17

Als Richard kurz aufschaute und Jebra die Stufen hinaufsteigen sah, bemerkte er, dass auch Ann und Nathan von der anderen Seite des Raumes herübergekommen waren, um in seiner Nähe zu sein. Kaum war Jebra bei ihm angelangt, legte Zedd einen tröstlichen Arm um ihre Schultern und murmelte ein paar beschwichtigende Worte, allerdings ohne Richard aus den Augen zu lassen. Richard wusste es zu schätzen, dass sein Großvater auf ihn Acht gab und gleichzeitig ein Auge auf die Hexe hielt, für den Fall, dass sie auf die Idee kam, einen ihrer üblen Streiche zu spielen. Zedd wusste vermutlich besser als jeder andere von ihnen, wozu Shota fähig war - er hegte ein tiefes Misstrauen gegenüber dieser Frau und teilte ganz und gar nicht Richards Ansicht, Shota lasse sich im Grunde von den gleichen Überzeugungen leiten wie sie.

Sosehr er ihr Hauptanliegen schätzte, war er sich doch nur allzu bewusst, dass Shota dieses Ziel bisweilen mittels Methoden verfolgte, die ihm schon ohne Ende Kummer bereitet hatten. Was sie als Hilfe betrachtete, bedeutete für ihn letztendlich manchmal nichts als Ärger.

Zudem war er sich nur zu bewusst, dass Shota mitunter ihre ganz eigenen Ziele verfolgte - so zum Beispiel, als sie Samuel das Schwert überlassen hatte. Deshalb vermutete er auch jetzt, dass sie etwas im Schilde führte, er wusste nur nicht was noch was dahintersteckte. Er fragte sich, ob es etwas mit dem Ausschalten dieser anderen Hexe zu tun haben könnte.

»Richard«, begann Shota in sanftem einfühlsamem Ton, »du hast gehört, welcher Art das Grauen ist, das im Begriff ist, über uns zu kommen. Du bist der Einzige, der ihm Einhalt gebieten kann. Warum das so ist, weiß ich nicht, wohl aber weiß ich, dass es sich so verhält.«

Mit ihrem sanften Tonfall oder der Sorge wegen ihres gemeinsamen Feindes konnte er nichts anfangen. »Ihr erdreistet Euch, Euren großen Schmerz über das von der Imperialen Ordnung hervorgebrachte Leiden zum Ausdruck zu bringen sowie Eure Überzeugung, dass nur ich die Gefahr noch abwenden kann, und trotzdem schmiedet Ihr Komplotte und haltet Hinweise zurück, um mir das Schwert der Wahrheit wegzunehmen?«

Sie ging auf die Vorwürfe gar nicht ein. »Ein solches Komplott, wie du behauptest, hat es nie gegeben. Es war ein fairer Tausch - ein Wert gegen einen anderen.« Ihre Stimme blieb heiter und gelassen.

»Abgesehen davon würde dir das Schwert hierbei gar nichts nützen, Richard.«

»Eine ziemlich lahme Entschuldigung dafür, dass Ihr es diesem blutrünstigen Samuel überlassen habt.«

Shota sah ihn erstaunt an. »Hätte ich es nicht getan, wären, wie sich jetzt herausstellt, die Schwestern der Finsternis, die die Kästchen der Ordnung gestohlen haben, wahrscheinlich längst wieder vereint. Dann befänden sich alle drei Kästchen in ihrem Besitz, und sie hätten eines womöglich bereits geöffnet, die Macht der Ordnung entfesselt und uns alle dem Hüter der Toten ausgeliefert. Was sollte dir das Schwert noch nützen, wenn die Welt des Lebens nicht mehr existiert? Wie es scheint, hat Samuel, aus welchem Grund auch immer, eine Katastrophe verhindert.«

»Er hat das Schwert dazu benutzt, Rachel zu entführen, und dabei beinahe Chase getötet - was offenbar auch seine Absicht war.«

»Benutze deinen Verstand, Richard. Das Schwert hat uns gute Dienste geleistet, indem es uns Zeit verschafft hat, wenn auch um einen Preis, der keinem von uns gefällt. Was wirst du jetzt mit der Zeit anfangen, die dir unverhofft in den Schoß gefallen ist und die du sonst gar nicht gehabt hättest? Oder treffender noch: Was würde dir das Schwert jetzt gegen die Gefahr der Imperialen Ordnung nützen? Im Übrigen kann mit dem Schwert jeder ein Sucher sein - oder zumindest so tun als ob. Ein wahrer Sucher dagegen braucht das Schwert der Wahrheit nicht, um diese Rolle auszufüllen.«

Sie hatte recht, und das wusste er. Was hätte er mit dem Schwert schon anfangen können? Die ganze Imperiale Ordnung eigenhändig niedermetzeln? Nicci hatte es Jebra eben noch erklärt - die mit der Gabe Gesegneten konnten sich schon allein deswegen nicht gegen eine große Übermacht behaupten, weil sie mit Magie umzugehen wussten, und das Gleiche galt auch für das Schwert. Trotzdem hatte Shota es Samuel überlassen, und nun handelte dieser Samuel offenbar auf Geheiß einer anderen Hexe, einer Hexe, die ausschließlich ihre eigenen Interessen verfolgte.

Schlimmer noch, was hatte es für einen Sinn, sich über den Verlust einer einzelnen Waffe aufzuregen, während so viele durch diesen Orden ums Leben kamen und diese Waffe weder ihr Leben schützen noch ihre Freiheit bewahren konnte? Das Schwert war nicht die eigentliche Waffe; was wirklich zählte, war der Geist, der es führte. Der wahre Sucher war er; er war die tatsächliche Waffe. Das konnte ihm Samuel nicht nehmen.

Und doch hatte er keine Ahnung, wie er der Bedrohung Einhalt gebieten, wie er auch nur eine der Gefahren abwehren sollte, die von allen Seiten über sie hereinbrachen.

