Nachdem sich Kahlan vergewissert hatte, dass die vier beschäftigt waren, scheuchte sie Julian still in eine der Ecken.
»Hör mir genau zu und tu exakt das, was ich dir sage«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme, damit Jagang und die Schwestern es nicht mitbekamen.
Julian runzelte die Stirn.
»Ich muss etwas in Erfahrung bringen. Dazu gehe ich zu den beiden Wachen ...«
»Was!«
Kahlan legte ihr die Hand auf den Mund und zischte: »Still!«
Jillian schaute zu den Wächtern, weil sie befürchtete, die könnten sich ihr zuwenden. Das war jedoch nicht der Fall.
Zufrieden, dass Julian verstanden hatte, nahm Kahlan ihre Hand zurück. »Ich habe den Verdacht, diese drei Zauberinnen könnten mich mit einem Bann belegt haben. Deshalb erinnere ich mich nicht mehr daran, wer ich bin. Fast niemand außer ihnen und Jagang kann sich erinnern, mich je gesehen zu haben. Beinahe keiner. Mir ist schleierhaft, wieso du es kannst. Außerdem haben sie mir diesen Ring um den Hals gelegt, mit dem sie mir Schmerzen zufügen können.
Also, ich glaube, die Wachen können mich nicht sehen, ich muss es jedoch ganz sicher wissen. Du bleibst hier stehen. Schau nicht zu mir hin und tu nichts, was ihr Misstrauen erregen könnte.«
»Aber ...«
Kahlan legte ihr den Zeigefinger auf den Mund. »Hör mir zu. Tu, was ich sage.«
Schließlich nickte Julian.
Ohne abzuwarten, ob das Mädchen seine Meinung ändern würde und weitere Einwände erhob, vergewisserte sich Kahlan, dass Jagang und die Schwestern noch in ihre Lektüre vertieft waren. Sie bewegte sich so leise sie konnte; die Wachen mochten sie nicht wahrnehmen, aber falls Jagang oder eine der Schwestern sie hörten, war die Gelegenheit dahin.
Die beiden Wachen starrten geradeaus und beobachteten ihren Kaiser. Gelegentlich sah der eine auf Julians Seite zu dem Mädchen. Kahlan konnte ihm vom Gesicht ablesen, was er dachte: Er hoffte, Jagang würde sie ihm überlassen. Kahlan stellte sich vor, dass solche Belohnungen zu den Vorzügen gehörten, die man erwarb, wenn man sich die Vertrauensstellung als persönliche Leibwache des Kaisers erarbeitet hatte. Julian hatte keine Ahnung, welches Schicksal ihr da blühte. Kahlan musste der Unausweichlichkeit, mit der sich die Ereignisse entwickelten, eine andere Richtung geben. Sie bemühte sich, den Wachen nicht die Sicht auf die vier Leute am Tisch zu versperren. Obwohl sich die beiden Männer nicht lange genug an sie erinnern konnten, um sie wahrzunehmen, wollte sie nicht herausfinden, was geschähe, wenn sie ihren Herrn und Meister nicht mehr sehen konnten. Die zwei waren argwöhnische Kerle, die gewiss mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten ausgestattet waren, und es ließ sich nicht sagen, wie leicht sie sich von kleinstem Ärger aufscheuchen ließen. Kahlan beabsichtigte allerdings, großen Ärger zu veranstalten - jedoch erst, wenn sie dazu bereit war. Nun, da sie genau vor dem einen stand, fiel ihr auf, dass sie ihm nur bis zur Schulter reichte und ihm gar nicht die Sicht versperren konnte. Vorsichtig berührte sie den Metallstab, den der Kerl durch die Nase trug. Der Mann verzog das Gesicht und kratzte sich beiläufig, packte jedoch nicht ihre Hand.
Zufrieden damit zog Kahlan eines der Messer aus dem Ledergurt über der Brust. Als die Klinge langsam zum Vorschein kam, bewegte sie die Waffe sehr gleichmäßig, ohne Druck auf Scheide oder Riemen auszuüben. Die Wache bemerkte nichts, selbst als Kahlan die Waffe ganz herausgezogen hatte.
