41

Richard folgte dem funkelnden Lichtpunkt in den alten Wald, einen Ort des Friedens und der Ruhe. So große Bäume hatte er nie in seinem Leben gesehen. War es nicht eigenartig, dass so winzige Wesen unter solchen Baumriesen lebten?

Richard erschien es, als würden sie stundenlang gehen, aber vielleicht lag es nur daran, dass er so erschöpft war. Schließlich traten sie zwischen den Bäumen hervor auf eine weite Lichtung, und Richard mochte seinen Augen kaum trauen. Es war genau so, wie Kahlan es beschrieben hatte. Auf der Wiese funkelten Hunderte von Irrlichtern, die zwischen hohen Grashalmen und Wildblumen schwebten. Im Vergleich mit den Sternen im Gras wirkten die Sternhaufen oben, die durch die Lücke in den hoch aufragenden Kiefern zu sehen waren, leblos und tot.

Wie wunderschön dieser Anblick auch sein mochte, Richard wurde schwer ums Herz, denn die Szene erinnerte ihn an Kahlan, an den Tag, an dem er sie kennen gelernt hatte, an dem sie ihn Shar vorgestellt hatte, an dem sie ihm von den Irrlichtern erzählt hatte. Kahlan und die Irrlichter waren für ihn auf ewig untrennbar miteinander verbunden.

Und jetzt, nach all der Zeit, hatte er erfahren, dass seine Mutter ins brennende Haus zurückgelaufen war, um ein Irrlicht zu retten. Sie war nicht allein gestorben.

Alles nur, weil vor Tausenden von Jahren ein Mann in einen Tempel gegangen war und etwas getan hatte, aufgrund dessen Richard mit beiden Seiten der Gabe geboren worden war, der Gabe, über die er, wie die Silph gesagt hatte, nun nicht mehr verfügte. Als Richard ins Gras trat, kamen einige Irrlichter näher geflogen und betrachteten neugierig den Fremden. Sie leuchteten mal heller, mal dunkler, als würden sie miteinander kommunizieren.

»Wie heißt du?«, fragte Richard das Irrlicht, das ihn geführt hatte.

»Ich heiße Tarn.«

Richard schaute den Irrlichtern zu, die sich näherten, an ihm hinaufschwebten und dann davonschossen.

»Unsere Zahl nimmt ab«, berichtete Tarn. »Das ist nie zuvor vorgekommen. Wir leben in einer Zeit des Leids und kennen nicht einmal die Ursache dafür.«

»Die Ursache ist einer der Gründe, weshalb ich hier bin«, erwiderte Richard. »Ich hoffe, Hilfe zu finden, damit ich aufhalten kann, was immer die Krankheit der Irrlichter verursacht. Wenn ich keinen Erfolg habe, werdet ihr alle vom Antlitz der Welt verschwinden.«

Tarn dachte schweigend darüber nach. Andere, die Richards Worte vernommen hatten, stoben davon und sanken an dunklen Stellen ins Gras, als suchten sie nach einem stillen Ort, an dem sie weinen konnten. Manche hingegen kamen näher.

»Viele hier kannten Ghazi«, sagte Tarn. »Sie vermissen ihn. Kannst du uns erzählen, was er sagte, ehe sein Leben endete? So, wie du es von Shar berichtet hast?«

»Tut mir leid, Tarn, aber Ghazi habe ich nicht kennen gelernt. Ich wusste nicht einmal, dass er meine Mutter besuchte. Ghazi und meine Mutter müssen gestorben sein, ehe er die Chance erhielt, uns den Anlass seines Besuches zu erzählen.«

Richard fragte sich, ob es möglicherweise einen Zusammenhang mit dem Feuer gab.

Viele Irrlichter wurden matter, als wären sie enttäuscht darüber, dass er ihnen Ghazis letzte Worte nicht übermitteln konnte. Richard erinnerte sich daran, warum er hier war, und wandte sich an seinen Führer.

