste Magie.«
Nicci legte das Buch auf den Tisch. »Deshalb muss es sich nicht notwendigerweise um den richtigen, nicht den falschen Schlüssel handeln. Seht Euch dies an.« Sie schlug Das Buch des Lebens auf und tippte auf eine Seite am Anfang, auf der nur eine Sache stand, was darauf hindeutete, wie wichtig und von zentraler Bedeutung diese Stelle war.
»Es ist die Einleitung zu Das Buch des Lehens. Ich habe es schon übersetzt. Es handelt sich um eine Warnung an alle, die dieses Buch lesen.
Dort steht: › Wer hergekommen ist, um zu hassen, sollte nun gehen, denn in seinem Hass verrät er nur sich selbst. ‹«
Zedd betrachtete die Worte in Hoch-D’Haran blinzelnd. »Ihr wollt damit also sagen ... Weil Darken Rahl die Kästchen der Ordnung aus Hass benutzt hat, hätten sie ihn so oder so vernichtet, gleichgültig, ob er nun ein richtiges oder ein falsches Buch der gezählten Schatten hatte?«
»Das wäre die eine Möglichkeit«, sagte Nicci.
Zedd schüttelte den Kopf. »Ich glaube das nicht. Manche Magie kann durchaus Absichten erkennen. Das Schwert der Wahrheit zum Beispiel. Menschen voller Hass bemerken ihren eigenen scheußlichen Makel oft gar nicht. Sie versprühen ihren Hass, als wäre er gerechtfertigt. Diese Verderbtheit macht sie so bösartig - und gefährlich. Sie sind zu den verabscheuungswürdigsten Taten fähig und halten sich selbst dabei für Helden.«
»Dann wollt Ihr mir also sagen, dass Ihr glaubt, es handele sich um Zufall, dass beide Bücher die beiden wahren Schlüssel waren? Und sie zufällig so nah beieinander aufbewahrt wurden? Meint Ihr nicht, die Zauberer, welche die Kopien anfertigten, hätten sie in fernab gelegene Verstecke gebracht, anstatt die eine richtige Kopie gleich hier nahe dem originalen Schlüssel zu verbergen? Was wäre der Zweck, die Kopien zu verstreuen?«
Zedd rieb sich das Kinn und dachte darüber nach. »Ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt.«
»Bei Büchern wie diesen muss es eine Möglichkeit geben, die Kopien zu prüfen und für korrekt zu erklären.«
»Die gibt es«, sagte Zedd. »Am Anfang von Das Buch der gezählten Schatten heißt es: Die Überprüfung der Richtigkeit der Worte des Buches der Gezählten Schatten, so sie gesprochen werden von einem anderen als jenem, der über die Kästchen gebietet, kann nur gewährleistet werden durch den Einsatz eines Konfessors ...
Eine Kopie ist im Grunde gesprochen ... von einem anderen‹«, sagte er. »Die Person, die die Kopie anfertigt, spricht; der Leser liest nicht das Original. Solange es nicht der originale Schlüssel ist und dieser originale Schlüssel von demjenigen gelesen wird, der die Kästchen ins Spiel bringt, verlangt diese Warnung eine Überprüfung.«
»Kahlan«, sagte Nicci.
Die beiden anderen sahen sie an, und ihren Mienen zufolge verstanden sie, worauf sie hinauswollte.