Eine Waffe in der Hand zu halten, das fühlte sich ungemein gut an. Es erinnerte sie an das Wirtshaus zum Weißen Ross, wo die Schwestern die Wirtsleute ermordet hatten. Da hatte sie sich ein schweres Hackmesser gegriffen, um sie daran zu hindern, der Tochter ein Leid zuzufügen.
Und eine noch tiefere Befriedigung erfüllte sie, denn eine Waffe stellte ein Mittel dar, das eigene Leben zu kontrollieren und sich zu schützen. Eine Waffe bedeutete Unabhängigkeit von der Gnade böser Menschen, die kein Gesetz achteten, bedeutete, nicht länger Stärkeren, die mit ihrer Macht Schwächere drangsalierten, hilflos ausgesetzt zu sein.
Kahlan ließ das Messer in ihrer Hand kreisen, jonglierte es durch die Finger und schaute den Reflexen des Fackelscheins zu. Sie packte den Griff und betrachtete kurz die gut geschliffene blitzblanke Klinge.
Die Waffe bedeutete Erlösung. Wenn schon nicht für sie, dann wenigstens für Julian.
Kahlan riss sich aus diesen Gedanken los und schob das Messer rasch in ihren Stiefel. Sie warf einen Blick auf Julian, die sich still verhielt. Allerdings machte sie große Augen. Kahlan wandte sich erneut ihrer Aufgabe zu und zog vorsichtig ein zweites Messer aus einer Scheide am Brustgurt. Diese Klinge war ein wenig dünner und besser ausbalanciert. Wie schon die erste, so schob sie auch diese Waffe in ihren Stiefel und achtete sorgsam darauf, dass sie hinter ihren Knöchel zu sitzen kam. Dann stieß sie die Spitze in den Absatz. In dieser behelfsmäßigen Scheide konnte sich das Messer nicht bewegen und beim Gehen keine Verletzungen verursachen. So leise wie nur möglich schlich Kahlan rasch zu der verängstigten Julian zurück. Die Schwestern und ihr Gebieter hatten sich in eine angeregte Auseinandersetzung über den Belang der Stellung von Gestirnen, des Wetters und der Jahreszeiten für die Bildung und Konzentration der Kraft verstrickt, die man für bestimmte Bannsprüche brauchte. Die Schwestern erklärten die Bedeutung mancher Abschnitte. Jagang dagegen stellte ständig Fragen und bezweifelte andauernd ihre Annahmen.
Kahlan verwunderte es, wie bewandert der Mann war. Nicht selten äußerten die Schwestern, dass er über einige Themen, die mit den Kästchen der Ordnung zusammenhingen, besser Bescheid wusste als sie. Jagang wirkte kaum wie jemand, der aus Büchern gewonnenes Wissen schätzte, aber da hatte sich Kahlan wohl geirrt. Während sie das meiste, worüber sich die vier unterhielten, nicht verstand, war Jagang offensichtlich höchst belesen und konnte sich gescheit mit ihnen unterhalten - insbesondere über jene Themen, die den Frauen zufolge nur in seltenen Büchern nachgelesen werden konnten. Er war nicht nur ein Untier. Er war viel schlimmer. Er war ein kluges Untier.
