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Kahlan beeilte sich, um dicht hinter Jagang zu bleiben, als dieser durch das Feldlager stapfte. Sie wollte nicht riskieren, dass er ihr einen ebenso schmerzhaften wie lähmenden Schock durch den Halsring verabreichte. Selbstverständlich hatte er ihr schon unzählige Male bewiesen, dass er dafür keinen Anlass benötigte. Trotzdem wusste sie, dass sie in diesem Moment nicht einmal den Anschein erwecken sollte, ihm einen Grund geben zu wollen, da er wegen der offensichtlich brisanten Nachricht, die der Bote überbracht hatte, sehr in Eile war. Eigentlich interessierte sie weniger die Nachricht, vielmehr galten ihre Gedanken dem Mann, den sie endlich wiedergesehen hatte, dem Gefangenen, den man am Vortag gebracht hatte.

Auf dem Weg durch das Lager behielt sie nicht nur ihre Bewacher im Blick, sondern auch die gewöhnlichen Soldaten, stets auf der Suche nach einer Reaktion, die darauf hindeutete, dass diese sie sehen konnten, nach irgendwelchen obszönen Bemerkungen, die sie verrieten. Allenthalben starrten aufgescheuchte Männer auf die Gruppe Schwerbewaffneter, die sich einen Weg mitten durch ihr Alltagsleben bahnte, doch kein einziges Mal sah jemand sie direkt an oder ließ sich durch sonst etwas anmerken, dass er sie bemerkt hatte.

Unsichtbar für die Soldaten ringsumher, stieg Kahlan behutsam über Pfützen und Kot hinweg, das unter ihrem Umhang verborgene Messer fest in der Hand. Sie war noch unschlüssig, was sie damit machen wollte. Die Gelegenheit, es zu entwenden, hatte sich völlig überraschend ergeben.

Es war ein gutes Gefühl, in dieser Umgebung eine Waffe zu besitzen. Obwohl sie für nahezu alle hier unsichtbar war, war das Armeelager ein beklemmender Ort. Natürlich wusste sie, dass sie mit seiner Hilfe weder Jagang, ihren persönlichen Bewachern noch den Schwestern entkommen konnte, gleichwohl verlieh ihr die Waffe einen Hauch von Macht, eine Möglichkeit, sich zu verteidigen - zumindest in bescheidenem Rahmen. Darüber hinaus war es ein Symbol ihrer Wertschätzung des Lebens, ein an sich selbst gerichtetes Versprechen, dass sie sich nicht aufgegeben hatte und es niemals tun würde.

Sobald sich ihr die Chance bot, würde sie es benutzen, um Jagang zu töten, auch wenn sie wusste, dass dies ihren sicheren Tod bedeuten und die Imperiale Ordnung durch den Tod eines einzelnen Mannes nicht aufzuhalten sein würde. Diese Männer waren wie Ameisen, das Zertreten einer einzelnen würde die Kolonie nicht zum Rückzug bewegen.

Früher oder später aber, darüber war sie sich im Klaren, würde sie hingerichtet werden, wahrscheinlich nicht ohne zuvor von Jagang eigenhändig grausam misshandelt zu werden. Verschiedentlich schon hatte sie ihn Menschen aus nichtigem oder gar keinem Anlass töten sehen, ihm ein Ende zu bereiten, würde also zumindest ihr Gerechtigkeitsgefühl befriedigen. An ihr früheres Leben besaß sie keinerlei Erinnerung; ihre bewusste Wahrnehmung seit ihrer Gefangennahme durch die Schwestern beschränkte sich auf eine dem Wahnsinn anheimgefallene Welt. Vermutlich konnte auch sie ihr keine Ordnung bringen, aber wenigstens konnte sie mit der Tötung Jagangs in einem kleinen Teil von ihr wieder Gerechtigkeit herstellen.

Einfach würde es allerdings nicht werden. Jagang war nicht nur körperlich kräftig und kampferprobt, er war zudem äußerst gerissen. Manchmal war sie sicher, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Da er als Krieger oft ihre nächsten Schritte vorherzusehen vermochte, vermutete sie, dass sie in der Vergangenheit ebenfalls eine Kriegerin gewesen sein musste.