»Bitte, Tarn, ich bin aus einem wichtigen Grund hier. Wie ich schon gesagt habe, kann ich vielleicht helfen, das Leid der Irrlichter zu beenden. Baraccus hat bei euch etwas für mich hinterlassen. Seine Bibliothek befindet sich hier. Er hat seine Frau mit einem Buch für mich geschickt.«

»Magda«, sagte eines der Irrlichter, die ihn umschwebten. Richard war nicht sicher, welches sprach, aber es klang entschieden weiblicher als Tarn.

»Das stimmt.«

»Es geschah lange vor unserer Zeit«, fuhr sie fort, »aber Baraccus’ Worte wurden uns überliefert. Noch immer bewahren wir das Geheimnis, welches er uns anvertraut hat. Ich bin Jass. Komm. Tarn und ich zeigen es dir.«

Tarn und Jass führten Richard durch das zarte Gras auf die Baumriesen zu seiner Linken zu. Unter den Bäumen, abseits der offenen Wiese, betraten sie wieder eine Welt der Dunkelheit. Doch die beiden Irrlichter gaben genug Licht, damit er den Weg erkennen konnte.

»Wie weit ist es?«, fragte Richard.

»Nicht weit«, antwortete Jass.

»Der Ort liegt innerhalb unseres Reiches«, erklärte Tarn, »ein Ort, den wir bewachen und beschützen können. Im Laufe der Jahrtausende fiel der Same von Legenden auf den fruchtbaren Boden der wenigen Tatsachen, wurde von Wünschen gewässert und wuchs und gedieh. Am Ende brachte er reiche Frucht an Gerüchten hervor, die sich mit dem Winde des Gewispers verbreiteten - es hieß, wir bewahrten einen sagenhaften Goldschatz. Nichts vermochte die Gläubigen zu überzeugen, dass es eine Erfindung war. Der Wahrheit fehlt der Glanz des Goldes für diese Menschen. Ihr Traum, unverdienten Reichtum zu ernten, war zu stark, und so opferten sie lieber das, was ihnen wirklich teuer war, als die Wahrheit über diesen leeren Glauben anzunehmen.«

»Was wir verstecken, ist kein Schatz«, sagte Jass, »sondern ein Versprechen, das uns Vorfahren gegeben haben.«

»Es ist schon eine Art Schatz«, erklärte Richard ihnen. »Jedenfalls für die richtige Person.«

Was die Irrlichter als nicht weit bezeichneten, erschien Richard doch als anständige Strecke. Es wurde immer anstrengender, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sein Magen knurrte vor Hunger, während sie durch den stillen Wald zogen.

Mitternacht musste längst vorüber sein, als die Bäume endeten und Richard ein Tal erblickte, das sich unter ihm im silbrigen Mondschein ausbreitete. Dichter Wald bedeckte den Boden und erstreckte sich wie eine Matte aus Bäumen an den Hängen hinauf. Von dieser Stelle, an der er stand, konnte er nicht nur die ganze Länge des Tals überblicken, sondern auch die unvergessliche Schönheit all dessen genießen, das er stets so geliebt hatte. Er sehnte sich danach, dieses Land zu erkunden und durch die Wälder zu streifen - doch nur zusammen mit Kahlan. Ohne sie war Schönheit nur ein Wort. Ohne Kahlans Lächeln war die Welt leer und tot.

»Dies ist der Ort der Bibliothek, die Meister Baraccus uns zu hüten auftrug«, sagte Tarn.

Richard schaute sich um. Er sah Farne, Schlingpflanzen, die sich aus der Dunkelheit oben herunterwanden, und die gigantischen Stämme der Kiefern.