»Gut«, flüsterte Kahlan. »Hör mir genau zu. Wir haben nicht viel Zeit.«
Julian hatte die Augen immer noch aufgerissen. »Wie hast du das gemacht?«
»Ich hatte recht, sie können mich nicht sehen.«
»Dieses Messer so zu wirbeln, meine ich.«
Kahlan zuckte die Schultern, überging die Frage, die sie nicht beantworten konnte, und wandte sich wichtigeren Angelegenheiten zu. »Pass auf, ich muss dich hier hinausschaffen. Das ist vielleicht unsere einzige Möglichkeit.«
Julian entsetzte dieser Gedanke. »Aber wenn ich fliehe, wird er meinen Großvater umbringen und die anderen wahrscheinlich auch. Ich kann nicht fort.«
»Genau dadurch übt er Macht über dich aus. Die Wahrheit ist jedoch: Er wird euch alle vermutlich sowieso töten. Mach dir eins klar: Dies ist vielleicht deine einzige Chance, jemals deine Freiheit zurückzuerlangen.«
»Bist du dir da sicher? Wie kann ich das Leben meines Großvaters nur wegen deiner Vermutungen aufs Spiel setzen?«
Kahlan holte tief Luft. Lieber hätte sie es nicht erklären müssen. »Ich habe keine Zeit, es hübsch zu formulieren und dich freundlich zu überreden. Daher werde ich dir die nackte Wahrheit präsentieren müssen, und zwar sofort. Also sperr die Ohren auf.
Ich weiß, wie diese Männer sind. Was sie jungen Frauen wie dir und mir antun, habe ich mit eigenen Augen gesehen. Ich habe die nackten geschundenen Leiber der Toten gesehen, die die Soldaten der Imperialen Ordnung liegen ließen, nachdem sie mit den Armen fertig waren, habe die Gräben gesehen, in die sie wie Abfall hineingeworfen wurden.
Wenn du nicht fliehst, wird es dir sehr, sehr übel ergehen, im günstigsten Fall. Du wirst den Rest deines kurzen Lebens als Sklavin verbringen und den Soldaten bei ihren krankhaften Vergnügungen zu Diensten sein, wie du es dir nicht vorzustellen vermagst. Ständig wirst du zwischen Schrecken und Schluchzen pendeln. Und das ist noch die bessere Aussicht. Du lebst zwar, aber du wirst dir jeden einzelnen Augenblick den Tod wünschen. Im schlimmsten Fall bringen sie dich um, wenn Jagang weiterzieht.
Einerlei, es wäre töricht zu glauben, er werde dich gehen lassen. Gleichgültig, ob du fliehst oder bleibst, er lässt deinen Großvater und die anderen vielleicht am Leben, nur weil er sich nicht die Mühe machen will, sie zu ermorden. Jagang hat Wichtigeres im Sinn. Du selbst bist nur Beutegut ohne großen Wert für ihn. Möglicherweise überlässt er dich den beiden Wachen als Lohn für ihren Dienst. So ziehen sich Männer wie Jagang unbarmherzige Bestien heran, die ihnen treu ergeben sind - indem sie ihnen schmackhafte Brocken wie dich hinwerfen. Hast du eine Vorstellung davon, was sie mit dir anstellen werden - bevor sie dir die Kehle aufschlitzen? Ja?«
Julian schwieg einen Augenblick erschüttert. Sie schluckte, ehe sie antwortete. »Ich weiß, was Jagang meinte, vorhin, als er fragte, ob ich schon bei einem Mann gelegen habe - ich habe nur so getan, als hätte ich keine Ahnung. Ich weiß auch, was es bedeutet, wenn er mich seinen Soldaten überlässt und dass sie sich über ein junges Ding wie mich freuen würden. Ich kenne ihre Gelüste. Meine Familie hat mich davor gewarnt, wie gefährlich Fremde dieser Sorte sind. Meine Mutter hat es mir erklärt. Ich glaube, alles hat sie mir trotzdem nicht erzählt, damit ich keine Albträume bekomme. Das, was du weißt, würde mir bestimmt Albträume bereiten. Vorhin habe ich meine Dummheit nur gespielt, damit er nicht erfährt, wie viel Angst ich vor ihm habe.«
Kahlan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Das war schlau, sehr schlau.«
