Richard stieg über den zerschmolzenen weißen Stein hinweg und trat in die Grabkammer Panis Rahls. Die Grabkammerbediensteten warteten draußen im Gang. Sie hatten ihn gedrängt, zunächst allein vorzugehen, da sie nicht einzutreten wagten, ehe er die Grabkammer aufgesucht hätte. Immerhin war es die Grabstätte seines Großvaters.
Allerdings sparte er sich seine Gefühle der Ehrfurcht nur für Menschen auf, die sie auch verdienten. Panis Rahl war ein Tyrann, dessen Eroberungsbestrebungen sich nur unwesentlich von denen seines Sohnes, Darken Rahl, unterschieden hatten. Und wenn es ihm nicht gelungen war, das gleiche Ausmaß an Bosheit zu erreichen wie sein Sohn, dann gewiss nicht, weil er es nicht versucht hätte. Richard erinnerte sich noch gut, dass Jahre zuvor, kurz nachdem Darken Rahl nach dem Öffnen des Kästchens der Ordnung von dessen Kraft überwältigt worden war, einer der Bediensteten aus dem Palast zu Zedd gekommen war, um ihm zu berichten, dass Panis Rahls Grabkammer schmelze. Zedd hatte ihm aufgetragen, das Grabmal mit einem besonderen weißen Steinmaterial zu versiegeln, ehe dieser Prozess auf den übrigen Palast übergriff.
Seitdem war der Notbehelf aus weißem Stein, der den Eingang zur Grabkammer versiegelte, größtenteils weggeschmolzen, und der seltsame Prozess hatte den gesamten Raum zu zerstören begonnen. Die Wände hatten sich verzogen, wodurch die Platten aus rosafarbenem Granit aus der einstmals ebenen Wandfläche gedrückt worden waren. Die Verformungen innerhalb der Kammer hatten schließlich dazu geführt, dass sich draußen auf dem Gang die Fugen zwischen Decke und Seitenwänden geweitet hatten. Wurde dem nicht Einhalt geboten, war durchaus vorstellbar, dass sich die Stützwände weiter verzogen, bis die Stützkonstruktion des Palasts nach und nach in sich zusammenfiel. Richard sah sich um und machte sich von allem ein Bild, während er durch die Kammer schlenderte. Der Schein der siebenundfünfzig Fackeln spiegelte sich im goldverkleideten, auf einem Sockel ruhenden Sarkophag seines Großvaters, was ihm inmitten des höhlenartigen Raumes nicht nur einen matten Glanz verlieh, sondern ihn über dem weißen Marmorboden schweben zu lassen schien. Nicht nur der Sarg selbst, auch die Wände ringsum waren mit Schriftzeichen versehen.
»Ich kann Rosa nicht ausstehen«, murmelte Nicci bei sich, während ihr Blick über den polierten rosafarbenen Granit an Wänden und Decke schweifte.
»Irgendeine Idee, warum die Wände schmelzen?«, wandte sich Richard an sie, während sie langsam die Runde um die Kammer machte und alles sorgfältig in Augenschein nahm.
»Das ist es ja gerade, was mir Angst macht.«
»Was wollt Ihr damit sagen?« Richard ging daran, die auf Hoch-D’Haran verfassten und in die Wände gravierten Inschriften zu studieren.
»Verna meinte, ich hätte mich, als ich unmittelbar vor meiner Gefangennahme in den Palast kam, zusammen mit Ann auf dem Weg hierher befunden. Außerdem hätte ich ihr gegenüber behauptet, ich wüsste, warum die Wände hier unten schmelzen.«
Richard sah sie über seine Schulter an. »Und, warum tun sie es?«
Nicci wirkte seltsam verwirrt und besorgt. »Ich weiß nicht. Ich erinnere mich nicht mehr.«
»Ihr erinnert Euch nicht mehr? Woran?«
»An den Grand, weshalb ich hier herunterkam, oder warum die Wände schmelzen. Ich fragte Verna noch, ob sie sich vielleicht noch an eine andere Bemerkung von mir erinnere, aber sie meinte, das sei nicht der Fall.«
Richard fuhr mit dem Finger leicht über den Sarg seines Großvaters.