»Wo?«, fragte er. »Ich sehe keine Gebäude.«

»Hier«, sagte Jass und schwebte zu einem kleinen Felsen, auf dem sie sich niederließ. »Hier drunter liegt die Bibliothek.«

Richard kratzte sich den Kopf. Der Ort erschien ihm eigentümlich gewählt für eine Bibliothek. Dann jedoch erinnerte er sich an den Eingang der Bibliothek in Caska, der sich unter einem Grabstein befunden hatte. In diesem Licht ergab es durchaus Sinn. Ein Gebäude wäre längst entdeckt und ausgeraubt worden. Er bückte sich, legte die Schulter in eine Wölbung im Fels und drückte. Um eine solch riesige Steinscheibe zu bewegen, fehlte ihm bestimmt die Kraft, dennoch legte er sein ganzes Gewicht gegen den Fels. Langsam begann sich der Stein zur Seite zu drehen. Die Irrlichter schwebten heran und schauten sich mit Richard an, was sich unter dem Fels befand. Der Stein hatte auf einer kleinen, sorgfältig geglätteten Einfassung gelegen. Es gab weder ein Loch noch eine Treppe, die nach unten führten.

Richard kniete nieder und packte in das, was sich unter dem Stein und innerhalb der Einfassung befand. Es war weich und trocken.

»Das ist nur Sand.«

»Ja«, meinte Jass. »Als Magda kam, folgte sie den Anweisungen ihres Gemahls und füllte mithilfe von Magie den Hohlraum.«

Richard mochte es kaum glauben. »Mit Sand?«

»Ja«, erwiderte Jass.

»Wie viel Sand?«, wollte Richard wissen. Er hatte wenig Lust, ein sandgefülltes Loch leerzugraben, wie klein es auch sein mochte.

»Siehst du den kleinen Fluss da unten?«, fragte Jass. Richard schaute in das mondbeschienene Tal hinunter. Dort sah er die glitzernde Oberfläche von Wasser, das zwischen Sandbänken hindurchfloss.

=»Ja.«=

»Wie uns überliefert wurde«, fuhr Jass fort, »brachte Magda einen mächtigen Zauber von Baraccus mit. Damit erzeugte sie einen Wirbelwind, der den Sand vom Flussufer heraufwehte, in dieses Loch sinken ließ und den Raum auffüllte, um die Bücher zu beschützen.«

»Zu beschützen?«, hakte Richard nach. »Wovor?«

»Vor jedem, der bis hierher vordringen würde. Der Sand soll jeden zurückhalten, der sich das holen will, was sich dort unten befindet.«

»Also, wenn es genug Sand ist, würde der jemanden sicherlich aufhalten.« Argwöhnisch blickte Richard die beiden Irrlichter an, die sich langsam im Mondlicht drehten. »Wie viel Sand ist es denn?«

Tarn schwebte über die Kante des Abhangs hinaus. »Siehst du den Vorsprung dort unten?«

Richard beugte sich vorsichtig über die Kante und spähte hinunter. Bis zu dem schmalen Felsgesims mussten es mehrere hundert Fuß sein.

=»Ja.«=

»Auf der Höhe befinden sich die Räume der Bibliothek.«

»Die Bibliothek ist unter so viel Sand vergraben - dort unten?«

»Ja«, antwortete Tarn.

Richard war sprachlos. Mit dem Sand musste man einen ganzen Palast füllen können. »Wie soll ich das ausgraben? Dafür brauche ich ja ewig.«

Tarn kehrte zurück und schwebte dicht vor seinem Gesicht. »Mag sein. Aber Baraccus sagte, wenn du der Eine seiest, würdest du wissen, was du zu tun hast.«

»Wenn ich der Eine bin?« Entmutigung befiel ihn mit einem Gewicht, als hätte sich der ganze Berg Sand über ihn ergossen.

»Warum muss immer ich der Eine sein?«

Tarn drehte sich einen Moment lang. »Das wissen wir auch nicht.«

Richard stöhnte vor Enttäuschung - so nah dem Ziel und doch so weit entfernt. »Wenn ich der Eine bin, warum konnte er mir nicht einfach eine Nachricht hinterlassen, damit ich weiß, was ich zu tun habe?«

Tarn und Jass schwiegen einen Augenblick, als würden sie nachdenken.