Aufgescheucht vom aufgeregten Getuschel ihrer Kameraden, traten überall im Lager Soldaten aus ihren Zelten, rieben sich den Schlaf aus den Augen und starrten im Nieselregen auf die eilige Prozession in ihrer Mitte. Andere ließen von ihrer Arbeit bei der Versorgung der Tiere ab, um zuzusehen, Reiter verhielten ihre Pferde, um den Kaiser passieren zu lassen, Wagen kamen rumpelnd zum Stillstand.

An welcher Stelle des Lagers sie sich auch befand, es herrschte ein entsetzlicher Gestank; und mitten unter den Männern war es sogar noch eine Stufe schlimmer. Der ölige Rauch der Kochfeuer mischte sich unter die Ausdünstungen der hastig ausgehobenen Latrinen, die vermutlich nicht mehr lange ausreichen würden. Schon jetzt schlängelten sich kleine, übel aussehende Rinnsale durch das Lager, sicheres Zeichen dafür, dass die Latrinen überliefen - was der Geruch bestätigte. Nicht auszudenken, wie viel schlimmer es in den bevorstehenden Monaten der Belagerung noch werden würde.

Trotz des Gestanks und der üblen Dinge, die allenthalben im Lager vor sich gingen, nahm Kahlan von alledem nur nebenher Notiz. Ihre Gedanken kreisten um andere Dinge, oder besser, nur um eines: den Mann mit den grauen Augen.

Sie wusste nicht, welcher Mannschaft er angehörte. Als sie am Vortag sein Gesicht gesehen hatte, hatte er in einem Käfig auf einem Transportwagen gesessen. Aufgeschnappten Gesprächsfetzen zwischen Jagang und irgendwelchen Offizieren hatte sie lediglich entnommen, dass in den Käfigen Männer saßen, die zu einer am Turnier teilnehmenden Mannschaft gehörten.

Als Jagang, der die Mannschaften vor Beginn der Spiele unbedingt hatte in Augenschein nehmen wollen, schließlich von Mannschaft zu Mannschaft ging, hatte sie nach ihm Ausschau gehalten. Zunächst war sie sich dessen gar nicht bewusst gewesen, sondern hatte sich nur in Jagangs Nähe gehalten, um ebenfalls einen Blick auf die Spieler werfen zu können.

Sie hatte jedem einzelnen von ihnen ins Gesicht geschaut - ohne jedoch ihre Körpergröße, ihr Gewicht und ihre Muskeln abzuschätzen, wie zuvor Jagang, dessen Verhalten sie an eine Fleischstücke begutachtende Hausfrau auf dem Markt erinnerte. Schließlich ertappte sie sich dabei, dass sie die einzelnen Gesichter auf der Suche nach dem Mann aus dem Käfig vom Tag zuvor musterte, und war schon kurz davor, den Mut zu verlieren, weil sie glaubte, er sei doch nicht bei einer der Mannschaften. Vielleicht, so ihre Überlegung, war er wie so viele andere Gefangene als Arbeitssklave zur Baustelle an der Rampe geschickt worden. Als sie ihn schließlich doch erspähte, tat er etwas überaus Seltsames: Er ließ sich mit dem Gesicht voran in den Morast fallen. Sie waren noch ein gutes Stück entfernt, und außer Kahlan schaute eigentlich noch niemand in seine Richtung. Jeder hielt ihn einfach nur für ungeschickt, als er über die am Boden liegende Kette stolperte. Als sie sich seiner Mannschaft näherten, waren einige Gardisten in Gelächter ausgebrochen, die untereinander tuschelnd bemerkten, wie leicht sich so ein Bursche auf dem Ja’La-Feld das Genick brechen könne.

Kahlan hielt es für ganz und gar nicht komisch. Außer ihr kam niemand auf die Idee, er könnte es absichtlich getan haben, Kahlan dagegen war sich sicher. Sie wusste, was es hieß, ein Gefangener zu sein und ungeachtet des Risikos aus der Eingebung des Augenblicks handeln zu müssen, weil einem gar nichts anderes übrig blieb.