»Der Feuerkettenbann.«
Nicci blickte auf, jetzt noch besorgter. »Glaubst du wirklich, das ist der Grund?«
»Ihr erinnert Euch tatsächlich an nichts?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann mich nicht erinnern, Verna gegenüber jemals behauptet zu haben, dass ich die Ursache des Problems kenne. Aber was noch schlimmer ist, ich erinnere mich nicht einmal, warum die Wände schmelzen. Wie könnte mir so etwas Wichtiges entfallen sein?«
Einen Moment lang blickte er in ihre bekümmerten Augen. »Unter normalen Umständen gar nicht.«
»Das kann nur bedeuten, dass sich der durch den Feuerkettenbann angerichtete Schaden über das ursprüngliche Ziel des Bannes hinaus auszuweiten begonnen hat.«
»Die Verunreinigung«, bestätigte Richard mit leiser Stimme.
»Wenn das stimmt, bedeutet das, dass es eine Verbindung gibt zwischen den Vorgängen hier und dem, was wir tun müssen, um dem Feuerkettenbann entgegenzuwirken. Die von den Chimären verursachte Verunreinigung löscht das Erinnerungsvermögen, um sich selbst zu schützen.«
Die Vorstellung war so beängstigend, dass Richard ins Grübeln kam. Gleichwohl war ihm klar, dass es schlüssig klang. Seine Sorge war jetzt nicht nur, Jagang könnte ihm einen Schritt voraus sein, sondern dass die mit dem Feuerkettenbann einhergehende Verunreinigung sich möglicherweise aktiv gegen ihre Vernichtung zu wehren begann. Dafür musste sie nicht einmal empfindungsfähig sein. Für die Chimären war die Vernichtung der Magie ein erstrebenswertes Ziel, und die von ihnen hinterlassene Verunreinigung ihr Mittel zu diesem Zweck, weshalb ein solcher Selbstschutz wahrscheinlich ein wesentlicher Bestandteil ihrer selbst war, etwa vergleichbar mit den Dornen bestimmter Pflanzen. Ihr Vorhandensein bedeutete schließlich nicht, dass diese Pflanzen jemanden bewusst zu verletzen beabsichtigten, vielmehr waren sie ein untrennbar mit ihnen verbundener Schutzmechanismus, der ihren Fortbestand sicherte.
»Wir müssen den Feuerkettenbann umkehren, oder er wird immer weiter um sich greifen«, meinte er schließlich an Nicci gewandt. »Nicht mehr lange, und wir werden vergessen haben, warum wir ihn überhaupt umkehren müssen. Deshalb muss ich die Macht der Ordnung heraufbeschwören, ehe es zu spät ist.«
»Aber dafür benötigen wir die Kästchen der Ordnung«, erinnerte sie ihn.
»Also, Jagang hat deren zwei, und das dritte hat die Hexe mitgehen lassen. Irgendwie müssen wir sie wiederbeschaffen.«
»Da Sechs mit den Angriffen auf unsere Truppen in der Alten Welt auf Befehl Jagangs handelt, müssen wir wohl davon ausgehen, dass sie die Absicht hat, ihm das dritte Kästchen auszuhändigen.«
Mit dem Finger zeichnete Richard einen Teil der Inschrift auf Panis Rahls Sarkophag nach. »Ich denke, Ihr habt recht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er alle drei Kästchen hat, wenn es nicht längst so weit ist.«
»Aber wir haben etwas, auf das sie unbedingt angewiesen sind.«
»Tatsächlich? Und das wäre?«
»Den Garten des Lebens. Seit ich Das Buch des Lebens übersetzt habe, sehe ich ihn in einem völlig neuen Licht. Der Text hat einige meiner früheren Schlussfolgerungen bestätigt, zu denen ich nach meinem letzten Besuch im Garten gelangt war.
