50

Jennsen zuckte zusammen, als der muskelbepackte Gardesoldat ihr den Arm verdrehte und sie durch die Zeltöffnung stieß. Sie geriet ins Stolpern, konnte sich aber gerade noch auf den Beinen halten. Es war nicht eben einfach, sich nach dem Ritt durch das schier endlose Armeelager bei strahlendem Wintersonnenschein in dem düsteren kaiserlichen Gemach zurechtzufinden. Die Umrisse der beiden ungeschlachten Kerle zu beiden Seiten konnte sie allerdings deutlich erkennen.

Als ein Tumult hinter ihrem Rücken sie bewog, sich umzudrehen, sah sie dieselben beiden Hünen Anson, Owen und dessen Frau Marilee durch die Öffnung ins Zeltinnere stoßen - wie Tiere, die man zur Schlachtbank treibt. Während ihrer hastigen Reise in den Norden hatte sie die anderen kaum zu Gesicht bekommen, denn den größten Teil der Strecke hatten sie einen Knebel und eine Augenbinde tragen müssen, damit sie ihren Häschern nicht mehr zur Last fielen als die Vorräte und das übrige Gepäck. Es tat ihr in der Seele weh, ihre Freunde wieder in der Gewalt dieser bösen Menschen zu sehen. Es war wie ein immer wiederkehrender Albtraum.

Drüben, auf der anderen Seite des großen Zeltvorraums, sah Jennsen Jagang hinter einer massigen Tafel sitzen und eine Mahlzeit zu sich nehmen. Dutzende von Kerzen an beiden Enden des Tisches ließen diesen Teil des Raumes wie ein Sanktuarium mit Altar erscheinen. Hinter dem Rücken des Kaisers stand wartend eine Reihe von Sklaven an der Zeltrückwand. Die Tafel war mit Speisen überladen, die für ein ganzes Bankett gereicht hätten, obwohl Jagang allein zu speisen schien. Er musterte sie mit seinen schwarzen Augen, als wäre sie ein Fasan, den er für dieses einsame Mahl zu enthaupten, auszunehmen und zu schmoren gedachte. Er hob die Hand und winkte sie mit zwei fettglänzenden Fingern näher. Die dicken Ringe an seinen Fingern und die langen, juwelenbesetzten Ketten um seinen Hals funkelten im Schein der Kerzen.

Die völlig verängstigten Anson, Owen und Marilee dicht hinter sich, ging Jennsen über die schweren Teppiche und blieb schließlich vor der kaiserlichen Tafel stehen. Die Kerzenleuchter beschienen einen mit Schinken, Geflügel, Rindfleisch und Soßen aller Art überfrachteten Tisch. Nüsse und Früchte waren ebenfalls zu sehen, dazu eine Reihe von Käsesorten.

Ohne den Blick seiner entsetzlichen Augen von ihr abzuwenden, löste er mit den Fingern einer Hand das Brustfleisch eines kleinen, geschmorten Vogels aus. Dann riss er, in der anderen Hand einen silbernen Pokal, mit den Zähnen ein großes Stück ab und spülte es mit Rotwein hinunter. Dass es Rotwein war, wusste sie, weil ihm ein beträchtlicher Teil aus den Mundwinkeln rann und auf seine ärmellose Lammwollweste tropfte.

»Sieh einer an«, sagte er und stellte seinen Pokal geräuschvoll auf den Tisch, »wenn das nicht Richard Rahls kleine Schwester ist, die uns wieder mal mit einem Besuch beehrt.«

Das letzte Mal hatte sie zusammen mit Sebastian an der kaiserlichen Tafel gesessen. Damals war sie Gast gewesen und hatte nicht gewusst, dass sie nur benutzt wurde. Seitdem war sie erheblich erwachsener geworden. »Hungrig, Schätzchen?«

Jennsen war völlig ausgehungert. »Nein«, log sie. Jagang lächelte. »Ich muss kein Traumwandler sein, um zu wissen, dass du lügst.«