Nur konnte sie sich einfach nicht vorstellen, warum er es getan hatte. Nach ihrem Verständnis hatte er es nicht nur absichtlich, sondern in großer Hast getan, so als wäre es ihm erst Sekunden vorher eingefallen und keine Zeit mehr geblieben, sich etwas Besseres einfallen zu lassen. Es war eine Verzweiflungstat - nur warum?

Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Ganz ähnlich hatte sie sich verhalten, als sie ihr Gesicht unter der Kapuze verbarg, damit niemand mitbekam, wohin sie guckte, nach wem sie Ausschau hielt. Offenbar war er der Meinung, jemand könnte ihn wiedererkennen, wahrscheinlich Jagang selbst oder Schwester Ulicia. Auf jeden Fall wollte er nicht erkannt werden.

So ergab das Ganze einen Sinn, schließlich war er ein Gefangener. Somit konnte er nur ein Feind der Imperialen Ordnung sein. Sie fragte sich, ob er womöglich ein hochrangiger Offizier oder Ähnliches war. Überdies hatte er Kahlan wiedererkannt, das war ihr gleich im ersten Moment klar geworden, als sich tags zuvor, als er noch in diesem Käfig hockte, ihre Blicke gekreuzt hatten.

Als sie sich schließlich in Jagangs Gefolge seiner Mannschaft näherte, hatten sie und der Fremde einen Blick gewechselt, einen Blick, mit dem sie einander mitteilten, dass sie sich der hoffnungslosen Lage des jeweils anderen bewusst waren und einander nicht verraten hatten, fast so, als hätten sie stillschweigend einen Pakt geschlossen.

Es hatte ihr neuen Mut gegeben, zu wissen, dass es unter all diesen blutrünstigen Männern einen gab, der nicht ihr Feind war. Zumindest nahm sie das an. Sie ermahnte sich, ihre Phantasie nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln, schließlich hatte sie wegen ihres Gedächtnisverlusts im Grunde keine Möglichkeit zu unterscheiden, ob er ein Feind war oder nicht. Vielleicht gehörte er zu ihren Häschern und hatte, wie Jagang, womöglich ein Motiv, sie leiden zu sehen. Dass er ein Gefangener Jagangs war, bedeutete nicht zwangsläufig, dass er auf ihrer Seite stand. Bei den Schwestern war dies schließlich auch nicht der Fall. Aber wenn er tatsächlich versucht hatte, sein Gesicht zu verbergen, was würde geschehen, wenn erst das Ja’La-Turnier begann? Ein oder zwei Tage konnte er die Schlammschicht vielleicht beibehalten, aber sobald der Regen aufhörte, würde der Morast trocknen. Sie fragte sich, was er dann tun würde. Und dann konnte sie nicht anders, als seinetwegen einen sorgenvollen Stich zu verspüren.

Am Ende der Mannschaftsbesichtigung, nachdem sie aufgebrochen waren, um zu sehen, was der Bote Jagang zeigen wollte, war ihr noch etwas anderes in seinem Gesicht aufgefallen: Wut. Als sie sich für einen letzten schnellen Blick zu ihm umdrehte, war ihre Kapuze verrutscht, und er hatte den schwarzen Bluterguss gesehen, den Jagang in ihrem Gesicht hinterlassen hatte.

Im ersten Moment hatte sie geglaubt, er werde seine Kette mit bloßen Händen in Stücke reißen, doch dann stellte sie erleichtert fest, dass er klug genug war, nichts dergleichen zu versuchen. Kommandant Karg hätte ihn auf der Stelle umgebracht.

Nach der Unterhaltung, die er mit Jagang auf dem Weg zur Mannschaftsbesichtigung geführt hatte, und in der von gemeinsam geschlagenen Schlachten die Rede gewesen war, waren die beiden alte Bekannte. Während dieser kurzen Unterredung hatte sie sich ein Bild von dem Kommandanten gemacht. Wie schon den Kaiser, so durfte man auch den Kommandanten nicht unterschätzen. Vor den Augen seines Kaisers hätte er sich gewiss nicht in Verlegenheit bringen lassen wollen und hätte seine Angriffsspitze, wäre der Zorn mit ihr durchgegangen, ohne zu zögern umgebracht.