Nicci war nicht weit entfernt stehen geblieben - weit genug, um Shota Gelegenheit zu geben, sich mit ihm zu unterhalten, und doch nahe genug, um augenblicklich eingreifen zu können, falls die Unterhaltung in gegenseitige Drohungen oder etwas anderes ausarten sollte, was ihr nicht gefiel.

Einen Moment lang starrte er in Niccis blaue Augen, dann wandte er sich wieder um und begegnete Shotas Blick. »Was genau erwartet Ihr von mir?«

Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sie näher getreten war, doch plötzlich stand sie so nah, dass er ihren Atem auf seiner Wange spüren konnte. Dieser enthielt ein schwaches Aroma von Lavendel. Der Duft schien jegliche Anspannung von ihm zu nehmen.

»Was ich erwarte«, antwortete sie in vertraulichem Flüsterton, während sie ihren Arm um seine Hüfte gleiten ließ, »ist, dass du begreifst. Wirklich begreifst.«

Leicht alarmiert von der Vorstellung, dass sie womöglich einen Hintergedanken hatte, kam Richard der Gedanke, dass es wahrscheinlich klüger wäre, sich aus ihrer klammernden Umarmung zu befreien. Aber noch ehe er auch nur einen Muskel rühren konnte, bog sie sein Kinn mit einem Finger nach oben.

Und schon im nächsten Moment kniete er im Morast.

Ringsum war das Rauschen eines anhaltenden Wolkenbruchs zu hören, das Trommeln auf den Dächern und Markisen, das Prasseln in den Pfützen, das Geräusch von Schlamm, der gegen die Wände irgendwelcher Gebäude spritzt, gegen liegen gebliebene Wagen und die Beine des überall umherhastenden Mobs. In der Ferne blafften Soldaten Befehle. Knochendürre, erbärmlich aussehende Pferde standen, die Beine Schlamm verkrustet, mit hängenden Köpfen teilnahmslos im Regen. Etwas abseits brach eine Gruppe von Soldaten in Gelächter aus, während man nicht weit davon entfernt in einer anderen gelangweilt über Belanglosigkeiten plauderte. Ganz in der Nähe war das Rumpeln und Poltern von Wagen zu hören, die träge eine Straße entlangholperten, während in der Ferne ein paar Hunde aus purer Gewohnheit ihr unablässiges Gebell anstimmten. Im trüben Licht des bleischwer verhangenen Himmels hatte alles eine düstere, grau-braune Farbe angenommen. Blickte er nach rechts hinüber, sah er, dass dort, neben ihm im Morast, noch weitere Männer in einer Reihe auf den Knien lagen. Ihre schäbigen durchweichten Kleider hingen ihnen schlaff von den eingefallenen Schultern. Ihre Gesichter waren aschfahl, die Augen wirr von Angst. Hinter ihnen klaffte der Schlund einer tiefen Grube, die an nichts so sehr erinnerte wie an das finstere Tor zur Unterwelt. Aus einem Gefühl wachsender Bedrängnis heraus versuchte Richard, sich zu bewegen, sein Gewicht so zu verlagern, dass er auf die Beine kommen und sich verteidigen konnte. Erst jetzt gewahrte er, dass man ihm die Hände auf den Rücken gefesselt hatte - allem Anschein nach mit Lederriemen. Als er sich aus den fest verzurrten Fesseln zu winden versuchte, schnitt ihm das Leder tief ins Fleisch. Er bemühte sich nach Kräften, den brennenden Schmerz zu ignorieren, konnte sich aber dennoch nicht befreien. Eine altbekannte Furcht stieg in ihm hoch, die Furcht vor der Hilflosigkeit angesichts gefesselter Hände.

Rings um ihn her ragten ungeschlachte Soldaten auf, einige in aus Leder, rostigen Metallplatten oder Kettenpanzern zusammengeflickten Rüstungen, während andere sich zu ihrem Schutz mit derben Fellwesten begnügten. Ihre Waffen hingen an breiten Gürteln oder nietenbesetzten Riemen. Keine dieser Waffen wies auch nur die geringste Verzierung auf; es waren die primitiven Werkzeuge ihres Handwerks: Messer mit selbst gebastelten Holzgriffen, die mit krumm geschlagenen Nägeln an dessen Ende befestigt waren; Schwerter, das Heft mit Lederriemen umwickelt, damit es am Heftzapfen hielt; Keulen aus grob gegossenem Eisen auf einem dicken Griff aus Walnussholz oder einer Eisenstange. Ihre primitive Machart nahm ihnen nichts von ihrer beabsichtigten Wirkung, im Gegenteil: Das Fehlen jeglichen Schmucks unterstrich noch ihren einzigen Zweck und ließ sie dadurch nur noch unheimlicher erscheinen.

Wer sich den Schädel nicht kahl geschoren hatte, dessen fettiges Haar hatte sich im unablässigen Regen in eine verfilzte Masse verwandelt. Einige Soldaten trugen mehrere Ringe oder angespitzte Metalldorne in Ohren und Nase. Der Regen schien dem Schmutz, der ihre Gesichter bedeckte, nichts anhaben zu können. Nicht wenige Soldaten hatten einen Streifen aus düsteren Tätowierungen im Gesicht; einige ähnelten beinahe Masken, während andere sich in wild verschlungenen, dramatischen Mustern über Wangen und Nase zogen. Die auffälligen Tätowierungen ließen die Männer nur noch weniger menschlich, nur noch wilder erscheinen. Unruhig zuckten die Augen der Soldaten hin und her, kamen nur selten auf einem bestimmten Gegenstand zur Ruhe, was ihnen das Aussehen gehetzter Tiere verlieh.