Julians Lippen zitterten, und sie musste die Tränen unterdrücken, da sie nun einsah, welches Schicksal sie erwartete. »Hast du einen Plan?«
»Ja. Du hast lange Beine, trotzdem wirst du ihnen wohl nicht davonrennen können. Es gibt jedoch eine andere Möglichkeit, bei der wir ausnutzen, was du weißt und sie nicht. Du hast gesagt, sobald man einmal falsch abbiegt, könne man sich in diesem Labyrinth von Gängen und Räumen verirren und nie den Rückweg finden. Mit einem kleinen Vorsprung kannst du sie also in diesen verwinkelten Tunneln abhängen. So riesig wie diese Anlage ist, werden dich vermutlich nicht einmal die Schwestern mit ihren Kräften aufstöbern, und Jagang wird sicherlich keine Zeit mit dir verschwenden.«
Sie wirkte immer noch skeptisch. »Aber ich ...«
»Julian, es ist deine einzige Chance. Ich möchte nicht, dass dir etwas Schreckliches zustößt. Das wird unweigerlich geschehen, solltest du bleiben. Ergreife also diese Chance, denn du musst fort von hier. Mehr kann ich nicht für dich tun.«
Entsetzen breitete sich auf Julians Miene aus. »Du meinst ... du kommst nicht mit?«
Kahlan presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Sie tippte an den Halsring. »Damit können sie mich an der Flucht hindern. Es ist ein magischer Gegenstand. Mich würden sie sofort finden. Aber ich glaube, vorher kann ich sie lange genug aufhalten, um ein wenig Zeit für dich zu schinden.«
»Dann werden sie dir wehtun oder dich sogar umbringen, weil du mir geholfen hast.«
»Schmerz werden sie mir so oder so zufügen - Jagang hat mir bereits das Schlimmste versprochen, das er sich nur vorzustellen vermag. Übler kann es ja nicht werden. Töten werden sie mich allerdings vorerst nicht. Sie brauchen mich noch.
Ich helfe dir zu fliehen, und damit Schluss. Mein Entschluss steht fest. Es ist meine Wahl. Es ist das Einzige, was ich tun kann, die einzige Wahl, die ich treffen kann. Wenn ich dir helfe, wird mein eigenes Leben, gleichgültig, was mit mir geschieht, einen Sinn bekommen. Zumindest habe ich mich gewehrt und diesen einen Sieg über sie davongetragen.«
Julian blickte sie an. »Du bist so tapfer wie der Lord Rahl.«
Kahlan runzelte die Stirn. »Meinst du Richard Rahl? Kennst du ihn?«
Julian nickte. »Er hat mir auch geholfen.«
Kahlan schüttelte verwundert den Kopf. »Für jemanden, der hier draußen in der Einöde lebt, hast du aber schon eine Menge wichtiger Menschen kennen gelernt. Was hat er hier gemacht?«
»Er ist von den Toten zurückgekehrt.«
Kahlan riss die Augen auf. »Wie bitte?«
»Na, nicht richtig von den Toten. Zumindest hat er mir das so gesagt. Aber er stieg aus dem Brunnen der Toten im Friedhof, genau wie es in den Erzählungen heißt. Ich bin die Priesterin der Knochen. Als solche bin ich seine Dienerin, eine Traumwirkerin. Er ist mein Herr. Es hat schon viele Priesterinnen der Knochen gegeben, doch nie hat er sie aufgesucht. Ich hatte keine Ahnung, dass er ausgerechnet zu meinen Lebzeiten zurückkehren würde.
Er kam auch wegen der Bücher. Bei der Suche danach hat er diesen Ort gefunden - ich wusste überhaupt nichts von seiner Existenz. Keiner von meinen Leuten kannte ihn. Nicht einmal mein Großvater kannte diesen Hort der Knochen.
Richard suchte nach einem Buch, mit dessen Hilfe er jemanden finden wollte, der ihm sehr wichtig ist. Das Buch hieß Feuerkette.
Nachdem er diesen Ort entdeckt und mich heruntergeholt hatte, fand ich das Buch. Er war ganz aufgeregt. Ich habe mich sehr gefreut, dass gerade ich ihm helfen konnte.