Vermutlich ließ sie sein Zorn über das, was Jagang ihr angetan hatte, zu der Überzeugung gelangen, dass er nicht ihr Feind sein konnte. Gleichzeitig war er gefährlich. Seine Art zu stehen, das Gleichgewicht zu halten, sich zu bewegen, verriet ihr eine Menge über ihn. Hinter seinem Raubtierblick verbarg sich unverkennbar Intelligenz, und seine überlegte Art, sich zu bewegen, sagte ihr, dass auch er nicht zu unterschätzen war. Sicherlich würde sie dies erst mit Beginn der Spiele wissen, andererseits machte ein Mann wie Kommandant Karg einen Gefangenen wohl kaum ohne triftigen Grund zu seiner Angriffsspitze. Bald, wenn sie ihn erst spielen sah, würde sie es wissen, doch in ihren Augen wirkte er wie die Personifizierung unterdrückten Zorns - und als wüsste er, wie er ihn entfesseln konnte.

»Hier herüber, Exzellenz«, sagte der Bote und wies in den grauen Nieselregen.

Sie folgten dem Boten, ließen das dunkle Meer des Feldlagers hinter sich und gelangten hinaus in das offene Gelände der Azrith-Ebene. Kahlan war mit ihren Gedanken so sehr bei dem Mann mit den grauen Augen, dass es ihr gar nicht auffiel, als sie bei der Baustelle der Rampe ankamen. Hoch über ihnen ragte die Rampe in den Himmel, und jenseits davon die Hochebene, die aus dieser Nähe wahrlich beeindruckend wirkte. Aus dieser kurzen Distanz war von dem Palast erheblich weniger zu erkennen.

Als der Regen einsetzte, hatte sie sich kurz der Hoffnung hingegeben, er werde die Rampe zum Einsturz bringen, doch jetzt, da sie unmittelbar daneben standen, war deutlich zu sehen, dass sie nicht nur mit Felsbrocken verstärkt worden war, sondern durch das Hinzufügen von immer mehr Baumaterial zusammengepresst wurde. Arbeitstrupps aus Soldaten mit schweren Gewichten stampften Erde und Steine fest, sobald diese an Ort und Stelle abgeladen wurden.

Nichts blieb dem Zufall überlassen. Gewiss, die Soldaten im Armeelager – wie auch ihre Bewacher - waren kaum mehr als ungebildete Rohlinge, die sich ahnungslos einer sinnlosen Sache verschrieben hatten, doch gab es in der Imperialen Ordnung durchaus auch einige intelligente Männer, und diese waren es, die den Bau der Rampe überwachten - die Rohlinge schleppten nur die Erde heran.

So dumm und ahnungslos die gemeine Masse der Soldaten war, Jagang selbst umgab sich mit kompetenten Leuten. Trotz ihrer Kraft und Körpergröße waren seine Leibwächter alles andere als Idioten. Und auch die Aufseher beim Bau der Rampe waren intelligente Männer. Sie wussten, was sie taten, und besaßen genügend Selbstbewusstsein, um Jagang zu widersprechen, wenn er einen nicht umsetzbaren Vorschlag machte. Ursprünglich hatte er das Fundament der Rampe schmaler auslegen wollen, um rascher an Höhe zu gewinnen. Bei allem Respekt scheuten sie nicht davor zurück, ihm zu erklären, dass dies nicht funktionieren werde und warum. Er hörte ihnen aufmerksam zu und erlaubte ihnen, nachdem er sich von der Richtigkeit ihres Einwandes überzeugt hatte, ihren Plan weiterzuverfolgen, obwohl dieser seiner ursprünglichen Absicht zuwiderlief. Glaubte er sich allerdings im Recht, verfolgte er sein Ziel mit bullenhafter Entschlossenheit. Kahlan blieb dem Kaiser dicht auf den Fersen, als dieser durch die Baustelle hastete, während der Bote unablässig den Weg durch das verwirrende Treiben wies. Die Reihen teilten sich, um die kaiserliche Prozession durchzulassen, und schlossen sich anschließend wieder. Nachdem sie Scharen von Arbeitern passiert hatten, erblickte Kahlan endlich die Gruben, in denen eine verblüffend große Zahl von Männern das Baumaterial für die Rampe aushob. Offenbar gab es unendlich viele dieser gewaltigen Gruben, über deren eine angeschrägte Seite die Männer das Baumaterial nach oben schleppten, während andere leere Körbe, Karren und Wagen zum Beladen hinunterschafften. Das von den Gruben bedeckte Gebiet erstreckte sich, so weit der Blick bei diesem tristen Nieselregen reichte.

