Richard spähte durch die Gitterstäbe des kleinen Fensters in der Seitenwand des Eisenkäfigs, als der Wagen durch das sich endlos hinziehende Armeelager holperte.
»Sieh dir das bloß an, Rüben«, sagte Johnrock. Er hatte beide Hände an den Gitterstäben und grinste angesichts des Schauspiels über das ganze Gesicht, wie ein Mann an einem unverhofften freien Tag-Richard sah zu seinem Käfiggenossen hinüber. »Ziemlich beeindruckend«, stimmte er zu.
»Was meinst du, ob es hier wohl jemanden gibt, der uns schlagen könnte?«
»Das werden wir früher oder später wohl herausfinden«, antwortete Richard.
»Ich sag dir was, Rüben, ich würde einiges für eine Chance geben, in der Mannschaft des Kaisers ein paar Schädel einzuschlagen.« Sein Kumpan sah ihn von der Seite an. »Was meinst du, ob sie uns wohl nach Hause lassen, wenn wir die Mannschaft des Kaisers schlagen?«
»Ist das dein Ernst?«
Der Mann lachte schnaubend. »Das war ein Scherz, Rüben.«
»Ein schlechter«, stellte Richard fest.
»Vermutlich.« Johnrock seufzte. »Trotzdem, es heißt, die Mannschaft des Kaisers ist die beste. Ich möchte die Peitsche nicht noch einmal zu spüren bekommen.«
»Mir hat das eine Mal auch gereicht.«
Die beiden teilten sich den Eisenkäfig nun schon seit Richards Gefangennahme in Tamarang. Johnrock war bereits einige Zeit davor verschleppt worden. Er war ein Hüne von einem Mann, ein Müller aus dem Süden der Midlands. Unmittelbar bevor ein Nachschubtreck durch sein kleines Dorf ziehen sollte, waren einige Soldaten eines Spähtrupps aufgetaucht und hatten behauptet, aufgrund seiner Körpergröße könne er eine hervorragende Verstärkung für ihre Mannschaft sein.
Johnrocks richtigen Namen kannte Richard nicht. Dieser hatte ihm lediglich erklärt, wegen seines Körperbaus und seiner zähen Muskeln vom Schleppen der Getreidesäcke würden ihn alle Johnrock nennen. Er selbst kannte Richard nur als Rüben Rybnik. Obwohl Johnrock ein Mitgefangener war, hielt Richard es nicht für klug, jemandem seinen korrekten Namen zu verraten.
Bei seiner Gefangennahme, hatte Johnrock ihm stolz erzählt, habe er drei Männern den Arm gebrochen, ehe sie ihn überwältigen konnten. Richard hatte ihm nur erzählt, er sei von Bogenschützen umringt gewesen und hätte sich deswegen ergeben. Johnrock schien ein wenig peinlich berührt über, wie er es sah, Richards Mangel an Mumm.
Obwohl Johnrock selbst in ihrer misslichen Lage nicht selten ein schiefes, einfältiges Grinsen aufsetzte, besaß er eine schnelle Auffassungsgabe und einen scharfen Verstand. Er mochte Richard, weil der ihn als Einziger nicht für beschränkt hielt und ihn entsprechend behandelte. Johnrock war alles andere als dumm. Zu guter Letzt hatte er eingesehen, dass er sich über Richards angeblichen Mangel an Mut getäuscht hatte, und ihn gefragt, ob er bei den Ja’La-Spielen nicht sein rechter Flügelstürmer werden könne. Die Position des Flügelstürmers galt als ziemlich undankbar, weil man dort den heftigsten körperlichen Attacken des Gegners ausgesetzt war. Johnrock hingegen sah eher das Positive an dieser Position, denn sie erlaubte es ihm, Männern der Imperialen Ordnung den Schädel zu zertrümmern und dafür noch Beifall einzuheimsen. Trotz seiner Größe war er schnell - eine Kombination, die ihn zur perfekten Besetzung auf Richards rechter Flanke machte. Während des Spiels blieb er gern in Richards Nähe, denn dann konnte er beobachten, wie Richard seine Wut auf dem Ja’La-Feld auf eine Weise herausließ, die die anderen Mannschaften kalt erwischte. Obwohl sie nie darüber sprachen, waren sie sich darin einig, wie sehr sie diese Gelegenheit genossen, sich an ihren Häschern zu rächen. Das Armeelager jenseits der Gitterstäbe schien kein Ende zu nehmen. Mutlosigkeit befiel Richard, als er sah, wo sie sich befanden -in der Azrith-Ebene, ganz in der Nähe des Palasts des Volkes. Als er den Anblick nicht länger ertragen konnte, setzte er sich wieder hin, lehnte sich an die andere Wand des Verschlags und legte die Handgelenke auf die Knie, während der Wagen schwankend und ruckend durch die endlosen Soldatenmassen rollte.