Ich sehe ihn jetzt im Zusammenhang mit der Magie der Ordnung. Ich habe mir seine genaue Lage angesehen, die Menge des einfallenden Lichts, die Winkel im Verhältnis zu verschiedenen Sternenkarten, die Bahn, auf der Sonne und Mond über ihn hinwegziehen. Außerdem habe ich den Bereich analysiert, wo die mit der Macht der Ordnung verbundenen Banne gewirkt worden sind - also ihre Anordnung im Verhältnis zu den anderen Elementen.«
Richards Neugier war geweckt. »Wollt Ihr damit sagen, der Garten des Lebens ist tatsächlich für das Öffnen eines der Kästchen erforderlich?«
»So ist es. Er wurde eigens als Ort angelegt, an dem die für das Öffnen eines der Kästchen erforderlichen kontrollierten Bedingungen gegeben sind.«
Das musste er sich erst noch einmal durch den Kopf gehen lassen, ehe er sicher war, sie richtig verstanden zu haben. »Mit anderen Worten, Jagang muss diesen Raum betreten, will er das richtige Kästchen öffnen?«
Nicci zuckte die Achseln. »Es sei denn, er hat die Absicht, eine exakte Nachbildung dieses Raums anzufertigen. Das liegt zwar nicht völlig außerhalb seiner Möglichkeiten, andererseits stellen die in diesem Raum zusammengeführten Elemente überaus hohe Anforderungen. Ihn ein zweites Mal zu erschaffen, wäre ein recht kniffliges Unterfangen.«
»Aber möglich wäre es ihm?«
»Er würde dafür die Originalhinweise benötigen, von denen die Pläne für den Garten des Lebens abgeleitet wurden. Zudem brauchte er die Hilfe sowohl von Hexenmeisterinnen als auch von Zauberern. Da ihm alles Notwendige fehlt, um es allein zu schaffen, müsste er den Garten des Lebens genauestens studieren, um die Nachbildung bauen zu können. Praktikabel wäre das nur, wenn er den bereits vorhandenen exakt kopiert, da dort sämtliche Arbeiten bereits erfolgreich ausgeführt worden sind.«
»Aber wenn er zu diesem Zweck den Palast betreten kann, könnte er ebenso gut gleich das Exemplar hier benutzen.«
Nicci sah ihm in die Augen. »Eben.«
Die Erkenntnis, wie weit sie Jagangs wahren Beweggründen tatsächlich hinterherhinkten, ließ Richard seufzen. »Kein Wunder, dass es ihn nicht weiter interessiert hat, die Kästchen früher zu öffnen. Er musste erst hierher, die Eroberung des Palasts des Volkes war von Anfang an Teil seines größeren Plans. Er hat die ganze Zeit genau gewusst, was zu tun war.«
»Sieht ganz so aus«, räumte sie ein.
Berdine trat durch die zerschmolzene Türöffnung in die Grabkammer.
»Da seid Ihr ja, Lord Rahl.«
Richard wandte sich herum. »Was gibt’s?«
»Ich habe dieses Buch hier gefunden.« Sie durchquerte die Kammer und hielt es in die Höhe, so als würde das Herumfuchteln mit dem alten Folianten bereits alles erklären. »Es ist auf Hoch-D’Haran. Nachdem ich einen Teil übersetzt und erkannt hatte, was es ist, trug Verna mir auf, es Euch augenblicklich zu zeigen.«
Als die Mord-Sith es ihr reichte, nahm Nicci es entgegen, klappte den Einband auf und begann den Text zu überfliegen.
»Und, wovon handelt es?«, wollte Richard wissen.
»Es geht um Julians Volk. Jedenfalls um ihre Vorfahren aus Caska.«
»Die Traumwirker ...«, meinte Nicci leise bei sich, während sie im Text weiterlas.
Richard runzelte die Stirn »Was?«
»Nicci hat recht«, meinte Berdine. »Es handelt von den Menschen in Caska, die Träume erzeugen konnten. Verna fand, das sollte ich Euch sagen.«
»Ja gut, danke.«
»Also, ich muss wieder zurück. Da sind noch andere Bücher, die Verna dringend übersetzt haben möchte. Und nicht vergessen«, fügte sie, bereits im Gehen, über ihre Schulter hinzu, »irgendwann muss ich Euch von den anderen Dingen berichten, die ich für Euch herausgefunden habe - über Baraccus.«
Richard beantwortete das kurze Lächeln der Mord-Sith mit einem Nicken.