»Zedd«, fragte Nicci schließlich in das Schweigen hinein, »keiner von uns kann sich an Kahlan erinnern. Wenn wir sie finden könnten und wenn wir diesen Feuerkettenbann irgendwie reparieren oder ... Gibt es einen Weg, ihre Erinnerung an das, was ihrem Gedächtnis jetzt entfallen ist, wiederherzustellen?«
Zedds Blick wanderte zu den leuchtenden Bannformen über dem Tisch. »Nein.«
Nicci hatte solche Entschiedenheit nicht erwartet. »Seid Ihr sicher?«
»So sicher man nur sein kann. Der Bann zerstört die Erinnerung. Er überdeckt sie nicht und blockiert nicht den Zugang, sondern er zerstört sie. Er lässt die Menschen nicht vergessen, sondern er löscht das Gedächtnis aus. Für die Person, die dieser schrecklichen Behandlung ausgesetzt ist, bleibt die Erinnerung verschwunden.«
»Aber es muss eine Möglichkeit geben«, beharrte Cara, »irgendein magisches Verfahren, mit dem ihre Erinnerung wiederhergestellt wird.«
»Wiederhergestellt mit was? Mit dem, woran sich niemand von uns erinnert? Erinnerung ist der Stoff des Lebens. Magie funktioniert auf bestimmte Weisen, so wie alle anderen Dinge auch. Magie ist kein überintelligentes Bewusstsein, das weiß, was wir erreichen wollen und welches das Gedächtnis einer Person - die Erinnerung an ihr ganzes Leben - einfach so aus dem Ärmel zaubern kann, nur weil wir es wünschen.«
Cara wirkte nicht überzeugt. »Aber kann nicht...«
»Seht es einmal von diesem Blickwinkel aus. Wenn ich das Buch vom Tisch schiebe, fällt es zu Boden. Dafür ist die unsichtbare Schwerkraft verantwortlich. Schwerkraft funktioniert auf eine bestimmte Weise. Ich kann nicht mit den Armen herumfuchteln und die Schwerkraft bitten, mir das Abendessen zu bereiten. So ähnlich ist es mit der Magie und der Erinnerung. Der Feuerkettenbann hat Kahlans Gedächtnis zerstört. Man kann es nicht zurückholen. Etwas, das da war und das es dann nicht mehr gibt, kann man nicht einfach wiederherstellen. Es geht nicht. Was weg ist, ist weg.«
Cara zupfte an ihrem langen blonden Zopf. »Klingt ganz so, als hätten wir ein ernsthaftes Problem.«
»Das kann man wohl sagen«, räumte der Zauberer ein. Nicci wollte hinzufügen, dass vor allem Richard ein Problem hätte, aber sie wagte es nicht laut zu sagen. Es bedrückte sie, welchen Tatsachen er sich eines Tages stellen musste. Doch sie wollte nicht diejenige sein, die es zur Sprache brachte.
»Wenn Richard sie findet«, fragte Nicci mit schwacher Stimme,
»was soll er dann tun?«
Zedd verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sah sie einen Moment an, ehe er den Blick abwandte.
»Es gibt eine weitere Möglichkeit, die richtige Kopie zu bestätigen«, sagte Cara.
Zedd und Nicci runzelten, beide erleichtert über die Ablenkung, fragend die Stirn.
»Man muss nur die anderen Kopien finden«, sagte sie, »und sie vergleichen. Diejenige, die Richard auswendig gelernt hat, gibt es nicht mehr. Wenn man also die anderen findet, kann man sie vergleichen. Die sich von den anderen unterscheidet, muss die richtige sein. Die anderen vier, die gleich sind, müssen die falschen Schlüssel sein.«
Zedd zog eine Augenbraue hoch. »Und wenn diejenigen, die die Kopien angefertigt haben, nun besorgt waren, dass eines Tages eine kluge Mord-Sith auf diesen Gedanken käme und sie deshalb alle Kopien unterschiedlich gemacht haben, damit man sie nicht vergleichen kann?«