Seit ich das erste Mal mit ihm hier unten war, habe ich alles erkundet, jede Biegung und jeden Tunnel und jeden Raum. Hoffentlich kehrt Richard eines Tages zurück, wie er es versprochen hat, dann kann ich ihm das Ganze zeigen. Ich wäre so glücklich, wenn er stolz auf mich wäre.«
Kahlan sah das Verlangen in Julians Augen, diesen Mann zufrieden zu stellen und etwas Wichtiges für ihn zu erledigen, damit er ihre Bemühungen und ihre Fähigkeiten anerkannte. Kahlan brannten tausend Fragen auf der Seele, aber sie hatte keine Zeit. Einer konnte sie allerdings nicht widerstehen.
»Wie ist er denn so?«
»Meister Rahl hat mir das Leben gerettet. Ich habe noch nie einen Menschen wie ihn kennen gelernt.« Julian lächelte entrückt. »Er war, also, ich weiß nicht...« Sie fand die passenden Worte nicht.
»Ich verstehe schon«, sagte Kahlan, als sie den verträumten Blick in den kupferfarbenen Augen sah.
»Er hat mich vor diesen Soldaten gerettet, die Jagang auf die Suche nach diesen Büchern ausgeschickt hatte. Ich hatte solche Angst, dass dieser Kerl mir die Kehle durchschneiden würde, aber Richard hat ihn umgebracht. Dann hat er mich in den Armen gehalten und mich getröstet.« Sie blickte auf und riss sich aus ihren Erinnerungen. »Und meinen Großvater hat er auch gerettet. Na ja, eigentlich nicht Richard, sondern das war die Frau in seiner Begleitung.«
»Eine Frau?«
Jillian nickte. »Nicci. Sie behauptete, eine Zauberin zu sein. Eine so wunderschöne Frau. Ich konnte den Blick überhaupt nicht von ihr losreißen. Wie eine Gütige Seele stand sie vor mir, das Haar wie Sonnenstrahlen und Augen wie der Himmel.«
Kahlan seufzte. Warum sollte ein solcher Mann keine Frau haben? Nachdem sie nun von ihr gehört und sich diese Frage einmal gestellt hatte, war es ihr unverständlich, wieso sie überhaupt je etwas anderes gedacht haben konnte.
Sie wusste nicht, weshalb, aber ihr war zumute, als habe sie gerade eine unausgesprochene Hoffnung oder auch nur eine unbegreifliche Sehnsucht nach etwas auserlesen Kostbarem verloren, das sich hinter dem schwarzen Vorhang verbarg, den man vor ihre Vergangenheit gezogen hatte.
Sie musste den Blick von Julian abwenden, sonst hätte sie wegen der aussichtslosen Lage, in der sie festsaß, die Fassung verloren. Ausweichend schaute sie über die Schulter, vorgeblich um nachzusehen, ob der Kaiser und die Schwestern noch beschäftigt waren, und wischte sich eine einsame Träne von der Wange. Die Schwestern hatten sich weiter in ihre Debatte über Einzelheiten des Buchs vertieft. Immer wieder verlangte Jagang zu wissen, wie sie sicher sein konnten, dass bestimmte Abschnitte richtig waren. Als Kahlan wieder nach vorn sah, starrte Julian sie an. »Aber sie war nicht so schön wie du.«
Kahlan lächelte. »Feingefühl gehört wohl zu den unvermeidlichen Eigenschaften einer Priesterin der Knochen.«
»Nein«, erwiderte Julian, plötzlich besorgt, dass Kahlan ihr nicht glauben wollte. »Ehrlich. Du hast so etwas an dir.«
Kahlan zog die Stirn hoch. »Was meinst du damit?«
Julians Nase kräuselte sich, während sie nach den richtigen Worten suchte. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Du bist sehr schön und klug und weißt immer, was du zu tun hast. Bloß ist da noch etwas. Du bist...«
Kahlan fragte sich, ob dies eine Verbindung zu der Person sein konnte, die sie wirklich war. Lange hatte sie jemanden gesucht, der sie sehen und sich an sie erinnern und ihr vielleicht einen Hinweis geben konnte.