Um etwas zu erkennen, musste Richard das Regenwasser aus den Augen blinzeln. Er warf den Kopf in den Nacken, um einige Strähnen seines völlig durchnässten Haars aus dem Gesicht zu schleudern. Erst jetzt gewahrte er, dass auch links von ihm Männer waren, von denen einige hilflos wimmerten, während die Soldaten all jene gepackt hielten, die sich weigerten oder nicht fähig waren, aufrecht im Morast zu knien. Das Gefühl panischer Angst war mit den Händen greifbar; die Flutwelle dieser Angst sprang auf Richard über, stieg in ihm hoch und drohte über ihm zusammenzuschlagen. Er wusste, das alles war nicht wirklich ... und doch war es das. Der Regen fühlte sich eiskalt an. Seine Kleider waren durchnässt. Gelegentlich schüttelte ihn ein kalter Schauder. Ein Gestank herrschte an diesem Ort, schlimmer als alles, an das er sich erinnern konnte, eine Mischung aus beißendem Rauch, abgestandenem Schweiß, Exkrementen und brandigem Fleisch. Die Schreie der anderen rings um ihn her klangen nur allzu real. Er glaubte nicht, dass er fähig gewesen wäre, sich dieses Stöhnen, so bar jeder Hoffnung und zugleich erfüllt von verzweifelter Angst, einzubilden. Viele der Männer zitterten unkontrolliert, und schuld daran war keineswegs der kalte Regen. Wie er sie so anstarrte, dämmerte Richard, dass er einer von ihnen war, dass er genau so war wie sie, einer von vielen, die mit auf den Rücken gefesselten Händen auf den Knien im Morast lagen.

Das Ganze war so unwahrscheinlich, dass es etwas Verstörendes hatte; irgendwie war er tatsächlich dort. Irgendwie hatte Shota ihn an diesen Ort versetzt. Ihm war unbegreiflich, wie so etwas möglich sein sollte. Er musste es sich einbilden. Dann begann er sich zu fragen, ob er sich in Wahrheit nicht alles andere eingebildet hatte, fragte sich, ob nicht alles ein Traum gewesen war, ein Ablenkungsmanöver, ob ihm sein Verstand nicht einen Streich gespielt hatte. Er begann sich zu fragen, ob es möglich sein konnte, dass der Feuerkettenbann das tatsächliche Geschehen aus seiner Erinnerung gelöscht hatte, oder ob die Realität schlicht so entsetzlich war, dass sein Verstand sie ausgesperrt und er sich in eine Phantasiewelt zurückgezogen hatte - und jetzt, völlig unvermittelt, unter dem Druck der Ereignisse wieder in die Wirklichkeit zurückgeschnellt war. In Wahrheit, das dämmerte ihm allmählich, obwohl er nicht genau wusste, was sich hier abspielte oder woher seine Verwirrung rührte, zählte nur, dass dies vollkommen real war und er sich dessen aus irgendeinem Grund erst jetzt bewusst wurde. Und tatsächlich, genauso fühlte es sich an: als sei er gerade aus einem Zustand orientierungs-loser Verwirrung erwacht und hätte sein Bewusstsein wiedererlangt.

War er zuvor verwirrt gewesen, so versuchte er sich jetzt verzweifelt zu erinnern, zu begreifen, wie er an diesen Ort gekommen war, wo er sich jetzt wieder fand, wie es dazu gekommen war, dass er inmitten von Soldaten der Imperialen Ordnung im Morast auf den Knien lag. Für Augenblicke meinte er sich erinnern zu können, wie er hierher gekommen war, und auch an alles andere, doch blieb die Erklärung stets unmittelbar außerhalb seiner Reichweite, wie ein Wort, das irgendwo in den dunklen Tiefen des Verstandes verloren gegangen war.

Richard blickte die Reihe zu seiner Linken entlang und sah einen Soldaten das Haar eines Mannes mit der Faust packen und seinen Kopf nach oben reißen. Der Mann schrie auf, ein kurzer, von Entsetzen erstickter Laut, hervorgepresst aus einer wogenden Brust. Es war unschwer zu erkennen, dass der Mann trotz heftigster Bemühungen keine Chance hatte zu entkommen. Die Laute seines tränenreichen Flehens erzeugten eine Gänsehaut auf Richards Armen. Der Soldat, der hinter dem Knieenden stand, legte ihm ein langes, schmales Messer an die Vorderseite seiner entblößten Kehle. Wieder versuchte sich Richard einzureden, dass er zuvor recht gehabt hatte, dass dies nicht wirklich war, dass er sich dies alles nur einbildete. Und doch konnte er die Scharte in dem stümperhaft gewetzten Messer deutlich sehen, konnte er den Mann wieder und wieder vor Panik keuchend schlucken sehen, sah er das unbarmherzige Feixen im selbstgefälligen Gesicht des Soldaten. Als das Messer in die Kehle des Mannes schnitt, ließ ihn der Anblick schockiert zusammenzucken, im selben Moment, da der Schock des plötzlichen Schmerzes den Mann zusammenfahren ließ. Der Mann schlug wild um sich, doch der Soldat, der seine Haare mit festem Griff gepackt hielt, hatte keine Mühe, sein Opfer in Schach zu halten. Die regennassen Muskeln seines kräftigen Armes traten hervor, als er unter Aufbietung noch größerer Kraft ein zweites Mal in die Kehle des Mannes schnitt, tiefer, viel tiefer und fast von einem Ohr zum anderen. Ein Schwall von Blut, im grauen Licht von schockierend roter Farbe, schoss mit jedem Pumpen des noch immer schlagenden Herzens hervor. Richard zuckte innerlich zusammen, als sich seine Nasenflügel unter dem frischen Geruch weiteten. Er versuchte sich einzureden, dies sei nicht wirklich, und doch, als er den Mann sich kraftlos winden sah, als er zusah, wie der Fleck aus Blut auf der Vorderseite seines Hemdes nach unten wuchs und den Schoß seiner Hosen durchtränkte, war alles nur zu wirklich. In einem letzten Kraftakt, sein Hals bereits eine einzige klaffende Wunde, trat der Mann mit seinem Bein zur Seite aus. Der Soldat, der den Mann noch immer bei den Haaren gepackt hielt, wuchtete ihn nach hinten in die Grube. Richard hörte, wie er mit seinem ganzen Gewicht schwer auf dem Boden aufschlug.