Nicci klemmte sich das Buch unter den Arm. »Danke, Berdine. Sobald wir hier fertig sind, werden wir einen Blick hineinwerfen.«
Richard sah der sich entfernenden Berdine einen Moment lang hinterher, dann wies er auf die Inschriften an den Wänden. »Das alles sieht ziemlich verwirrend aus. Wisst Ihr genau, welche Art von Bannen hier dargestellt sind? Einige der Elemente kommen mir vage vertraut vor.«
»Das sollten sie auch«, antwortete Nicci dunkel und wies auf eine der Inschriften an der gegenüberliegenden Wand. »Seht Ihr, dort? Das sind die Anweisungen eines Vaters an seinen Sohn für das Hinabsteigen in die Unterwelt und die anschließende Rückkehr.«
»Soll das heißen, sie wurden in die Wände seiner Grabkammer gemeißelt, weil Panis Rahl diese Banne an Darken Rahl weitergeben wollte?«
»Nein.« Nicci schüttelte den Kopf. »Ich glaube, diese Banne wurden in der Familie der Rahls über zahllose Generationen weitervererbt - jeweils vom Vater auf seinen mit der Gabe gesegneten Nachkommen, also den nächsten Lord Rahl. In gewisser Weise stellen sie dein Vermächtnis dar.«
Die Vorstellung schien Richard beinahe ein wenig zu überwältigen. »Wie alt mögen sie sein, was meint Ihr? Und wieso vererbt man Banne für das Hinabsteigen in die Unterwelt?«
»Nach ihrer Zusammensetzung vermute ich, dass sie aus jener Zeit stammen, als die Macht der Ordnung selbst geschaffen wurde.« Sie musterte ihn aus dem Augenwinkel. »Möglicherweise braucht man sie, um sich der Macht der Ordnung zu bedienen.«
Er wandte sich zu ihr herum. »Wie bitte?«
»Nach meiner Lektüre der Schriften, in denen die Macht der Ordnung beschrieben wird, also dem Buch des Lebens sowie einigen Titeln über die Ordnungstheorie, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es etwas mit dem Problem zu tun hat, wie subtraktive Magie beim Auslösen der Feuerkettenreaktion Verwendung fand.«
»Ihr meint das Löschen des Erinnerungsvermögens?«
Nicci nickte. »Wieso haben wir anderen keine Erinnerung an Kahlan? Warum weiß sie nicht, wer sie früher war? Warum können wir mit unserer Gabe keine Menschen heilen, die Kahlan vergessen haben, und wieso ist es uns unmöglich, Kahlan selbst zu heilen? Warum können wir diese Gedächtnisse nicht mithilfe unserer Gabe wiederherstellen?«
Nicci war jetzt ganz die Lehrerin, die ihren Schüler dazu anhält, selbst die Antworten zu finden, eine Technik, mit der Richard zur Genüge vertraut war. Zedd hatte sie schon von klein auf bei ihm angewandt.
»Weil diese Erinnerungen gelöscht sind. Da gibt es nichts wiederherzustellen.«
»Und wie wurden sie gelöscht?« Nicci hob fragend eine Braue. Er fand die Antwort ziemlich offensichtlich. »Mit subtraktiver Magie.«
Sie starrte ihn an, als warte sie auf mehr. Dann dämmerte es ihm.
»Bei den Gütigen Seelen«, sagte er leise. »Subtraktive Magie ist die Magie der Unterwelt.« Er trat näher. »Wollt Ihr damit sagen, um die Macht der Ordnung verwenden zu können, ist es erforderlich, in die Unterwelt hinabzusteigen, weil die mit subtraktiver Magie gelöschten Dinge nur dort wiedergefunden werden können?«
»Für das Wiederherstellen von Erinnerungen benötigt man eine Art Keim, aus dem man sie züchten kann. Die Erinnerung, die du von ihr hast, ist deine eigene, nicht Kahlans getilgte Erinnerung, auch nicht Zedds oder Caras oder die irgendeines anderen. Der Stoff ihrer getilgten Erinnerung wurde aus dieser Welt entfernt, sie existiert nicht mehr. Zumindest nicht hier.«
Er brachte nicht einmal ein verständnisloses Blinzeln zuwege. »Und dieser Keim der Erinnerung wurde den Opfern des Feuerkettenbanns mit subtraktiver Magie genommen. Wenn er also überhaupt noch existiert, dann in der Unterwelt.«