»Wie denn?«
»Ich weiß nicht. Irgendwie edel.«
»Edel?«
Julian nickte. »Du erinnerst mich ein bisschen an Lord Rahl. Er hat mir ohne zu zögern das Leben gerettet, genauso wie du es vorhast. Aber nicht nur das. Ich kann es einfach nicht in Worte fassen. Er hatte so etwas an sich ... und bei dir ist es ebenso.«
»Gut. Zumindest habe ich dann eine Sache mit ihm gemeinsam, weil ich in Kürze auch dein Leben retten werde.«
Kahlan holte tief Luft und blickte erneut nach hinten. Die anderen stritten sich immer noch. Sie wandte sich wieder Julian zu.
»Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt.«
»Aber ich mache mir trotzdem Gedanken wegen meines Großvaters ...«
Kahlan blickte dem Mädchen einen Moment in die Augen.
»Hör mir zu, Julian. Du kämpfst um dein Leben. Es ist das einzige Leben, das dir jemals vergönnt sein wird. Nur weil du bleibst, werden sie keine Gnade walten lassen. Ich weiß, dein Großvater würde sich wünschen, dass du diese Chance ergreifst.«
Julian nickte. »Natürlich hast du recht. Lord Rahl hat mir fast das Gleiche über den Wert meines Lebens gesagt.«
Aus irgendeinem Grund heiterte dies Kahlan auf und brachte sie zum Lächeln. Letzteres verging ihr allerdings schnell, als sie wieder an die Aufgabe dachte, die vor ihr lag. Es war ihr unmöglich einzuschätzen, ob Jagang und die Schwestern bald fertig wären oder noch den Rest der Nacht benötigen würden, trotzdem durfte sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
»Wir müssen es jetzt durchziehen, ehe ich die Nerven verliere. Du tust exakt das, was ich sage.«
»Ja«, gab Julian zurück.
»Ich gehe folgendermaßen vor: Du bleibst hier. Ich schleiche mich zu den beiden Wachen und töte sie.«
Julian quollen die Augen über. »Was machst du?«
»Sie töten.«
»Wie denn? Du bist bloß eine Frau, und sie sind groß. Und zu zweit.«
»Es ist nicht schwierig, wenn man nur weiß, wie.«
»Schneidest du ihnen die Kehlen durch?«, riet Julian.
»Nein. Das würde zu viel Lärm machen. Außerdem würde mir das nicht bei beiden gleichzeitig gelingen. Deshalb hole ich mir noch zwei Messer von ihnen, stelle mich hinter sie und steche ihnen die Klingen ... hier hinein.«
Kahlan piekte mit dem Zeigefinger in Julians Rücken, genau in das weiche Fleisch über den Nieren. Selbst bei dem leichten Stoß stöhnte das Mädchen vor Schmerz, so empfindlich war die Stelle.
»Jemanden in die Nieren zu stechen ist so schmerzhaft, dass der Getroffene nicht mehr schreien kann.«
»Das meinst du nicht ernst. Bestimmt schreien sie.«
Kahlan schüttelte den Kopf. »Der Schmerz ist so stark, dass sich die Kehle verkrampft. Der Schrei bleibt in der Lunge stecken. Das ist unsere Chance. Ehe sie zusammenbrechen und sterbend auf dem Boden landen, sind wir schon durch die Tür hinaus. Das muss leise und gleichzeitig schnell vonstatten gehen. Vermutlich haben wir nur einen Augenblick Zeit, bis wir entdeckt werden, aber mehr brauchen wir nicht, damit du verschwinden kannst.
Du bleibst jetzt hier stehen. Sobald ich die Wachen erstochen habe, eilst du zur Tür, so schnell du kannst, jedoch ohne jeglichen Laut. Ich warte an der Tür auf dich.«
Julian keuchte vor lauter Angst. In den Augen standen ihr Tränen.
»Aber ich möchte, dass du mitkommst.«
Kahlan umarmte das Mädchen.