Richards Herz hämmerte so hart gegen seinen Brustkorb, dass er zu platzen meinte. Ihm war so speiübel, dass er glaubte, sich übergeben zu müssen. In einer verzweifelten Kraftanstrengung versuchte er zum wiederholten Mal, seine Hände freizubekommen, doch das Leder grub sich nur noch tiefer in sein Fleisch. Der Regen spülte Schweiß in seine Augen. Die Lederriemen hatten schon so lange an ihrem Platz gesessen, dass schon der kleinste Widerstand gegen sie ein schmerzhaftes Brennen in den aufgescheuerten Wunden verursachte, das ihm augenblicklich erneut die Tränen in die Augen trieb. Aber er ließ sich nicht davon beirren. Vor Anstrengung ächzend, legte er seine ganze Muskelkraft in den Versuch, seine Fesseln zu zerreißen. Er konnte das Leder über die freiliegenden Sehnen seiner Handgelenke scheuern fühlen.

Und dann hörte Richard, wie jemand lauthals seinen Namen rief. Er erkannte die Stimme augenblicklich.

Kahlan!

Sein ganzes Leben kam mit einem Ruck zum Stillstand, als er den Kopf hob und zu ihr hinübersah, in ihre betörend grünen Augen. Jede Empfindung, die ihm je vergönnt gewesen war, durchflutete ihn in einem einzigen Augenblick und hinterließ eine Art matten, doch fürchterlichen Schmerz, der bis ins Mark zu spüren war. Er war so lange von ihr getrennt gewesen ...

Sie jetzt zu sehen, alle Feinheiten ihres Gesichts, den kaum merklichen Schwung ihrer Brauen, wenn sie diese kräuselte, den er fast vergessen hatte, die exakte Krümmung ihres Rückens, als sie sich leicht zur Seite drehte, zu sehen, wie ihr Haar sich unter dem Gewicht des Regens natürlich teilte, ihre Augen zu sehen, ihre wunderschönen grünen Augen, sagte ihm, dass er sich dies alles unmöglich einbilden konnte.

Kahlan reckte einen Arm in seine Richtung. »Richard!«

Der Klang ihrer Stimme lähmte ihn. Es war so lange her, dass er ihre einzigartige Stimme gehört hatte, eine Stimme, die ihn vom Augenblick ihrer ersten Begegnung an mit ihrer Klugheit, ihrer Klarheit, Eleganz und betörendem Charme für sich eingenommen hatte. Jetzt dagegen war in ihrer Stimme nichts von alledem zu hören. Sie war all dieser Eigenschaften beraubt, und übrig blieb nur noch eine unerträgliche Seelenqual.

Dem Leid in ihrer Stimme entsprechend, verzerrten sich Kahlans feine Züge vor Entsetzen, als sie ihn dort im Morast knien sah. Ihre Augen waren rot gerändert. Tränen, vermischt mit Regen, liefen ihr übers Gesicht.

Starr vor Entsetzen lag Richard auf den Knien, erstarrt, weil er sie hier sah, so nah und doch so unerreichbar. Erstarrt, weil er feststellen musste, sie inmitten Tausender Soldaten der feindlichen Armee zu sehen.

»Richard!«

Wieder streckte sie verzweifelt einen Arm in seine Richtung. Sie versuchte, zu ihm zu gelangen, doch sie konnte nicht. Ein stämmiger Kerl mit kahl geschorenem Schädel hielt sie zurück. Jetzt bemerkte Richard zum ersten Mal, dass an Kahlans Hemd die Knöpfe fehlten; sie waren abgerissen, sodass das Hemd offen hing und ihren Körper den lüsternen Blicken der Soldaten aussetzte. Aber das schien ihr egal. Sie wollte nichts weiter, als dass Richard sie bemerkte, so als wäre das alles, was im Leben zählte, als bedeutete ein einziger Blick auf ihn für sie das Leben. Als brauchte sie nichts sonst, um zu überleben.

Ein schmerzhafter Kloß drohte seine Kehle zu verschließen. Tränen traten ihm in die Augen. Leise rief er ihren Namen, zu schockiert von ihrem Anblick, um mehr über die Lippen zu bringen. Kahlan, außer sich, streckte erneut den Arm nach ihm aus, stemmte sich gegen den Widerstand der fleischigen Hand des Soldaten, der sie hielt. Sein fester Griff hinterließ im Fleisch ihres Arms blutleere Abdrücke seiner Finger.

»Richard! Richard, ich liebe dich! Bei den Gütigen Seelen, ich liebe dich!«

Als sie sich loszureißen und in seine Richtung zu stürzen versuchte, legte ihr der Soldat seinen kräftigen Arm unter ihrem Hemd um die Taille und hielt sie mit Gewalt zurück. Immer weiter tastete der Kerl sich vor, bis er, zwischen Daumen und Zeigefinger, eine von Kahlans Brustwarzen zu fassen bekam und sie verdrehte. Dabei sah er mit einem viel sagenden Grinsen hoch und vergewisserte sich, dass Richard genau mitbekam, was er da tat.

Aus Kahlans Kehle drang ein kleiner Schrei überraschten Schmerzes, ansonsten aber ignorierte sie den Soldaten völlig und rief stattdessen in äußerstem Entsetzen Richards Namen.

Rasend vor Zorn versuchte Richard auf die Beine zu kommen. Er musste zu ihr. Der Soldat lachte nur, als er ihn sich abmühen sah. Völlig undenkbar, dass sich jemals wieder eine solche Gelegenheit bieten würde. Dies war seine einzige und letzte Chance. Als er Anstalten machte, gewaltsam auf die Füße zu kommen, trat ihm ein Soldat mit dem Stiefel so wuchtig in den Magen, dass er sich vornüber krümmte. Sicherheitshalber trat ihm ein anderer zusätzlich noch seitlich gegen den Kopf und nahm ihm damit fast völlig das Bewusstsein. Die Welt verschwamm. Die Geräusche verschmolzen zu einem dumpfen Dröhnen. Richard kämpfte, um bei Bewusstsein zu bleiben. Auf keinen Fall wollte er Kahlan aus den Augen verlieren. Kein Anblick auf der ganzen Welt bedeutete ihm mehr als ihrer.