Cara verzog das Gesicht. »Oh.«
Nicci warf die Arme in die Höhe. »Wie sollte er die anderen auch finden? Ich meine, die sind seit dreitausend Jahren verschollen.«
»Nicht nur das«, ergänzte Zedd, »aber Nathan hat uns von den Katakomben unter dem Palast der Propheten erzählt, und der wurde zerstört. Ich weiß das, denn ich habe den Lichtbann selbst gewirkt. Es ist nichts übrig geblieben, und selbst wenn von den Katakomben irgendwo ein Hohlraum geblieben ist - der Palast stand auf einer Insel. Und nachdem die Insel zerstört worden war, hat das Wasser sicherlich jeden unterirdischen Raum geflutet, der noch erhalten war. Diese Kopie, falls es dort eine gab, wäre damit schon vernichtet. War es ein falscher oder der richtige Schlüssel? Und wenn im Laufe der Zeit auch andere vernichtet worden sind? Es bleibt also die Frage, wie wir herausfinden können, ob die, die Richard kennt und die ich gefunden habe, die beiden richtigen Schlüssel sind.«
Nicci starrte in die Luft. »Ich fürchte, es könnten falsche Kopien sein - die, die Richard auswendig gelernt hat und die, die Ihr in den Katakomben gefunden habt.«
Zedd begann, unruhig auf und ab zu gehen. »Ich wüsste nicht, wie man das sicher klären könnte.«
»Vielleicht gibt es zwei Möglichkeiten«, sagte sie. »Für die erste möchte ich noch nicht meine Hand ins Feuer legen. Ich habe gerade erst angefangen, Das Buch des Lebens zu übersetzen. Aber es gibt Stellen, an denen die Benutzung des Schlüssels erwähnt wird. Wenn die Person, die die Kästchen ins Spiel bringt, steht dort, den Schlüssel nicht richtig anwendet, werden die Kästchen zusammen mit demjenigen zerstört, der sie ins Spiel gebracht hat.«
»Den Schlüssel nicht richtig anwendet...«, murmelte Zedd in Gedanken versunken.
»Für mich bedeutet das Folgendes: Wenn Darken Rahl den wahren Schlüssel nicht richtig angewendet hätte, indem er zum Beispiel den letzten Teil ausgelassen hat - wie du es uns von Richard erzählt hast, der das Buch für ihn rezitiert hat -, wäre er vernichtet worden, aber mit ihm auch die Kästchen der Ordnung. Die Kästchen der Ordnung wurden jedoch nicht zerstört, also könnte Richard ihm den falschen Schlüssel vorgelesen haben und Darken Rahl hätte dann schlicht das falsche Kästchen aufgemacht. Was ihn vernichtete.
Es steht dort nichts darüber, dass die Kästchen bei Verwendung eines falschen Schlüssels vernichtet werden, weil es zu der Zeit, als es geschrieben wurde, keine falschen Schlüssel gab und somit dieses Problem damals gar nicht zur Debatte stand. Seht Ihr, was ich meine?« Sie deutete auf das Buch. »Wenn Richard den richtigen Schlüssel verfälscht hat und Darken Rahl dadurch dazu veranlasst hat, das falsche Kästchen zu wählen, hätte dieses eigentlich zusammen mit Darken Rahl vernichtet werden müssen. Das stützt die These, dass Richard den falschen Schlüssel auswendig gelernt hat.«
»Vielleicht. Aber Ihr habt gesagt, dessen seid Ihr noch nicht sicher.«
Zedd rieb sich den Nacken, während er weiter hin und her schritt.
»Wir sollten nicht den Fehler begehen und voreilige Schlüsse ziehen.«
Nicci nickte.
»Habt Ihr nicht gesagt, es gäbe eine weitere Möglichkeit?«, fragte Zedd.