»Ich weiß. Doch mehr als dies kann ich nicht tun, um dich zu beschützen, Julian. Allerdings glaube ich, es wird genügen, um zu fliehen.«
Julian wischte sich die Augen. »Was werden sie dir antun?«
»Mach du dir nur Sorgen darum, wie du verschwindest. Wenn ich eine Chance zur Flucht bekomme, werde ich sie nutzen, versprochen. Sag Lokey, er soll nach mir Ausschau halten, für den Fall, dass ich es schaffe.«
»Ja, gut.«
Gewiss weckte Kahlan damit falsche Hoffnungen. Sie legte Julian die Hand auf die Schulter und blickte ein letztes Mal zu den vieren am Tisch. Das geschah gerade zum rechten Zeitpunkt. Denn in diesem Moment schaute sich Jagang nach Kahlan um. Sie stand schweigend neben Jillian, beobachtete ihn und die Schwestern bei der Arbeit, als hätte sie das die ganze Zeit getan, und schien sich geduldig in ihr Schicksal gefügt zu haben. Er wandte sich wieder dem hitzigen Wortgefecht zwischen Schwester Ulicia und Schwester Cecilia zu. Schwester Ulicia gab sich einmal mehr so stur wie ein Maultier, Schwester Cecilia versuchte hingegen, Jagang zu besänftigen, indem sie ihm ganz nach dem Mund redete. Nachdem Kahlan sicher war, dass Jagangs Aufmerksamkeit wieder vollständig den Schwestern galt, machte sie sich unverzüglich zu den Wachen auf. Der eine Mann beäugte Julian mit zunehmend unverhohlener Gier. Kahlan zog ihm ein langes Messer aus dem Waffengurt. Sofort darauf wiederholte sie das bei dem zweiten Mann.
Sodann stellte sie sich hinter die beiden, schaute rasch zu den Schwestern und Jagang, die sich weiterhin miteinander beschäftigten, und warf Julian einen Blick zu. Das Mädchen wischte sich die Hände an den Hüften ab und nickte.
Kahlan zog der Wache zu ihrer Linken ein Messer aus einer Scheide, die ihm an der Seite hing. Die Klinge nahm sie quer zwischen die Zähne.
Ohne weitere Zeit zu vergeuden, musterte sie den unteren Rücken der Wachen und suchte die Stelle, die sie treffen musste. Bei dem linken Mann wählte sie die rechte Seite, bei dem rechten die linke, weil sie so den geringsten Abstand zu überbrücken hatte und mit ganzer Kraft zustechen konnte.
Nun sah sie zwischen den beiden hin und her und vergewisserte sich, dass sie mit den Messern auf die richtigen Punkte zielte. Wenn sie nicht traf, würde das tödliche Folgen haben, allerdings nicht unbedingt für die Männer. Julian und sie selbst würden den Preis für den Fehler zahlen. Die Klingen mussten beim ersten Stich sitzen. Kahlan holte tief Luft, hielt sie kurz in der Lunge, ehe sie ausatmete und diese Kraft in den Stoß legte. Mit voller Wucht rammte sie jedem Mann ein Messer bis zum Heft in den Rücken.
Beide Wachen erstarrten im Schock.
Kahlan hatte bereits wieder Luft geholt. Diesmal presste sie den Atem so schnell sie konnte wieder heraus und nutzte ihre beträchtliche Kraft, um die Messer hin und her zu reißen - auf diese Weise würden die Klingen die Nieren der Männer regelrecht aufschlitzen.
Die zwei standen steif und verdreht da und wölbten den Rücken unter den unerträglichen Schmerzen. Ihre Augen traten hervor, ihr Mund ging auf, doch gaben sie keinen Laut von sich. Tödlich getroffen waren sie nicht fähig, einen letzten Atemzug zu tun oder einen Schrei auszustoßen.