Er musste eine Möglichkeit finden, sie aus diesem Albtraum zu erlösen.

Während er sich noch bemühte, wieder zu Atem zu kommen, krallte sich die große Hand eines Soldaten in sein Haar und riss ihn mit einem Ruck nach oben. Richard keuchte, versuchte trotz der ihn seiner Sinne beraubenden schmerzhaften Schläge Luft zu holen. Warm spürte er das Blut seitlich über sein Gesicht rinnen und kalten Schlamm in seinen Nacken spülen.

Durch das Nachobenreißen seines Kopfes fiel sein Blick erneut auf Kahlan, auf ihr langes, jetzt ganz vom Regen ineinander verschlungenes und verfilztes Haar. Ihre grünen Augen waren so schön, dass er meinte, sein Herz müsse vor Schmerz über dieses Wiedersehen mit ihr, bei dem er sie nicht einmal in den Armen halten konnte, zerbersten.

Nichts wünschte er sich sehnlicher, als sie in seine Arme zu schließen und sie zu trösten, zu beschützen.

Stattdessen hatte ein anderer seine Arme um sie geschlungen, aus dessen Griff sie sich zu winden versuchte. Er legte ihr seine Hand auf die Brust und drückte zu, bis Richard deutlich sehen konnte, dass es ihr wehtat. Sie trommelte mit ihren Fäusten gegen ihn, aber er ließ nicht locker. Noch während er sich über ihre vergeblichen Bemühungen amüsierte, glitt sein Blick zu Richard hinüber. Vor lauter Panik fühlte sich Richard matt und kraftlos. Er wusste nicht, was er tun sollte.

Magie. Er sollte seine Gabe auf den Plan rufen. Aber wie sollte er das anstellen? Er wusste nicht, wie man Magie herbeirief. Und doch hatte er es in der Vergangenheit gekonnt.

Zorn.

In der Vergangenheit hatte seine Gabe stets über seinen Zorn funktioniert.

Den Soldaten Kahlan festhalten, ihr wehtun zu sehen, lieferte ihm mehr als genug davon. Ein weiteres dieser Ungeheuer sich ihr nähern, lüstern auf sie hinabblicken und sie auf intime Weise betatschen zu sehen, fachte die Wildlodernden Flammen seines Zorns immer weiter an.

Seine Welt färbte sich rot vor Zorn.

Mit jeder Faser seines Seins versuchte Richard seine Gabe mithilfe des Wesens dieser Raserei zu entflammen. Die Kiefer zusammengepresst, biss er in seiner ungeheuren Konzentration auf seinen Zorn die Zähne aufeinander. Zitternd vor Wut wartete er auf eine dieser Wut angemessene Explosion seiner Kraft. Dann erkannte er, was er tun musste. Sie schien zum Greifen nah. Er stellte sich vor, wie sie die Soldaten zu Boden schlug. Mit angehaltenem Atem harrte er des Sturms, der jeden Moment entfesselt würde.

Es war, als würde der Boden völlig unerwartet unter einem fortgezogen, als gäbe es nichts mehr, was seinen Sturz noch auffangen konnte.

Noch immer prasselte der Regen aus dem grauen Himmel herab, als wollte er seine Bemühungen ersäufen. Keine Magie schlug einen Bogen durch den leeren Raum zwischen ihm und dem Mann, der Kahlan hielt. Keine von Magie erzeugten Blitze zuckten hervor. Die Gerechtigkeit ließ auf sich warten.

Sein ganzes Leben lang war dies der Augenblick gewesen, in dem es sich gezeigt hätte - sofern dort tatsächlich etwas war -, so viel war ihm jenseits allen Zweifels klar. Ein dringenderes Verlangen, eine größere Sehnsucht nach der Frau, die er liebte, größerer Ingrimm war undenkbar. Doch da war keine Kraft, keine unmittelbar bevorstehende Erlösung.

Ebenso gut hätte er ohne Gabe geboren sein können.

Er besaß keine Gabe. Sie war nicht mehr vorhanden.

Richard war, als stürzte die Welt rings um ihn her in sich zusammen. Er wünschte sich, alles sollte langsamer gehen, damit er Zeit hätte, eine Erklärung zu finden, doch stattdessen wurde alles in einem entsetzlich rasenden Wirbel fortgerissen. Alles ging viel zu schnell. Es war ungerecht, sein Leben auf diese Weise beenden zu müssen. Er hatte noch gar keine Gelegenheit gehabt zu leben, sein Leben mit Kahlan zu teilen. Er liebte sie so sehr, und doch hatte er kaum Gelegenheit gehabt, mit ihr zusammen zu sein und ein Leben in friedlicher Zweisamkeit zu führen. Scherzen und lachen wollte er mit ihr, sie in den Armen halten, mit ihr durchs Leben gehen, in einer kalten verschneiten Nacht einfach nur mit ihr zusammen vor einem Feuer sitzen, sie behütend und wärmend an sich drücken und sich mit ihr über die Dinge unterhalten, die ihnen wichtig war ihre Zukunft. Sie sollten eine Zukunft haben.

Es war so ungerecht. Er wollte sein Leben leben. Stattdessen würde es ohne triftigen Grund an diesem Ort des Elends enden. Einfach so. Nicht einmal um sein Leben kämpfen konnte er, um seinem Tod noch einen Sinn zu geben. Stattdessen würde er hier im Regen und Morast krepieren, umringt von Männern, die einen Hass auf alles hegten, was gut im Leben war, während Kahlan gezwungen wurde zuzusehen.

Er wollte nicht, dass sie es sah. Er wusste, sie würde diesen Anblick nie wieder aus ihren Gedanken verbannen können. Mit dieser letzten, grauenhaften Erinnerung an seinen blutigen Todeskampf wollte er ihr nicht in Erinnerung bleiben.