Erneut nickte Nicci und zitierte dann die zentrale Prophezeiung, die Nathan ihnen erzählt hatte. »›Im Jahr der Zikaden, wenn der Vorkämpfer für Selbstaufopferung und Leid unter dem Banner der Menschheit und des Lichts endlich seinen Schwärm teilt, soll dies als Zeichen dafür dienen, dass die Prophezeiung zum Leben erweckt worden ist und uns die letzte und entscheidende Schlacht bevorsteht. Seid gewarnt, denn alle wahren Gabelungen und ihre Ableitungen sind in dieser seherischen Wurzel miteinander verknüpft. Ein einziger Hauptstrang nur zweigt von dieser Verknüpfung der allerersten Ursprünge ab. Wenn der fuer grissa ost drauka in dieser letzten Schlacht nicht die Führung übernimmt, dann wird die Welt, bereits jetzt am Abgrund ewiger Finsternis, unter ebendiesen fürchterlichen Schatten fallen.‹
Versteht Ihr?«, fragte Nicci. »Der Vorkämpfer für Selbstaufopferung und Leid unter dem Banner der Menschheit und des Lichts‹ sind Jagang und die Imperiale Ordnung. Dann heißt es, wenn er ›endlich seinen Schwärm teilt, soll dies als Zeichen dafür dienen, dass die Prophezeiung zum Leben erweckt worden ist und uns die letzte und entscheidende Schlacht bevorsteht^ Er wird seine Armee teilen. Die eine Hälfte hält die Pässe, während die andere durch D’Hara von Süden heranmarschiert. Wie es dort heißt, ›steht uns die letzte und entscheidende Schlacht bevor.‹«
Wie zur Bestätigung zuckte ein Blitz vor den Fenstern und wurde begleitet von einem Donnerschlag, der die Burg erbeben ließ. Zedd legte die Stirn in Falten. »So ganz kann ich Eurer Argumentation nicht folgen.«
»Warum haben Ann und Nathan das Buch ursprünglich für Richard gestohlen? Weil sie die Prophezeiung falsch interpretiert haben - sie glaubten, bei der letzten Schlacht ging es um Darken Rahl. Ihrer Meinung nach brauchte Richard Das Buch der gezählten Schatten, um gegen Darken Rahl zu kämpfen. Und sie hatten die einzig noch existierende Kopie gefunden - dachten sie.
Versteht Ihr denn nicht? Das war zu einfach. Richard wurde geboren, um diesen Kampf gegen Jagang und die Schwestern der Finsternis auszutragen, die die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht haben. Hier geht es um die Fortführung der gleichen letzten Schlacht, die mit Darken Rahl begonnen hat.
Ich glaube, die Prophezeiungen deuten darauf hin, dass Richard den falschen Schlüssel auswendig gelernt hat: ›Seid gewarnt, denn alle wahren Gabelungen und ihre Abweichungen sind in dieser seherischen Wurzel miteinander verknüpfte Alle wahren Gabelungen - wahren Schlüssel? - sind in der prophetischen Wurzel dieser letzten Schlacht zu finden. Es heißt, die anderen Gabelungen seien falsch. Vielleicht enthalten andere Gabelungen die falschen Schlüssel. Könnte nicht der Kampf gegen Darken Rahl eine falsche Gabelung gewesen sein ? Ann und Nathan wussten damals noch nicht genug, da nicht genug Ereignisse eingetreten waren, daher folgten sie dieser Gabelung und bereiteten Richard auf den Kampf gegen Darken Rahl und nicht gegen Jagang vor. Aber in dieser Prophezeiung heißt es:
›Wenn der fuer grissa ost drauka in dieser letzten Schlacht nicht die Führung übernimmt, dann wird die Welt, bereits jetzt am Abgrund ewiger Finsternis, unter ebendiesen fürchterlichen Schatten fallen.‹ Dieser fürchterliche Schatten ist die Macht der Ordnung, die durch die Schwestern der Finsternis freigesetzt wurde. Sie wollen die Dunkelheit über die Welt des Lebens bringen. Ann, Nathan und Richard haben sich auf die falsche Schlacht vorbereitet. Denn die Schlacht, die er austragen soll, steht erst jetzt bevor.«
Zedd ging hin und her, das Gesicht in Falten gezogen. Schließlich blieb er stehen und wandte sich ihr zu. »Vielleicht, Nicci. Ihr habt viel mehr Zeit damit verbracht, Prophezeiungen zu studieren, als ich. Vielleicht seid Ihr da auf etwas gestoßen.
Aber vielleicht auch nicht. Prophezeiungen, so hat es Nathan erklärt, kann man nicht so auslegen, wie Ihr es gerade ausgeführt habt. Prophezeiungen sind ein Mittel der Kommunikation zwischen Propheten. Sie können nicht unbedingt von jemandem studiert, analysiert oder verstanden werden, der die Gabe für Prophezeiungen nicht besitzt.