Jagang und sein Gefolge folgten den breiten Wagenspuren, die die Ebene zwischen den Gruben wie ein Netz durchzogen und breit genug waren, um ein entgegenkommendes Fahrzeug passieren zu lassen.

»Hier unten, Exzellenz. Dies ist die Stelle.«

Jagang zögerte und spähte an der langen, abfallenden Rampe entlang hinunter in die Grube. Diese Grabung schien als einzige völlig verlassen zu sein. Er besah sich die anderen Gruben in der Nähe.

»Lasst diese dort ebenfalls räumen«, befahl er und wies auf die nächste Grube in Richtung Hochebene. »Und legt bis dahin in dieser Richtung keine neuen Grabungen an.«

Einige der Aufseher, die sich um ihn geschart hatten, beeilten sich, seine Anweisungen auszuführen.

»Gehen wir«, sagte Jagang. »Ich will sehen, ob sich tatsächlich etwas dahinter verbirgt oder nicht.«

»Ich bin sicher, Ihr werdet feststellen, dass meine Beschreibung zutreffend war, Exzellenz.«

Jagang ignorierte den linkischen Boten und ging daran, der abfallenden Wagenspur in die Grube hinab zu folgen. Kahlan blieb in seiner Nähe. Ein Blick zurück ergab, dass Schwester Ulicia kein Dutzend Schritte weiter hinten folgte. Ohne Kapuze, das nasse Haar an den Kopf geklebt, schien sie alles andere als glücklich, sich bei diesem Regen unter freiem Himmel aufzuhalten. Kahlan wandte sich wieder herum, um auf dem glitschigen, morastigen Boden nicht auszurutschen.

Am Boden der Grube herrschte ein chaotisches Durcheinander, geschaffen von Tausenden von Männern, die die Erde aufgewühlt und bewegt hatten. Wo der Boden weicher und leichter auszuheben war, hatte man tiefer gegraben; an anderen, steinigeren und schwerer zu bearbeitenden Stellen waren Erhebungen entstanden, fast doppelt so hoch wie Kahlan, die es noch abzutragen galt.

Jagang folgte dem Boten durch das Chaos zu einem der tieferen Bereiche. Kahlan, stets umringt von ihren Bewachern, folgte ihnen durch den Morast nach unten, denn sie wollte in der Nähe bleiben, für den Fall, dass Jagang durch das, was sich in der Grube verbarg, abgelenkt wurde. Bei der erstbesten Gelegenheit würde sie ihn ungeachtet des Risikos umzubringen versuchen.

Als sie stehen blieben, hockte sich der Bote nieder. »Dies ist es, Exzellenz.«

Er klopfte mit der flachen Hand auf ein knapp aus dem Boden ragendes Etwas. Die Stirn in Falten gelegt, starrte Kahlan zusammen mit allen anderen auf die glatte freigelegte Fläche.

Der Bote hatte recht gehabt, es sah entschieden nicht natürlich aus. Sie meinte so etwas wie eine Türangel zu erkennen. Tatsächlich ähnelte das Ganze einem tief in der Erde vergrabenen Gebäude.

»Säubern!«, befahl Jagang einem der Vorarbeiter, der mit hinab in die Grube gestiegen war.

Offenbar hatte man nach der Entdeckung des Bauwerks aufgrund einer bestehenden Arbeitsanweisung sämtliche Arbeiten eingestellt und die Arbeiter abgezogen, bis Jagang den Fund persönlich begutachten konnte. Die leichte Rundung des Gebildes schien darauf hinzudeuten, dass man den oberen Teil einer gewaltigen, gewölbeähnlichen Konstruktion freigelegt hatte.