Wie die meisten der anderen Männer auch, unternahm er einen allerletzten Versuch, auf die Beine zu kommen. Sofort stieg ihm einer der Soldaten auf die Waden und drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Der Schmerz schien weit entfernt. Richard fühlte sich wirr und benommen.

Nichts auf der Welt wünschte er sich sehnlicher, als Kahlan von diesen Männern, die sie festhielten und begrapschten, zu erlösen. Wütend schrie Kahlan sie an, kratzte, trommelte mit den Fäusten auf sie ein, während sie gleichzeitig in hilflosem Entsetzen nach ihm rief.

Unter Aufbietung seiner ganzen Körperkraft zerrte er an den Lederriemen, mit denen seine Handgelenke gefesselt waren, doch statt zu zerreißen, gruben sie sich nur noch tiefer ein. Er kam sich vor wie ein in einer Falle gefangenes Tier. Längst war jegliches Gefühl aus seinen Händen gewichen, sodass er das Blut, das warm von seinen Fingerspitzen troff, nicht mehr spüren konnte. Er wollte nicht sterben. Was sollte er nur tun? Er musste dem ein Ende machen, irgendwie, er musste einfach. Nur wusste er nicht, wie. In der Vergangenheit hatte er stets über seinen Zorn auf seine Gabe zugreifen, seine Kraft auf den Plan rufen können. Stattdessen erlebte er jetzt nichts als Hilflosigkeit und Verwirrung.

»Kahlan!«

Er schien dem überwältigenden Gefühl des Grauens, der blinden Panik, hilflos ausgeliefert zu sein, dieser ungestümen Gefühlsanwandlung hatte er nichts entgegenzusetzen. Er wurde von einer Flut von Ereignissen fortgerissen, die er weder aufhalten noch kontrollieren konnte. Es war alles so absurd, von so überwältigender Sinnlosigkeit und monumentaler Brutalität.

»Kahlan!«

»Richard!« Schreiend streckte sie erneut die Arme nach ihm aus.

»Richard, ich liebe dich mehr als das Leben! Ich liebe dich so sehr. Du bist mein Ein und Alles. Das bist du immer gewesen.«

Ein Schluchzen ließ ihren Atem stocken, der darauf in heftiges Keuchen überging.

»Richard ... ich brauche dich doch.«

Es brach ihm das Herz. Er hatte das Gefühl, sie im Stich zu lassen. Ein Soldat packte ihn bei den Haaren.

»Nein!«, schrie Kahlan und hob abwehrend die Hand. »Nein! Nicht! Bei den Gütigen Seelen, so helfe ihm doch jemand, bitte!«

Der Soldat beugte sich herab, das Schmutzstarrende Gesicht zu einem brutalen Feixen verzerrt. »Keine Sorge, ich werde mich schon um sie kümmern ... höchstpersönlich.« Er lachte Richard gehässig ins Ohr.

»Bitte«, hörte Richard sich sagen, »bitte nicht.«

»Bei den Gütigen Seelen, so helfe ihm doch jemand!«, schrie Kahlan die Umstehenden an.

Sie war sich ihrer Machtlosigkeit nur zu bewusst. Er hatte nicht die geringste Chance. Jetzt konnte sie nur noch um ein Wunder betteln, und das allein war neue Nahrung für die Flammen glühender Angst, die außer Kontrolle geraten in seinem Innern loderten. Dies war das Ende - das Ende von allem.

»Bitte ... so lasst sie doch in Ruhe.«

Der Soldat hinter seinem Rücken lachte. Genau das war es, was er hatte hören wollen.

Das Schluchzen, das seine Kehle hochstieg, raubte ihm den Atem, sodass er es nicht schaffte, Luft in seine Lungen zu saugen. Tränen, vermischt mit Regenwasser, liefen ihm über das Gesicht. Sie war die einzige Frau, die er je geliebt hatte, der einzige Mensch, der ihm alles, mehr als das Leben selbst bedeutete.

Ohne Kahlan war das kein Leben, sondern nur ein Dahinvegetieren. Sie war seine Welt.

Ohne Kahlan war sein Leben sinnlos.

Und ohne ihn, das wusste er, hatte auch Kahlans Leben seinen Sinn verloren ...

»Jetzt du«, verkündete der Soldat, der Richard festhielt, und trat hinter ihn, um die Position des Henkers einzunehmen. Der Mann beugte sich über ihn; sein Atem stank nach Bier und Wurst. »Wird Zeit, dass ich hier fertig werde. Sobald ich mit dir durch bin, hab ich ’ne Verabredung mit deiner allerliebsten Braut. Kahlan, richtig? Keine Angst, Junge, ich werd deiner Kahlan keine Gelegenheit geben, groß um dich zu trauern oder in Erinnerungen zu schwelgen. Ich werde ihre ungeteilte Aufmerksamkeit haben - das kann ich dir versprechen. Und sobald sie mir Befriedigung verschafft hat, kommen die anderen bei ihr zum Zug.«

Richard hätte ihm am liebsten das Genick gebrochen.

»Denk darüber nach, wenn deine gottlose Seele zu den finsteren, ewigen Qualen in die Unterwelt hinabsteigt, wenn du unter die kalte, unbarmherzige Macht des Hüters gerätst. Denn dieses Schicksal - die gerechte Strafe ewigen. Leidens - ist allen Kerlen deines Schlages bestimmt, und das ist auch ganz richtig so, schließlich haben wir alles aufgegeben, um in dieses gottverlassene Land zu kommen und euch selbstsüchtigen Heiden das göttliche Licht und die Gesetze des Ordens zu bringen. Eure sündhafte Lebensweise, ja eure bloße Existenz ist eine Beleidigung des Schöpfers - und all derer unter uns, die sich in Ehrfurcht vor Ihm verbeugen.«

Der Kerl schien sich in einen rechtschaffenen Zorn hineinzusteigern.