Genau wie Ann und Nathan zieht Ihr möglicherweise auch voreilige Schlüsse, ohne über die notwendigen Informationen zu verfügen. Ich denke, es ist zu früh für derartige Folgerungen.«
Nicci nickte und musste ihm in dieser Hinsicht zustimmen.
»Hoffentlich liegt Ihr damit richtig, Zedd, wirklich. Mir geht es nicht darum, recht zu behalten. Ich habe es nur erwähnt, weil ich der Meinung bin, wir sollten über die Zusammenhänge nachdenken.«
Er nickte. »Und wir sollten über noch etwas nachdenken. Richard hält sich nicht an Prophezeiungen.«
»Ich weiß nicht«, sagte Nicci und strich sich durchs Haar, »aber vielleicht habt Ihr recht.«
Sie war so müde und brauchte Schlaf; danach wäre sie möglicherweise wieder in der Lage, klar zu denken. Vielleicht ließ sie sich von all den Sorgen tatsächlich auf die falsche Fährte führen.
»Im Augenblick könnten wir nicht mit Sicherheit feststellen, ob die Kopien vom Buch der gezählten Schatten, also die, die ich gefunden habe, und die, die Richard kennt, korrekt oder fehlerhaft sind.«
»Was sollen wir also tun?«, fragte sie.
Zedd blieb stehen und sah sie an. »Wir müssen Richard zurückholen, dann wird er schon herausbekommen, wie er diese Bedrohung aufhalten kann.«
Nicci lächelte. Immer wieder gelang es ihm, sie selbst in den düstersten Augenblicken aufzuheitern - so wie Richard.
»Aber eines kann ich Euch sagen«, fuhr Zedd fort, »bevor es so weit ist, sollten wir besser herausgefunden haben, ob der Schlüssel, den er auswendig gelernt hat, der richtige oder der falsche ist.«
Nicci klappte Das Buch der gezählten Schatten zu, nahm es vom Tisch und hielt es im Arm. »Ich muss das ganze Buch lesen, von der ersten bis zur letzten Seite. Ich will wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, das zu tun, worum Richard mich gebeten hat - die Kästchen wieder aus dem Spiel zu nehmen und die Bedrohung zu beenden. Falls mir das nicht gelingt, sollte ich das Buch am besten in- und auswendig kennen, damit ich für Richard von Nutzen bin, wenn er die Antwort auf diese Fragen sucht.«
Zedd sah ihr in die Augen. »Das ist viel Arbeit und wird eine Menge Zeit kosten - um ein Buch von solcher Komplexität vollständig zu verstehen, braucht man Monate. Hoffentlich bleibt uns so viel Zeit. Trotzdem stimme ich Euch zu. Ihr solltet am besten gleich anfangen.«
Nicci steckte das Buch in eine Tasche an ihrem Kleid. »Das sollte ich wohl. Es könnten hier auch Bücher vorhanden sein, die mir helfen. Falls mir eines davon einfällt oder eins erwähnt wird, lasse ich es Euch wissen. Nach dem, was ich bisher gesehen habe, gibt es auch praktische Dinge, bei denen ich Hilfe gebrauchen könnte. Falls ich nicht weiterkomme, würde ich mich über die Unterstützung des Obersten Zauberers freuen.«
Zedd lächelte. »Die ist Euch gewiss, meine Liebe.«
Sie hob den Zeigefinger. »Aber wenn Euch eine Idee kommt, wie wir Richard finden, erzählt mir gleich davon, und nicht erst, wenn Ihr den Gedanken zu Ende gedacht habt.«
Zedds Lächeln wurde breiter. »Einverstanden.«
»Und falls wir Lord Rahl nicht finden?«, fragte Cara. Die beiden anderen starrten sie an. Donner grollte durch das ferne Tal. Regen prasselte stetig an die Fenster.
»Wir holen ihn zurück«, beharrte Nicci und weigerte sich, das Undenkbare auch nur in Betracht zu ziehen.
»Nichts ist jemals einfach«, murmelte Zedd.