Sie wies auf die in die granitenen Seitenwände des Sarkophags gemeißelten Inschriften auf Hoch-D’Haran. »Im Buch des Lebens, das Darken Rahl gelesen haben muss, um die Kästchen der Ordnung ins Spiel zu bringen, heißt es, das Heraufbeschwören der Macht der Ordnung erfordere unter anderem, dass man in die Unterwelt hinabsteigen müsse.«
»Aber welche Erinnerung könnte Darken Rahl bei seiner Reise in die Unterwelt wiedergefunden haben?«
»Für das Heraufbeschwören der Macht der Ordnung sind gewisse Schritte erforderlich, und einer davon ist eben ein Abstieg in die Unterwelt.« Sie wies auf die Wände. »Wie dort nachzulesen ist.«
»Aber da steht doch nur, dass es erforderlich ist. Wieso wird der genaue Zweck dieser Reise nicht erläutert?«
»Nun, der Zweck ist es, den Keim der Erinnerungen wiederzufinden. Nur wissen die Mächte der Ordnung weder, was dafür vonnöten ist, noch wer das Ziel des Feuerkettenbanns sein sollte, also stellten sie nur sicher, dass dieser Schritt unternommen wird. Was genau dann dort getan werden muss, steht nicht da. Es ist lediglich eine Hilfe für den, der versucht, den Feuerkettenbann aufzuheben. Dem Betreffenden bleibt es dann selbst überlassen, auf dieser Reise das Notwendige zu veranlassen. Berdine war es, die mich überhaupt erst auf Das Buch des Lebens
aufmerksam gemacht hat. Sie kannte seinen Standort, weil sie Darken Rahl es hatte benutzen sehen. Er ist in die Unterwelt hinabgestiegen, und diese Inschriften hier bilden einen Teil der Formeln für die dafür notwendigen Banne.«
»Aber er wollte doch keine durch den Feuerkettenbann getilgten Erinnerungen wiederfinden.«
Sie zuckte die Achseln. »Nein, er hat die Macht der Ordnung zur Machtgewinnung benutzt. Was er, einmal dort angekommen, dort tun würde, war ihm überlassen. Wahrscheinlich war ihm der eigentliche Zweck seiner Reise in die Unterwelt gar nicht bewusst, und er hielt sie einfach für einen notwendigen Schritt, für den Teil eines komplexen Rituals.«
Richard fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Kahlan hat mir von seiner Reise in die Unterwelt erzählt.«
Wieder wies sie auf die Inschriften. »Hier wird teilweise beschrieben, wie er es gemacht hat.«
»Aber wie in aller Welt soll ich so etwas tun?«
»Nach den Inschriften hier bist du allein gar nicht dazu fähig. Du brauchst einen Führer, und nicht nur das, du brauchst einen Führer, den die zu dieser Reise aufbrechende Person erst für sich gewinnen muss, und der ihr gegenüber anschließend vollkommen loyal ist - bis in den Tod.«
»Eine gütige Seele, der ich mein Leben anvertrauen kann.«
Sie nickte, wies dann auf eine Stelle der Inschriften. »Siehst du, hier? Dies ist ein Bann, um besagten Führer aus der Unterwelt herbeizurufen und dich dorthin zu bringen, wo du hinmusst.«
Obwohl ihm einigermaßen unwohl war bei der Vorstellung, wandte sich Richard herum zu der Inschrift, wies erst auf eine der Stellen, dann auf eine zweite an einer anderen Wand. »Seht Euch diese Hinweise an. Für diese Banne benötigt man Zauberersand.«
»Allerdings. Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, die Grabkammerbediensteten zu fragen, wo sie das Körnchen gefunden haben, das du in deiner Tasche trägst.«
Aufgewühlt von den Dingen, die er lernte, hatte er fast vergessen, warum sie überhaupt in die Grabkammern hinabgestiegen waren.
»Ihr habt recht.« Er machte Cara ein Zeichen, die sechs weiß gewandeten Bediensteten in die Grabkammer zu führen.
Wie Küken einer Glucke folgten sie ihr mit hastigen Schritten. Richard wartete, bis das Grüppchen sich um ihn geschart hatte und sie ihn erwartungsvoll ansahen.