»Machst du dir überhaupt eine Vorstellung, was ich alles für die Errettung der Seelen deines Volkes aufgeopfert habe? Meine Familie hat nicht einmal mehr zu essen, gar nichts hat sie mehr - alles hat sie geopfert, um es unseren tapferen Soldaten schicken zu können. Mein Bruder und ich, wir haben uns dem Kampf für unsere Sache und allem, woran wir glauben, verschrieben. Wir beide sind in den Norden gegangen, um unsere Pflicht für Kaiser und Schöpfer zu tun, haben unser Leben dem Ziel gewidmet, deinem Volk Tugend und Rechtschaffenheit zu bringen. Unzählige blutige Schlachten haben wir geschlagen gegen alle, die sich unserem Wirken im Namen all dessen, was gut und gerecht ist, widersetzen. Wir haben unzählige unserer Ordensbrüder in diesen Schlachten sterben sehen. Ich habe gesehen, wie unsere ruhmreiche Armee der Imperialen Ordnung den Kampf für die Erlösung weiterführte, obwohl dein Volk die gottlosen mit der Gabe Gesegneten gegen uns aufgeboten hat, Menschen, die das aus Magie geschaffene Böse gewirkt haben.« Und so weiter, und so weiter ... Es war der blanke Irrsinn. Richard konnte kaum fassen, dass es Männer gab, deren Denken jeder Vernunft Hohn sprachen, Männer, die sich derart geistlosen Glaubensüberzeugungen hingaben, und doch gab es sie. Überall schienen sie plötzlich aus dem Erdboden zu sprießen und sich wie Maden zu vermehren, ganz der Vernichtung all dessen verschrieben, was das Leben lebenswert und angenehm machte.

Er schluckte seine Erwiderung, seinen Hochkochenden Zorn hinunter. Nichts vermochte Männer dieses Schlages mehr zu verärgern als Vernunft und Wahrheit, Lebendigkeit und Güte Dinge, die in diesen Männern nur den Wunsch nach Zerstörung weckten. Und da Richard wusste, dass alles, was immer er jetzt sagte, diesen Kerl nur provozieren und Kahlans Situation verschlimmern würde, hielt er den Mund. Mehr konnte er im Augenblick nicht für sie tun.

Als der Soldat sah, dass er es nicht geschafft hatte, Richard dazu zu bringen, um sein Leben zu betteln, stimmte er abermals sein hasserfülltes Gelächter an und warf Kahlan einen Handkuss zu. »Bin gleich bei dir, Schätzchen - sobald ich deinen nichtsnutzigen Ehemann hier von dir geschieden hab.«

Er war ein Ungeheuer, das in Kürze die Frau belästigen würde, die Richard liebte, eine schutzlose, verängstigte Frau, deren Leiden in der Gewalt dieses Rohlings gerade erst begonnen hatte. Ungeheuer.

Hatte Shota womöglich das gemeint?

Die Hexe hatte davon gesprochen, Kahlan würde, falls sie und Richard jemals heiraten und das Bett teilen sollten, ein Ungeheuer zur Welt bringen. Sie waren immer davon ausgegangen, Shotas Äußerung habe sich auf ein mögliches Kind Kahlans bezogen, das zum Ungeheuer würde, weil es sowohl Richards Gabe als auch Kahlans Konfessorinnenkraft besäße.

Aber möglicherweise verbarg sich noch eine ganz andere Bedeutung hinter Shotas Weissagung.

Schließlich hatte sich keine ihrer Warnungen jemals exakt so erfüllt, wie sie es hatte aussehen lassen, ja nicht einmal, wie sie es selbst angenommen hatte. Shotas Warnungen und Weissagungen hatten sich stets auf völlig unerwartete, ja ungeahnte Weise erfüllt, und doch hatten sie sich stets als zutreffend erwiesen. War also das die eigentliche Bedeutung der Weissagung Shotas? War das die komplexe Vielfalt von Geschehnissen, die nun endlich in der Erfüllung ihrer Weissagung gipfelte? Shota hatte sie eindringlich vor einer Heirat gewarnt, da Kahlan in diesem Fall ein Ungeheuer zur Welt bringen würde. Und doch hatten sie die Warnung in den Wind geschlagen. War es möglich, dass Shotas Weissagung sich jetzt auf diese Weise erfüllte, dass dies die eigentliche Bedeutung hinter ihrer Warnung war? Würden diese Ungeheuer tatsächlich ein Ungeheuer hervorbringen?

Richards Tränen blieben ihm im Hals stecken. Sein Tod wäre noch nicht einmal das Schlimmste. Kahlan würde noch weit schlimmeres Leid zu ertragen haben; sie würde ein trostloses Dasein in der Gewalt dieser Rohlinge fristen und ein von ihnen gezeugtes Ungeheuer zur Welt bringen.

»Du weißt, ich liebe dich, Richard. Das ist das Einzige, was zählt meine Liebe zu dir!«

»Ich liebe dich auch, Kahlan!«

Ihm fiel nichts ein, was er ihr noch hätte sagen können - nichts von Bedeutung jedenfalls. Vermutlich gab es auch gar nichts, was für ihn bedeutsamer, wichtiger gewesen wäre. In diesen einfachen Worten äußerte sich ein ganzes Leben, ein ganzes Universum voll Bedeutung.

»Ich weiß, mein Liebster«, rief sie zurück, und für einen winzigen Moment blitzte ein Lächeln in ihren Augen auf und ließ sie erstrahlen. »Ich weiß.«

Richard sah eine Klinge vor seinem Gesicht heranrasen und zuckte instinktiv zurück. Der Mann, der rittlings auf seinen Beinen hockte, war darauf vorbereitet. Ihm das Knie zwischen die Schulterblätter rammend, verhinderte er, dass er weiter zurückweichen konnte, ehe er seinen Kopf an den Haaren nach oben riss.

Kahlan, die genau sah, was passierte, schrie abermals auf und trommelte wie von Sinnen auf die sie festhaltenden Männer ein.