»Nun, es wurde noch etwas überliefert«, sagte Jass schließlich.

»Und zwar?«

»Baraccus sagte, die Irrlichter müssen diesen Ort viele Zeitalter lang bewachen, doch wenn der Sand der Zeit schließlich durchgerieselt wäre, würde der Eine, für den das Buch bestimmt ist, hierher kommen und es sich holen.« Jass drehte sich näher heran. »Hilft dir das, Richard Cypher?«

Richard rieb sich mit den Händen das Gesicht. Warum konnte Baraccus ihm nicht einfach mitteilen, wie er die Geheimnisse der Kraft eines Kriegszauberers fand? Vielleicht dachte der Zauberer, dass der Mann, der das Buch bekommen sollte, seine Kräfte bereits bis zu dem Punkt entwickelt haben musste, an dem der Sand kein Hindernis mehr für ihn darstellte. Oder er hatte geglaubt, Richard müsse wissen, wie man einen magischen Wirbelwind erzeugt, der den Sand aus dem Loch heraussaugte. Falls das stimmte, war Richard nicht der Eine. Er wusste nicht, wie er seine Kräfte anwenden konnte, und er verfügte nicht mehr über seine Gabe, seit er in der Sliph gewesen war.

So weit es Richard betraf, war der Sand der Zeit bereits durchgelaufen. Die Schwestern der Finsternis hatten die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht; die Chimären hatten die Welt des Lebens verunreinigt und mit der Zerstörung der Magie begonnen, was vermutlich das große Elend war, unter dem die Irrlichter litten; und die Armee der Imperialen Ordnung wütete ungehindert in der Neuen Welt. Ihn persönlich hatte Kahlans Entführung getroffen, und nun stand Kahlan unter dem Einfluss des Feuerkettenbanns und brauchte dringend seine Hilfe.

Während er hier stand und wartete, bis der Sand der Zeit durchgerieselt wäre.

Richard nahm die Hände vom Gesicht und runzelte die Stirn. Er beugte sich über den Rand der Steilwand und schaute hinunter zum Sims. Der Sand der Zeit.

Er blickte nach links und musterte den Fels. Dort entdeckte er nichts, was ihm hilfreich hätte sein können, doch rechts gewahrte er einen Weg, an dem er hinabsteigen könnte. Er nahm sein Bündel ab, stellte es auf den Boden, suchte seine kleine Schippe heraus und steckte sie hastig zusammen.

»›Wenn der Sand der Zeit schließlich durchgerieselt wäre, würde der Eine, für den das Buch bestimmt ist, hierher kommen und es sich holen.‹«, zitierte er. »Habt ihr das gesagt?«

»Ja«, meinte Jass. »Das haben wir gesagt.«

Richard schaute erneut in die Tiefe. »Ich muss dort hinunter, zu dem Sims«, erklärte er den Irrlichtern.

»Wir kommen mit und leuchten dir«, bot Tarn an.

Richard verschwendete keine Zeit und kletterte über die Felskante. Der Abstieg erwies sich als so schwer, wie er ihn eingeschätzt hatte, doch dauerte es nicht lange, und bald schon stand er auf dem schmalen Sims weit unter der Stelle, wo er den Felsen aus dem Weg gewälzt hatte.

Er suchte in der Felswand und stieß die Schippe hinein, bis er entdeckte, wonach er Ausschau gehalten hatte. Sofort begann er zu graben und zu schaufeln und stocherte Steine heraus, die so fest saßen, dass es im schwachen Licht, das der Mond und die beiden Irrlichter spendeten, kaum zu entscheiden war, ob es sich tatsächlich um das handelte, was er dachte. Als der Fels sich lockerte, stieg seine Zuversieht. Je mehr Bruchstücke er hervorholte, desto leichter fiel ihm die weitere Arbeit.