Er war froh, dass die D’Haranischen Streitkräfte schon seit Längerem abgezogen waren, denn andernfalls wären sie nur sinnlos aufgerieben worden. Stattdessen dürften sie inzwischen die Alte Welt erreicht und damit begonnen haben, dort alles in Schutt und Asche zu legen.
Richard hoffte nur, dass sie an ihrem Plan festhielten: schnelle, überfallartige Angriffe von kleinen unabhängigen Einheiten, die an jedem Ort in der Alten Welt zuschlugen und nichts und niemanden verschonten. Niemand sollte sich mehr sicher fühlen. Es musste deutlich werden, dass das aus ihren Glaubensüberzeugungen resultierende Tun nicht ohne Folgen bleiben würde.
Angesichts des regen Interesses, das die Wagenkolonne fand, schien ihr Eintreffen hoch willkommen, wahrscheinlich wegen der Lebensmittel, die sie brachte. Richard hoffte nur, sich noch einmal satt essen zu können. Nach den von ihm ausgegebenen Befehlen war dies wahrscheinlich einer der letzten Nachschubtrosse, die die Alte Welt verließen. Ohne Vorräte mitten in der Azrith-Ebene, noch dazu bei hereinbrechendem Winter, würde Jagangs Armee schon bald unerwartet schweren Zeiten entgegensehen.
Nahezu jeder, den sie passierten, starrte in Richards Käfig hinein und versuchte einen Blick auf ihn zu erhaschen. Vermutlich machten im Armeelager bereits Gerüchte über ihn und seine Ja’La-Mann-schaft die Runde. Auf ihren Zwischenstopps, wenn sie in den Armeeposten entlang der Strecke gegen deren Mannschaften antraten, hatte er erfahren, dass ihr Ruf ihnen vorauseilte. Diese Männer waren fanatische Anhänger des Spiels und erwarteten voller Spannung das Turnier, insbesondere, da das Eintreffen von Richards - oder, wie sie bei den Männern hieß, Rubens - Mannschaft das Interesse zweifellos noch gesteigert hatte. Eigentlich aber war es die Mannschaft des Kommandanten mit dem Reptiliengesicht. Die Soldaten bekamen nur wenig Unterhaltung geboten - wenn man von den weiblichen Gefangenen absah. Richard verdrängte den Gedanken; er machte ihn nur wütend, und in seinem Käfig konnte er ohnehin nichts daran ändern.
Vor einigen Tagen, nach einer besonders brutal geführten Partie, die sie mühelos gewonnen hatten, hatte Johnrock ihm gebeichtet, er sei einigermaßen verwirrt gewesen, dass Richard sich so leicht hatte gefangen nehmen lassen. Schließlich hatte Richard ihm die Wahrheit gestanden. Zunächst wollte ihm Johnrock nicht glauben, doch als er sich auf Richards Rat bei dem Reptiliengesicht erkundigte, fand er heraus, dass Richard die Wahrheit sagte. Kurz darauf bat Johnrock, der Freiheit mehr schätzte als alles andere und fand, sie sei es wert, dafür zu kämpfen, Richards Flügelstürmer zu werden. Hatte Richard früher seinen Zorn durch das Schwert der Wahrheit gelenkt, so lenkte er ihn jetzt durch den Broc und das Spielen von Ja’La. Trotz seiner Beliebtheit als Spielführer war er sogar in der eigenen Mannschaft ziemlich gefürchtet. Mit Ausnahme Johnrocks. Der fürchtete ihn nicht nur nicht, sondern teilte seine Spielweise -als sei das Spiel ein Kampf auf Tod oder Leben.
Und zumindest für einige ihrer gegnerischen aus den Ordenstruppen rekrutierten Mannschaften, die mit einer überheblichen Einstellung ins Spiel gegangen waren, war es genau das gewesen. Es war absolut nicht ungewöhnlich, dass ein Spieler, insbesondere wenn es gegen Richards Mannschaft ging, während einer Partie ernsthaft verletzt wurde oder sogar starb. Ein Spieler aus Richards Mannschaft war von dem schweren Broc am Kopf getroffen worden, als er nicht hingeschaut hatte. Es hatte ihm das Genick gebrochen. Richard musste daran denken, wie er mit Kahlan durch die Straßen Aydindrils geschlendert war und Kindern beim Ja’La zugesehen hatte. Jetzt waren alle diese Kinder längst aus der Stadt geflohen.