Als Kahlan aufsah, war Julian bereits unterwegs. Kahlan drehte sich rasch um und öffnete einen der schmalen Türflügel. Sie wollte den Verfolgern nicht den Weg freimachen, indem sie beide aufzog. Das Mädchen war da. Die Knie der Männer gaben nach. Kahlan legte Julian die Hand zwischen die Schultern und schob sie durch die Tür in den Gang hinaus.
Nun nahm sie das Messer aus dem Mund. »Lauf. Bleib auf gar keinen Fall stehen.«
Julian nickte. Sie rannte davon, als wäre ihr der Hüter persönlich auf den Fersen.
Kahlan wollte sich umdrehen und die Tür schließen, doch in diesem Moment schlugen die Wachen auf den Boden.
Erschrocken fuhren vier Köpfe herum. Kahlan zog die Tür zu und rannte ebenfalls los, als hätte sich der Hüter gezeigt und wäre auch ihr auf den Fersen.
Julian war bereits ein gutes Stück vorangekommen, bis zu einer Stelle, an der mehrere Gänge in verschiedene Richtungen abzweigten. Das Mädchen hielt an und sah zu Kahlan zurück. Sie wechselten kurz einen Blick, der alles sagte, was zu sagen war, und dann verschwand Julian in einem der Gänge. Dort hinten herrschte solche Dunkelheit, dass Kahlan nicht sicher war, welchen Julian gewählt hatte.
Hinter ihr explodierte splitternd Holz, als hätte jemand die Flügeltür gesprengt. Plötzlich fiel Fackelschein in den Gang und tauchte Kahlan in Licht. Augenblicklich blieb sie stehen und drehte sich um. Sie packte das Messer an der Spitze. Im Raum sah sie Schemen auf die Tür zulaufen.
Mit aller Kraft holte sie aus und warf das Messer, obwohl noch niemand in der Tür aufgetaucht war.
Es war Schwester Cecilia, die, außer sich vor Wut, zuerst herausdrängte. Das Messer traf sie in die Brust. Kahlan hatte gehofft, Jagang würde der Erste sein, doch geglaubt hatte sie daran nicht, und deshalb hatte sie entsprechend gezielt. Die Klinge hatte Schwester Cecilia das Herz durchbohrt.
Die Schwester ging wie ein Sack zu Boden. Kahlan drehte sich um und stürmte los. Noch im Umdrehen sah sie, wie ihre anderen Verfolger über die Leiche stolperten.
Kahlan rannte wie nie zuvor in ihrem Leben. An der ersten Ecke bog sie nach links ab. Sie wusste nicht, welcher Richtung Julian gefolgt war, doch sie konnte das Mädchen nirgendwo entdecken. Es war verschwunden.
Unvermittelt breitete sich Heiterkeit in Kahlan aus, dazu die Erregung des Erfolgs. Es hatte geklappt. Sie hatte ihr Versprechen Julian und sich selbst gegenüber gehalten. Zumindest hatte sie ihnen diesen einen Schlag versetzt.
Sie kicherte über ihren Sieg, während sie wie eine Wahnsinnige rannte. Sie hatte nicht nur zwei Wachen, sondern auch Schwester Cecilia erwischt. Die Erinnerung an den Schmerz, den diese Frau ihr zugefügt hatte, und an die Befriedigung, die die Schwester dabei empfunden hatte, stiegen in ihr auf, und Kahlan genoss ihre Rache. Nachdem Julian nun verschwunden war, keimte jedoch auch Angst in ihr und wuchs schnell an. Sie wusste, ihr selbst würde die Flucht nicht gelingen. Sie konnte nur rennen, immer wieder sporadisch abbiegen und auf das Ende warten.
Und das traf sie mit einem überwältigenden Schmerzschock. So, dachte sie, musste es sich für die beiden Wachen angefühlt haben. Sie wusste, sie landete auf dem Boden, doch sie spürte es nicht. Und dann fühlte es sich an, als würde die Decke und mit ihr die gesamte Stadt über ihr zusammenbrechen.
Die Welt wurde schwarz wie ein Grab.