Bei den größeren Steinen musste er vorsichtig zu Werke gehen; ein falscher Schritt, und er könnte ausrutschen und von dem schmalen Sims fallen. Manche der Brocken in dem zunehmend größeren Loch konnte er nicht anheben, also wälzte er sie aus der Öffnung heraus. Glücklicherweise konnte er das Gestein unter den meisten lösen und die schwereren herausrollen. Er stand neben dem Loch und ließ die Felsen und Steine an sich vorbei in die Tiefe fallen, schaute ihnen zu, wie sie lautlos durch die Nachtluft sausten, bis sie tief unten in den Wald krachten.

Plötzlich durchstieß die Schaufel weichen Grund; der Rest des Felspfropfens löste sich knirschend, und Bruchstücke brachen wie ein Wasserfall hervor. Richard musste rasch zur Seite ausweichen. Grollend und rumpelnd folgte der Sand, der zunächst in weitem Bogen über den Rand hinausschoss, ehe er in einer Säule nach unten fiel.

Richard stand mit Herzklopfen da, überrascht von der Wucht, mit der sich der Sand unvermittelt aus der nun freien Öffnung ergoss, und drückte sich mit dem Rücken an die Felswand. Die beiden Irrlichter drehten sich und schauten sich das verblüffende Schauspiel an. Eines von ihnen - Richard war allerdings nicht sicher, welches -folgte dem Sandstrahl nach unten und kehrte schließlich zurück. Es schien ewig zu dauern, doch endlich verringerte sich der Strom zu einem Rinnsal.

Ohne weitere Zeit zu vergeuden, stieg Richard in das Loch.

»Kommt«, rief er den Irrlichtern zu. »Ich brauche Licht.«

Die beiden Irrlichter kamen seiner Bitte nach, flogen über seine Schultern hinweg und drangen als Erste in die Höhle ein. Nun, da es in der Kammer hell wurde, richtete Richard sich auf, klopfte sich den Sand von der Kleidung und schaute sich die Regale voller Bücher an. Der Gedanke, dass er nach Magda Searus, der Ur-Mutter Konfessor, der Erste war, der diesen Ort betrat, ließ ihn schaudern. Das erinnerte ihn an Kahlan, die er finden musste, also begann er unverzüglich mit der Suche. Es schien eine eher einfache Bibliothek zu sein. Auf der anderen Seite des Raums führte eine Tür tiefer in den Berg. Er sah Schatten weiterer Türen und eine Wendeltreppe. Zwar war der meiste Sand durch das Loch hinausgerieselt, doch die Reste bedeckten noch die gesamte Einrichtung mit einer dünnen Schicht. Es würde einige Zeit dauern, sauberzumachen und festzustellen, was es hier wirklich zu finden gab.

Rechts allerdings lag auf einem Steinsockel an der Wand ein Buch für sich allein. Richard hob es hoch und blies Sand und Staub vom Einband.

Der Titel lautete Geheimnisse der Kraft eines Kriegszauberers.

Sanft glitten seine Finger über die goldenen Buchstaben, und er begann die Worte zu lesen, die für ihn bestimmt waren. Die Erkenntnis, dass ein Kriegszauberer, der Oberste Zauberer Baraccus selbst, dieses Buch für denjenigen verfasst hatte, der mit den Kräften geboren wurde, die er aus dem Tempel der Winde entlassen hatte, erfüllte Richard mit Ehrgeiz. Richard hatte endlich den Schatz gefunden, den Baraccus ihm hinterlassen hatte. Je ein Irrlicht schwebte über jeder Schulter und schaute ihm zu, während er respektvoll das Buch anstarrte, das die Antworten auf seine Fragen enthielt und ihm endlich helfen würde, seine Gabe zu meistern.

Richard schlug mit klopfendem Herzen den Einband auf, um zu erfahren, was Baraccus ihm mitteilen wollte.

Die erste Seite war leer.

Richard schlug die nächsten Seiten auf, doch sie waren alle leer. Er blätterte das ganze Buch durch, doch außer den Wörtern auf dem Einband war das Papier vollständig leer!