Als sich einige Männer unter Jagangs Anleitung mit Schaufeln und Besen an die Arbeit machten, zeigte sich rasch, dass die Beschreibung des Boten zutreffend gewesen war: Es glich in der Tat der Außenseite einer Gewölbedecke.

Nachdem die Männer sie von der Erde befreit hatten, konnte Kahlan erkennen, dass das Gebilde aus präzise zugeschnittenen, großen Steinquadern bestand, die sich zu einer bogenförmigen Wölbung fügten. Es erinnerte sie an nichts so sehr wie an ein eingegrabenes Bauwerk, allerdings war kein Dach zu sehen, sondern nur die freigelegte Außenkonstruktion einer Gewölbedecke.

Ihr war völlig unbegreiflich, welchen Zweck ein solches hier draußen in der Azrith-Ebene vergrabenes Gebilde haben sollte, zumal sich unmöglich sagen ließ, wie viele Jahrhunderte oder gar Jahrtausende es bereits hier verschüttet lag.

Als man genügend Schutt und Erde beiseitegeräumt hatte, ging ioo Jagang in die Hocke, fuhr mit der Hand über das feuchte Mauerwerk und zeichnete mit dem Finger einige Fugen nach. Sie waren so fein, dass nicht einmal eine Messerklinge zwischen sie gepasst hätte.

»Schafft Werkzeug herbei - Stemmeisen und Ähnliches«, befahl er. »Ich will, dass es geöffnet wird. Ich möchte wissen, was sich darunter befindet.«

»Sofort, Exzellenz«, erwiderte einer der Bauaufseher.

»Nimm deine Gehilfen, keine gewöhnlichen Arbeiter.« Jagang erhob sich und erfasste mit einer Armbewegung das umliegende Gelände. »Das gesamte Gebiet soll abgesperrt werden. Ich will hier keine gewöhnlichen Soldaten in der Nähe sehen. Ich werde einige Männer Posten beziehen lassen, die die Baustelle jederzeit bewachen. Ab sofort ist der Zutritt zu diesem Gelände ebenso verboten wie zu meinen Zelten.«

Wenn irgendwelche Soldaten in die Grabstätte - oder was immer man hier gefunden hatte - hinunterstiegen, das war Kahlan klar, würden sie sämtliche Wertgegenstände daraus entfernen. Die Beuteringe, die Jagang trug, waren der sichere Beweis, dass er dieselbe Einstellung hatte. Schließlich sah Kahlan ein paar von Jagangs Leibwächtern die Schräge hinunterstolpern und blickte kurz auf. Gewaltsam bahnten sie sich einen Weg zwischen den Vorarbeitern und anderen Wachen hindurch, um in die Nähe des Kaisers zu gelangen.

»Wir haben sie«, berichtete einer von ihnen außer Atem. Ein verschlagenes Lächeln breitete sich langsam über Jagangs Gesicht.

»Wo ist sie?«

Der Mann zeigte. »Gleich dort oben, Exzellenz.«

Jagang warf Kahlan einen Blick zu. Sie wusste nicht, was er im Schilde führte, doch der Blick ließ es ihr eiskalt über den Rücken laufen.

»Schafft sie hier herunter, sofort«, wies Jagang den Soldaten an. Der mühte sich zusammen mit einem seiner Kameraden wieder den Hang hinauf, um ihre Gefangene, wer immer es war, zu holen. Kahlan hatte keine Ahnung, von wem die Männer gesprochen hatten, oder warum sich Jagang darob so begeistert zeigte.

Während alles wartete, fuhren die Bauaufseher mit der Freilegung des eingegrabenen Gebäudes fort, und nach kurzer Zeit war eine Steinfläche von nahezu fünfzig Fuß Länge freigelegt. Der gesamte freigelegte Teil verlief in einer geraden Linie und wies über die gesamte Länge die immer gleiche Wölbung auf.