»Sieht so aus, als wäre dies kein guter Ort für uns, Rüben«, bemerkte Johnrock mit gedämpfter Stimme, als er das Lager an ihrem winzigen Fenster vorüberziehen sah. Er klang ganz gegen seine Art bedrückt. »Ein sehr schlechter Ort für uns als Sklaven.«
»Wenn du dich schon selbst für einen Sklaven hältst, bist du auch einer«, gab Richard zurück.
Johnrock starrte ihn lange an. »Dann bin ich keiner, Rüben.«
Richard nickte. »Kluge Entscheidung, Johnrock.«
Der Mann widmete sich wieder dem schier endlosen Armeelager, das vor seinen Augen vorüberzog. Wahrscheinlich hatte er so etwas sein ganzes Leben noch nicht gesehen. Richard fühlte sich an sein Staunen erinnert, als er zum ersten Mal aus den Wäldern Kernlands herausgekommen war und entdeckt hatte, wie anders die Welt jenseits davon aussah.
»Sieh dir das an«, sagte Johnrock mit gesenkter Stimme und starrte durch die Gitterstäbe.
Richard war nicht nach Schauen zumute. »Was ist denn?«
»Unmengen von Soldaten, aber sie sehen ganz anders aus als die übrigen. Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen, sind besser bewaffnet, besser organisiert. Und größer. Sie sehen so grimmig aus, dass jeder ihnen Platz macht.«
Johnrock blickte über die Schulter zu Richard. »Ich wette, der Kaiser ist gekommen, um unseren Einzug zu sehen - die Herausforderer seiner Mannschaft beim Turnier in Augenschein zu nehmen. Nach den Beschreibungen wette ich, der Kerl dort, der von all den Gardisten in Kettenpanzern bewacht wird, ist Jagang höchstpersönlich.«
Richard trat noch einmal an die winzige Öffnung, um sich selbst zu überzeugen. Er packte die Gitterstäbe mit beiden Händen und schob sein Gesicht ganz nah heran, um besser sehen zu können, als sie dicht an den Gardisten und ihrem Schutzbefohlenen vorüberfuhren.
»Sieht tatsächlich so aus, als könnte es Kaiser Jagang sein«, meinte er zu Johnrock.
Der Kaiser schaute in die andere Richtung und beobachtete einige der anderen aus Soldaten der Imperialen Ordnung zusammengestellten Ja’La-Mannschaften. Diese waren natürlich nicht in auf Wagen befestigte Eisenkäfige gesperrt; vielmehr marschierten sie stolz in Reih und Glied und trugen die Wimpel ihrer Mannschaft.
Und dann sah er sie.
»Kahlan!«
Sie drehte sich in die Richtung, aus der seine Stimme gekommen war. Richard packte die Gitterstäbe so fest, dass sie sich fast bogen. Trotz der geringen Entfernung hatte sie ihn bei all dem Lärm wahrscheinlich gar nicht hören können. Ringsumher bejubelten Männer den Einmarsch der Mannschaften.
Ihr langes Haar fiel in unordentlichen Strähnen über ihren Umhang. Richards Herz hämmerte so heftig in seiner Brust, dass er glaubte, es würde explodieren.
»Kahlan!«
Sie drehte sich ein wenig mehr in seine Richtung.
Und dann begegneten sich ihre Blicke; er starrte geradewegs in ihre grünen Augen.
Doch als Jagang Anstalten machte, sich herumzudrehen, sah sie augenblicklich fort und schaute in die Richtung, der sein Interesse gegolten hatte, sodass er sich ebenfalls wieder umwandte. Dann war sie nicht mehr zu sehen; das Durcheinander aus Soldaten und Wagen, Pferden und Zelten verdeckte sie, als sie in der Ferne verschwand.
Richard ließ sich schwer atmend nach hinten gegen die Seitenwand sinken.
Johnrock setzte sich neben ihn. »Was ist, Rüben? Du siehst ja aus, als hättest du mitten unter den Männern ein Phantom gesehen.«
Richard hatte es die Sprache verschlagen. Er keuchte, die Augen weit aufgerissen.
»Das war meine Frau.«
Johnrock lachte verwegen. »Du meinst, du hast die Frau gesehen, die du haben willst, wenn wir gewinnen? Der Kommandant meinte, wenn wir die Mannschaft des Kaisers schlagen, könnten wir uns eine aussuchen. Hast du eine gesehen, die dir gefällt?«
»Sie war es ...«
»Rüben, du siehst aus, als hättest du dich gerade verliebt.«
Richard merkte, dass er über das ganze Gesicht strahlte.