Richard rieb sich die Schläfen zwischen Daumen und Finger. Er hatte das Gefühl, er müsse sich übergeben.

»Könnt ihr etwas sehen?«

»Nein«, antwortete Jass. »Leider nein.«

»Ich sehe nicht einmal Spuren von Schrift«, fügte Tarn hinzu. In diesem Augenblick begriff Richard, worin das Problem bestand. Sein Mut sank.

Geheimnisse der Kraft eines Kriegszauberers war ein Lehrbuch für eine bestimmte Form der Gabe. Das Buch erforderte Magie. Aus irgendeinem Grund war Richard der Zugriff auf seine Gabe verwehrt worden. Ohne diese Hilfe würde er sich nicht merken können, was immer in diesem Buch stand. Er würde die Wörter vergessen, ehe er sich erinnerte, sie gelesen zu haben.

So, wie er sich auch nicht mehr an ein einziges Wort aus dem Buch der gezählten Schatten erinnerte, entfiel ihm der Inhalt von Geheimnisse der Kraft eines Kriegszauberers sofort nach dem Lesen. Ohne die Gabe würden die Seiten für ihn immer leer bleiben. Ehe er nicht herausbekommen hätte, was mit seiner Gabe nicht stimmte, würde er das Buch nicht lesen können.

»Ich werde es mitnehmen«, verkündete Richard den Irrlichtern.

»Genau das hat Baraccus gesagt, Richard Cypher«, sagte Tarn. Richard fragte sich, ob Baraccus auch über diese widrigen Begleitumstände Bescheid gewusst hatte. Gleichwie, Richard hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Er kroch durch das Loch und stieg an der Felswand wieder nach oben.

Der Fels ragte über die Öffnung der Bibliothek, bemerkte er bei einem Blick zurück, vermutlich, damit Wasser den Stopfen nicht im Laufe der Zeit auswaschen oder in die Kammer eindringen konnte. Der Sand musste trocken bleiben, um die Bücher zu schützen und damit er herausrieseln konnte. Richard entschied, dass die Bibliothek im Augenblick recht sicher vor Regen war.

Oben angekommen, verstaute er das wertvolle Buch in seinem Bündel. In der Steineinfassung, in der sich zuvor Sand befunden hatte, führte jetzt eine Wendeltreppe in die Dunkelheit. Um sicherzugehen, dass niemand die geheimen Bücher entdeckte, schob er den großen Felsen unter großer Anstrengung wieder an Ort und Stelle.

Keuchend und völlig erschöpft schwang er sich schließlich sein Bündel auf den Rücken. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Auf dem Rückweg durch den dunklen Wald sprach Richard wenig mit den Irrlichtern, bedankte sich aber ausdrücklich für ihre Hilfe.

Als sie die Wiese erreichten, bewunderte er den Anblick der Irrlichter, die durch Gras und Blumen schwebten. Manche kreisten zu zweit in einem verwirrenden Tanz umeinander. Er fragte sich, wie viel mehr Irrlichter es gegeben hatte, als Kahlan hier gewesen war. Er vermisste Kahlan so sehr, dass sich ihm ein Kloß im Hals bildete. Sie war seine Welt. Und diese ganze Welt schien ihm in so vielerlei Hinsicht zu entgleiten.

»Ich muss aufbrechen«, sagte er zu Tarn und Jass. »Hoffentlich kann ich das, was ich gefunden habe, einsetzen, um das Leiden der Irrlichter und aller anderen zu beenden.«

»Kommst du eines Tages zurück?«, fragte Jass.

Richard dachte an die verborgene Bibliothek und nickte. »Ja. Und ich hoffe, Kahlan mitzubringen, an die ihr euch dann vielleicht wieder erinnern werdet. Ich weiß, sie würde sich sehr freuen, euch zu sehen.«

»Wenn wir uns an sie erinnern«, meinte Jass, »werden wir uns ebenfalls freuen.«

Richard wagte es nicht, seine Stimme erneut auf die Probe zu stellen, nickte nur und ging los.