»Mit dem Finden dieses Sandkörnchens habt ihr alle uns einen großen Dienst erwiesen. Danke, dass ihr so aufmerksam gewesen seid.«
Ihr strahlendes Lächeln ließ vermuten, dass sie aus dem Munde eines Lord Rahl noch nie ein solches Lob vernommen hatten. Er legte einer der Frauen sachte die Hand auf die Schulter. »Kannst du mir die Stelle zeigen, wo ihr das Körnchen gefunden habt?«
Flüchtig blickte sie die anderen an, ging dann vor dem goldenen Sarg in der Mitte des Raumes auf die Knie und wies unter einer der Ecken auf den Fußboden. Sie winkte Richard zu sich.
Der kniete neben ihr nieder und folgte ihrem Beispiel, als sie ihren Kopf unter den Sarg schob. Sie wies nach oben, auf eine Ecke des Sargbodens, die sich ein Stück gelöst hatte.
Richard klopfte mit dem Handballen dagegen, bis ein wenig Sand herausrieselte, dessen winzige Körnchen über den weißen Marmorboden sprangen.
Hastig erhob er sich und wechselte einen verwirrten Blick mit Nicci.
»Gib mir deine Axt«, wies er einen Soldaten der Ersten Rotte an, der das Geschehen vom Flur gleich vor der Kammer aus beobachtet hatte. Sofort trat er mit eingezogenem Kopf durch die zerschmolzene Türöffnung und eilte herbei, um Richard die Axt zu geben. Der rammte die rasiermesserscharfe Klinge in die schmale Fuge, wo das Oberteil mit dem Rest des Sarges verbunden war, und bewegte sie hin und her, um sie tiefer hineinzuzwängen. Auf einen kräftigen Ruck begann sich der Deckel zu lösen und ließ sich anheben.
Mit Niccis Hilfe entfernte er ihn ganz, ehe ihnen die Grabkammerbediensteten und der Soldat auf ein Nicken seines Kopfes hin die Last aus den Händen nahmen und den Deckel beiseitestellten.
Das Innere des Sarges war bis zum Rand gefüllt mit Zauberersand. Einen Moment lang stand Richard einfach da und starrte darauf. In dem Sand brach sich der Schein der Fackeln zu einem Kaleidoskop winziger farbiger Lichtfunken.
Behutsam entfernte er den Sand von dem darunterliegenden Leichnam, bis der verkohlte Schädel von Panis Rahl, umhüllt von Zauberersand, zum Vorschein kam. Er wies noch immer die Brandnarben jenes Zaubererfeuers auf, das Zedd, Richards anderer Großvater, bei der Vernichtung dieses Tyrannen eingesetzt hatte. Einige Trop fen dieses lebendigen Feuers waren damals auf den jungen Darken Rahl gespritzt und hatten in ihm einen glühenden Hass auf Zedd und all jene hervorgerufen, die sich der Herrschaft des Geschlechts der Rahls widersetzten.
»Jetzt ist mir auch klar, warum dieser Ort schmilzt«, sagte Nicci. »Es ist eine Begleiterscheinung jener subtraktiven Magie, mit deren Hilfe damals eines der Kästchen der Ordnung im Garten des Lebens geöffnet wurde.«
Richard sah sie an. »Also eine Begleiterscheinung, ausgelöst durch die Nähe zu dieser speziellen Macht.«
Vorsichtig schob Nicci mit dem Finger einige verirrte Körnchen zurück in den Sarg. »Genau. Es war der sicherste Aufbewahrungsort für den Zauberersand, den Darken Rahl finden konnte, für den Fall, dass er mehr davon benötigte. Er starb, ehe er etwas davon benutzen konnte, demzufolge liegt er hier seit etlichen Jahren. Deswegen hat auch die Kammer zu schmelzen begonnen, da sie kein geeignetes Eindämmungsfeld für ihn darstellt.«
»Sagt bloß, der Garten des Lebens wurde als Eindämmungsfeld für diese Dinge konstruiert.«
Sie blickte ihn so fassungslos an, als hätte er eben voller Stolz verkündet, Wasser sei nass. »Aber selbstverständlich.«
»Dann müssen wir ihn dorthin schaffen.«
Sie nickte. »Das können Verna und die Schwestern übernehmen, Nathan kann ihnen dabei helfen.« Daraufhin packte sie ungeduldig seinen Arm.
»Da wir jetzt den Zauberersand zum Zeichnen der Banne haben, müssen wir sofort zurück in unser Arbeitszimmer. Womöglich bleibt uns nicht mehr viel Zeit.«
»Dem will ich nicht widersprechen. Gehen wir.«