»Sie war es. Sie lebt, Johnrock. Ich wünschte, du hättest sie sehen können. Sie lebt. Sie sieht genauso aus wie früher. Bei den Gütigen Seelen, das war Kahlan. Sie war es.«
»Ich finde, du solltest dich wieder beruhigen, Rüben. Wenn du weiter so hektisch atmest, verlierst du noch das Bewusstsein, ehe wir Gelegenheit haben, ein paar Schädel zu zertrümmern.«
»Wir werden gegen die Mannschaft des Kaisers spielen, Johnrock.«
»Erst mal müssen wir eine ganze Menge Spiele gewinnen, um diese Chance zu bekommen.«
Richard hörte ihn kaum. Er lachte vor Freude und bekam sich fast nicht mehr ein. »Das war sie. Sie lebt.« Richard schlang die Arme um Johnrock und erdrückte ihn fast. »Sie lebt!«
»Ganz wie du meinst, Rüben.«
Bemüht, ihren Atem zu kontrollieren, versuchte Kahlan ihren rasenden Puls zu beruhigen. Sie konnte nicht begreifen, was sie so überwältigt hatte. Der Mann ihm Käfig war ihr unbekannt. Sie hatte sein Gesicht nur für einen Augenblick gesehen, als der Wagen vorüberrollte, doch aus irgendeinem Grund hatte sie der Anblick bis auf den Grund ihrer Seele aufgewühlt.
Als der Mann zum zweiten Mal ihren Namen rief, reagierte Jagang, als hätte er etwas gehört. Sofort hatte Kahlan sich wieder herumgedreht, damit er keinen Verdacht schöpfte. Doch warum ihr das so überaus wichtig erschienen war, wusste sie nicht. Nein, das stimmte nicht. Sie kannte den Grund nur zu gut. Der Mann hatte in einem Käfig gesessen. Da er sie zu kennen schien, hätte Jagang ihm womöglich etwas angetan, ihn vielleicht sogar getötet. Aber es steckte noch mehr dahinter. Offenbar kannte sie der Mann. Er musste irgendwie mit ihrer Vergangenheit in Zusammenhang stehen, jener Vergangenheit, die sie zu vergessen versuchte. Als sie in seine grauen Augen gesehen hatte, hatte sich mit einem Herzschlag alles verändert. Sie wollte nicht mehr, dass ihre Vergangenheit verschüttet blieb. Plötzlich wollte sie alles wissen. Der Ausdruck in den Augen des Mannes hatte etwas so ungeheuer Kraftvolles gehabt, war so voller Lebendigkeit gewesen, dass ihr mit einem Schlag die Bedeutung ihres Lebens klar geworden war. In dem Moment, als sie den Blick in seinen grauen Augen sah, erkannte Kahlan, dass sie wissen musste, wer sie war. Was immer die Folgen waren, egal um welchen Preis, sie musste die Wahrheit wissen. Sie musste ihr Leben zurückerlangen, und dafür gab es nur einen Weg: die Wahrheit.
Jagangs Drohungen mochten eine sehr reale Gefahr darstellen, doch plötzlich war ihr klar geworden, dass die eigentliche Gefahr darin bestand, dass er sie mit seinen Einschüchterungen dazu brachte, ihrem eigenen Leben, ihrem freien Willen, ja ihrer ganzen Existenz abzuschwören ... und sich endgültig seiner Herrschaft auszuliefern. Mit seinen Drohungen versuchte er ihr vorzuschreiben, wie sie zu leben hatte, machte er sie zur Sklavin. Wenn sie sich seinem Willen beugte, dann nur, weil sie den ihren aufgegeben hatte. So durfte sie nicht denken. Darin konnte sich ihr Leben nicht erschöpfen. Sie mochte vielleicht seine Gefangene sein, aber sie war nicht seine Sklavin. Sie war überhaupt niemandes Sklavin. Niemals würde sie sich seinem Willen ergeben. Sie wollte ihr altes Leben zurück. Ihr Leben gehörte ihr allein, und sie würde es sich wiederholen. Nichts, was Jagang tun konnte, nichts, womit er ihr zu drohen versuchte, konnte ihr das länger verwehren.
Kahlan fühlte Freudentränen über ihre Wangen rollen. Der Mann, den sie nicht einmal kannte, hatte ihr soeben den Lebenswillen, ja die Lust am Leben zurückgegeben. Es war, als könnte sie zum allerersten Mal seit ihrem Gedächtnisverlust wieder befreit aufatmen.
Sie wünschte nur, sie könnte ihm dafür danken.