Andere Arbeiter waren mit der Verbreiterung der Ausgrabungsstätte rings um das glatte Mauerwerk beschäftigt. Je mehr sie freiräumten, desto deutlicher wurden Gestalt und Ausmaß der Konstruktion sichtbar. Sie war alles andere als klein. Wenn es sich bei dem Mauerwerk tatsächlich um die Decke eines darunterliegenden Gebäudes handelte, dann musste dieser Raum oder diese Grabstätte einen Durchmesser von nahezu zwanzig Fuß besitzen. Da nichts auf ein Ende hindeutete, ließ sich die Gesamtlänge noch nicht abschätzen, doch so weit sie bislang sehen konnte, schien es eine Art verschütteter Gang zu sein. Als sie gedämpfte Schreie und das Scharren von Füßen vernahm, blickte Kahlan auf. Die hünenhaften Leibwächter schleiften eine sich heftig wehrende, schmächtige Gestalt den morastigen Hang herunter. Sie hatte die Augen aufgerissen, und die Knie drohten unter ihr nachzugeben.

Jeder der Männer hielt den dünnen Arm eines Mädchens gepackt, das nicht einmal halb so groß war wie sie.

Es war Julian, das Mädchen aus der uralten Ruinenstadt Caska, jenes Mädchen, dem Kahlan zur Flucht verholfen hatte - wobei sie zwei Leibwächter Jagangs und Schwester Cecilia getötet hatte. Als die beiden das wehrlose Mädchen heranschleppten, fanden seine kupferfarbenen Augen zu guter Letzt Kahlan. Und sofort füllten sich diese Augen mit Tränen über den ungeheuren Verlust sowie ihr Unvermögen, den Soldaten der Imperialen Ordnung zu entkommen. Die Leibwächter schleiften die Kleine bis unmittelbar vor den Kaiser und stellten sie vor ihm auf die Füße.

»Sieh an«, bemerkte Jagang mit leicht säuerlichem Schmunzeln, »wen haben wir denn hier?«

»Tut mir leid«, murmelte die Kleine mit einem Blick zu Kahlan. Jagang sah kurz zu ihr hinüber. »Ich habe deine kleine Freundin hier suchen lassen. Ziemlich dramatisch, was du dir bei ihrer Flucht herausgenommen hast.« Er packte Julian am Kinn, so dass seine Finger sich in ihre Wangen bohrten. »Zu dumm, dass alles vergeblich war.«

Dieser Ansicht war Kahlan durchaus nicht. Sie hatte mindestens zwei seiner Leibwächter sowie Schwester Cecilia getötet, sie hatte ihr Bestes gegeben, um Julian zu befreien. Sie hatte alles versucht und diesen Versuch teuer bezahlen müssen, und doch würde sie beim nächsten Mal wieder so handeln.

Mit mächtiger Hand packte Jagang den dürren Arm des Mädchens und zog es zu sich heran. Wieder grinste er Kahlan an. »Weißt du, was wir hier vor uns haben?«

Kahlan enthielt sich einer Antwort. Sie hatte nicht die Absicht, sich auf sein Spiel einzulassen.

»Was wir hier vor uns haben«, beantwortete er seine Frage selbst, »ist jemand, der dir helfen wird, dich zu benehmen.«

Sie bedachte ihn mit einem leeren Blick, fragte aber nicht nach. Unvermittelt zeigte Jagang auf die Hüfte eines der Sonderbewacher Kahlans, der rechts von ihr stand. »Wo ist dein Messer?«

Der Mann betrachtete seinen Gürtel, als befürchtete er, eine Schlange werde jeden Augenblick ihre Fänge in ihn schlagen. Schließlich sah er von der leeren Messerhülle wieder auf.

»Exzellenz, ... ich, ich muss es wohl verloren haben.«

Jagangs eiskalter Blick ließ ihn erbleichen. »Ganz recht, du hast es verloren.«

Er wirbelte herum und schlug Julian den Handrücken so heftig ins Gesicht, dass sie durch die Luft geschleudert wurde. Sie landete schreiend vor Schock und Schmerz im Morast. In der Pfütze rings um ihr Gesicht breitete sich eine rötliche Lache aus.