»Achte gar nicht auf sie, Richard. Sieh mich einfach an! Richard, sieh mich an! Denk an mich! Denk immer daran, wie sehr ich dich liebe!«

Richard wusste genau, was sie vorhatte.

»Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir geheiratet haben? Genau daran denke ich jetzt, Richard. Ich denke immer daran.«

Als letzte Liebesgabe wollte sie ihm eine angenehme liebevolle Erinnerung schenken.

»Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem du mich gebeten hast, deine Frau zu werden. Ich liebe dich, Richard. Erinnerst du dich noch an unsere Hochzeit? An das Haus der Seelen?«

Sie versuchte, ihn abzulenken, versuchte zu verhindern, dass er daran dachte, was gleich mit ihm geschehen würde. Stattdessen erinnerte es ihn nur an Shotas Warnung, sie würden, wenn sie heirateten, ein Ungeheuer zeugen.

»Wie rührend«, mischte sich der Soldat hinter seinem Rücken ein.

»Gerade die Leidenschaftlichen sind gut im Bett, meinst du nicht auch?«

Richard hätte dem Kerl am liebsten den Kopf abgerissen, enthielt sich aber eines Kommentars. Der Mann wollte doch nur, dass er etwas sagte, dass er flehte, protestierte, vor Leid winselte, und diese Genugtuung versagte Richard ihm - in einem letzten Akt des Widerstands gegen Kerle seines Schlages.

Kahlan schrie ihre Liebe heraus, schrie, er solle sich an den ersten Kuss von ihr erinnern.

Trotz allem rief das ein Lächeln auf seine Lippen.

In diesem Moment war ihr völlig egal, was mit ihr geschah, sie wollte nichts weiter, als ihn abzulenken und die Qualen und Schrecken der letzten Augenblicke seines Lebens zu lindern. Der letzten Augenblicke seines Lebens.

An diesem Punkt würde alles enden, es war vorbei. Danach würde nichts mehr kommen.

Das Leben war vorbei. Vorbei auch die Zeit, die ihm mit der Frau vergönnt gewesen war, die er liebte. Danach würde nichts mehr kommen.

Die Welt neigte sich dem Ende zu.

»Richard! Richard! Ich liebe dich so sehr! Sieh mich an, Richard! Ich liebe dich! Schau mich an! Ja, genau so, sieh mich an. Du bist der Einzige, den ich je geliebt habe! Nur dich allein, Richard. Nur dich! Das ist alles, was zählt - meine Liebe zu dir. Liebst du mich auch? Sag es mir, Richard. Sag es mir, jetzt sofort!«

Er spürte, wie sich die Klinge in der dünnen Hautschicht über seiner Kehle verfing.

»Ich liebe dich, Kahlan. Dich allein. Für immer!«

»Wie rührend«, brummte der Soldat in sein Ohr, während er die Klinge gegen Richards Kehle presste. »Während du da unten in der Grube liegst und langsam verblutest, werde ich ihren Körper mit meinen Händen erkunden - bis an die intimsten Stellen. Ich werde dein hübsches, kleines Weibchen vergewaltigen. Bis dahin wirst du längst tot sein, aber bevor du stirbst, will ich, dass du ganz genau weißt, was ich mit ihr anstellen werde; und du kannst nicht das Geringste tun, um es zu verhindern, denn darin erfüllt sich der Wille unseres Schöpfers.

Du hättest dich längst den Wegen des Ordens unterwerfen sollen, stattdessen hast du alles getan, um an deinem sündigen, selbstsüchtigen Leben festzuhalten, und dich von allem abgekehrt, was rechtens und rechtschaffen ist. Du wirst nicht nur für deine Verbrechen gegen deine Mitmenschen sterben, sondern für alle Ewigkeit seitens des Hüters der Unterwelt leiden. Möge dein Leid unendlich sein.

Ich will, dass du in dem Wissen in die Finsternis des Lebens nach dem Tode eingehst, dass deine ach so geschätzte Kahlan - wenn überhaupt - bestenfalls als Hure für uns alle überleben wird; und wenn sie lange genug überlebt und einen Jungen als Kind bekommt, dass er zu einem prächtigen Soldaten der Imperialen Ordnung und im Hass auf alle deines Schlages heranwachsen wird. Wir werden dafür sorgen, dass er eines Tages an diesen Ort zurückkommt, um auf dein Grab zu spucken, auf dich und deinesgleichen, die ihn in Sünde großgezogen, zur Abkehr vom Dienst an seinen Mitmenschen und am Schöpfer erzogen hätten.

Denk darüber nach, wenn deine Seele in die Finsternis hinabgezogen wird. Während dein Kadaver langsam erkaltet, werde ich neben dem hübschen warmen Körper deiner Liebsten liegen und es ihr so richtig besorgen. Ich möchte sicher sein, dass du das weißt, bevor du krepierst.«

Innerlich war Richard längst tot. Es war vorbei, das Leben und die Welt waren an ihrem Ende angelangt. Alles war verloren - und das nur wegen dieses geistlosen Hasses auf alles Wertvolle, auf das Leben selbst, des Hasses von Menschen, die beschlossen hatten, den Tod mit offenen Armen willkommen zu heißen.

»Ich liebe dich von ganzem Herzen, jetzt und für immer«, sagte er mit belegter Stimme. »Durch dich war mein Leben eine einzige Freude.«

Er sah Kahlan nicken, dass sie ihn gehört hatte, sah sie ihre Liebe für ihn mit den Lippen formen.

Sie war so wunderschön.

Aber mehr als alles andere war es ihm unerträglich, sie in diesem Zustand untröstlichen Kummers zu sehen.

Wie erstarrt in diesem letzten Augenblick, in dem die Welt für sie existierte, sahen sie einander in die Augen.

Ein gequälter Aufschrei des Entsetzens und plötzlichen Schmerzes entfuhr Richard, als er spürte, wie die Klinge in das Fleisch eindrang und er sie tödlich tief in seine Kehle schneiden fühlte. Es war der Augenblick, in dem alles endete.

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