Tarn geleitete ihn durch den uralten Wald und zeigte ihm den Weg. Am Rand der riesigen Bäume hielt das Irrlicht an.

»Baraccus war weise, dich auszuwählen, Richard Cypher. Ich glaube an dich. Du hast alles, was du brauchst, um erfolgreich zu sein. Ich wünsche dir alles Gute.«

Richard lächelte traurig. Wenn er nur so sicher sein könnte. Er verfügte nicht mehr über seine Gabe - selbst wenn er sie noch in sich trug - und er hatte keine Ahnung, wie er zum Erfolg gelangen sollte. Möglicherweise konnte Zedd ihm helfen.

»Danke, Tarn. Du und die Irrlichter, ihr habt das, was Baraccus bei euch hinterlegt hat, gut gehütet. Ich werde mein Bestes geben, um euch und die übrigen Unschuldigen zu beschützen, die von Gefahr bedroht sind.«

»Wenn du scheiterst, Richard Cypher, wird es gewiss nicht daran liegen, dass du dich nicht genug angestrengt hättest. Falls du jemals wieder unsere Hilfe brauchst, sag einfach, wie Shar es dir erklärt hat, einen unserer Namen, und wir werden unser Möglichstes tun.«

Richard nickte, ging los und drehte sich noch einmal um. Das Irrlicht kreiste einen Moment lang rosafarben und verschwand dann zwischen den Bäumen. Plötzlich fühlte er sich schrecklich verlassen, so ganz allein im Mondlicht.

Die toten Eichen schienen sich ewig auszudehnen. Er trabte benommen dahin. Ruhe und Essen brauchte er, doch wollte er zunächst diesen eigenartigen Wald hinter sich bringen. Zwischen den Wurzeln sah er Knochen, als würden die Bäume versuchen, die Toten an ihren Busen zu drücken.

Irgendwo in diesem toten Wald, nachdem er endlos gewandert war und seinen sorgenvollen Gedanken nachgehangen hatte, spürte Richard unvermittelt eine Kühle in der Luft, die ihn schaudern ließ. Beim Luftholen schmerzte die scharfe Kälte in den Lungen. Es kam ihm vor, als wäre er dem Winter geradewegs in die Klauen gelaufen.

Zwischen den Schädeln stand ein aufrechter Schemen. Beim zweiten Blick rann ihm erneut ein Schauer über den Rücken.

Dort stand eine große Frau mit schwarzem borstigem Haar. Sie trug eine pechschwarze Robe. Ihre Haut leuchtete blass wie der Mond, sodass ihr hageres Gesicht im Dunkeln zu schweben schien. Das ausgedörrte Fleisch spannte sich fest über die Knochen, wie man es sich bei einem Toten vorstellt, der einige Zeit in diesem verwunschenen Wald gelegen hat und auf die Würmer wartet. Sie lächelte dünn und drohend und gehörte offensichtlich zu der Sorte Lebewesen, die denjenigen, für den sie keine Verwendung mehr hat, einfach hier unter den verwesenden Toten verrotten lässt. Richard war so kalt, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Er zitterte, schaffte es jedoch nicht, dem Einhalt zu gebieten. Weder Finger noch Zehen spürte er. Er wollte sich bewegen, fortrennen, aber seine Beine versagten ihm den Dienst.

Er hatte keine Gabe, die er hätte rufen können. Er hatte kein Schwert, das er ziehen konnte.

Angesichts des trügerischen Blicks aus diesen weißblauen Augen fühlte er sich vollkommen hilflos.

Richard fragte sich, ob sein Leben hier an diesem einsamen Ort enden würde, ob seine Leiche mit all den anderen anonymen Gebeinen verrotten und in Vergessenheit geraten würde, bei all diesen Menschen, die mit so hochtrabenden Träumen hergekommen waren.

Die Frau warf die Arme wie Rabenflügel in die Luft, und die Nacht verschluckte ihn.

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