Die Hand fordernd ausgestreckt, wandte sich Jagang wieder zu Kahlan herum. »Das Messer - gib es mir.«

Der Blick aus seinen vollkommen schwarzen Augen war so tödlich, dass Kahlan glaubte, aus schierer Angst einen Schritt zurücktreten zu müssen. Jagang machte eine fordernde Geste. »Wenn ich dich noch einmal fragen muss, trete ich ihr die Zähne ein.«

Im Nu schössen ihr alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Sie fühlte sich, wie sich auch der Mann mit den grauen Augen gefühlt haben musste, ehe er sich absichtlich in den Schlamm geworfen hatte. Ihr blieb ebenfalls keine Wahl.

Kahlan legte ihm das Messer in die geöffnete Hand.

Ein triumphierendes Grinsen ging über sein Gesicht. »Danke, Schätzchen.«

Dann drehte er sich urplötzlich herum und stieß es dem Mann, dem es gehörte, mit einer wuchtigen Bewegung mitten ins Gesicht. Ein lautes Knirschen hallte in der feuchten Luft wider, als der Knochen splitterte. Der Mann brach tot im Morast zusammen, das hervorschießende Blut ein schockierender Anblick im grauen Dämmer. Er hatte nicht einmal mehr Zeit zu schreien, ehe er starb.

»Da hast du dein Messer zurück«, schrie er den am Boden Liegenden an. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die verblüfften Mienen der Sonderbewacher Kahlans. »Ich schlage vor, ab sofort werdet ihr besser auf eure Waffen aufpassen als euer Kamerad hier. Sollte sie einem von euch noch einmal eine Waffe abnehmen und ihn nicht damit töten, werde ich es tun. Habe ich mich einfach genug ausgedrückt, dass ihr das alle begreift?«

Wie aus einem Munde antworteten sie: »Ja, Exzellenz.«

Er bückte sich, riss die schluchzende Julian auf die Beine und hielt sie mühelos in einer Hand, sodass nur ihre Zehen den Boden berührten.

»Weißt du, wie viele Knochen der menschliche Körper hat?« Kahlan unterdrückte ihre Tränen. »Nein.«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich auch nicht. Aber ich weiß, wie ich es herausfinden kann. Wir könnten ihr die Knochen einen nach dem anderen brechen und dabei jedes Knacken zählen.«

»Bitte ...«, flehte Kahlan, die sich mächtig anstrengen musste, ihr Schluchzen zu unterdrücken.

Jagang stieß die Kleine zu Kahlan hinüber, als machte er ihr eine lebensgroße Puppe zum Geschenk.

»Ab sofort bist du für ihr Leben verantwortlich. Wann immer du mein Missfallen erregst, werde ich ihr einen Knochen brechen. Die genaue Zahl der Knochen in ihrem kleinen, schmächtigen Körper ist mir nicht bekannt, aber ich bin mir sicher, dass es sehr viele sind.« Er hob eine Braue. »Und ich weiß, wie leicht mein Missfallen zu erregen ist.

Solltest du mehr als nur mein Missfallen erregen, werde ich sie vor deinen Augen foltern lassen. Ich verfüge über wahre Experten in dieser hohen Kunst.« Stürme aus grauen Schatten trieben durch seine tiefschwarzen Augen. »Sie verstehen sich meisterlich darauf, Menschen selbst unter unvorstellbaren Qualen noch lange Zeit am Leben zu halten. Sollte sie dennoch an der Folter sterben, werde ich mich an dir schadlos halten müssen.«

Kahlan zog den blutverschmierten Kopf der beklagenswerten Kleinen fest an ihre Brust. Als diese ihr leise schluchzend gestehen wollte, wie leid es ihr tue, dass sie sich hatte erwischen lassen, brachte Kahlan sie sanft zum Schweigen.

»Hast du mich verstanden?«, verlangte Jagang mit tödlich ruhiger Stimme zu wissen.

Kahlan schluckte. »Ja.«

Er packte Julians Haar mit seiner riesigen Pranke und machte Anstalten, sie wieder zu sich herüberzuziehen. Julian schrie vor Entsetzen.

»Ja, Exzellenz!«, stieß Kahlan hastig hervor. Lächelnd ließ er das Haar des Mädchens los. »Schon besser.« Obwohl sich Kahlan nichts sehnlicher wünschte, als dass dieser Albtraum enden möge, wusste sie, dass dies erst der Anfang war.

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