Als er mit seiner mächtigen Faust auf die Tafel schlug, zuckte sie zusammen. Teller hüpften, Flaschen stürzten um, ein Pokal leerte sich. Den dreien hinter ihrem Rücken entfuhr ein erschrockenes Stöhnen. Jagang sprang auf. »Und ich mag es nicht, wenn man mich anlügt!«

Sein plötzlicher Zornesausbruch ließ ihr die Angst in die Glieder fahren. Die Adern an seiner Stirn traten hervor, und sein ganzes Gesicht verfärbte sich tiefrot. Schon glaubte sie, er würde sie auf der Stelle erschlagen.

Doch bevor ihn seine Wut zu irgendwas verleiten konnte, zerteilte ein Lichtbalken den Raum, und zwei Frauen traten in gebückter Haltung durch die Öffnung ins Zeltinnere. Der schwere Wollvorhang vor dem Eingang fiel zurück an seinen Platz, und alles versank erneut in Düsterkeit.

Jagang richtete seine Aufmerksamkeit von Jennsen auf die beiden Frauen. »Ulicia, Armina, gibt es Neuigkeiten von Nicci?«

Die beiden, von der Frage offensichtlich überrumpelt, wechselten kurz einen Blick.

»Antworte mir, Armina! Nach Spielereien steht mir nicht der Sinn!«

»Nein, Exzellenz, es gibt keine Nachrichten von Nicci.« Sie räusperte sich. »Wenn die Frage gestattet ist, Euer Exzellenz, habt Ihr Grund zu der Annahme, dass sie noch lebt?«

Jagang wurde sichtlich beherrschter. »Allerdings.« Er ließ sich in seinen kunstvoll verzierten Sessel sinken. »Sie ist mir im Traum erschienen.«

»Aber die Verbindung zum Rada’Han ist abgebrochen. Und ohne Hilfe kann sie ihn unmöglich abgenommen haben. Vielleicht waren es tatsächlich nur Träume.«

»Sie lebt!«

Schwester Ulicia verneigte kurz ihren Kopf. »Selbstverständlich, Exzellenz. In diesen Dingen seid Ihr kundiger als ich.«

Er rieb sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. »Ich habe in der letzten Zeit nicht gut geschlafen. Ich bin es leid, an diesem elenden Ort festzusitzen und darauf zu warten, dass es vorangeht. Ich sollte die Männer, die an der Rampe arbeiten, für ihre Saumseligkeit auspeitschen lassen. Ich hatte angenommen, die Hinrichtungen im Anschluss an die Tumulte hätten sie bei ihrer Arbeit zu ein wenig mehr Hingabe angetrieben, immerhin dient sie unserer Sache. Vielleicht sollte ich einige der gemächlicheren von der Rampe stoßen, um die übrigen auf Trab zu bringen.«

»Nun, Exzellenz« - Schwester Ulicia trat vor, sichtlich bemüht, ihn von diesen düsteren und gewalterfüllten Phantasien abzubringen -, »wir hätten da etwas, das Eure Meinung über unser Vorankommen möglicherweise erheblich aufhellen könnte.«

Er blickte scharf auf, griff sich den Pokal und nahm einen kräftigen Schluck. Dann stellte er ihn wieder ab und riss ein handgroßes Stück aus dem Schinken. Nachdem er ein Stück abgebissen hatte, fuchtelte er in Richtung Schwestern. »Und das wäre?«

»Zusammen mit Jennsen sind eine Menge Bücher hergebracht worden. Vor allem eines davon ist... nun, wir denken, Exzellenz, Ihr solltet Euch davon mit eigenen Augen überzeugen.«

Sein Blick bekam wieder etwas Ungeduldiges. Er drängte sie mit einer Handbewegung, fortzufahren.

Auf sein Zeichen eilten die beiden Frauen nach vorn. Schwester Armina hielt ebenjenes Buch in der Hand, an das Jennsen sich erinnerte. Sie erinnerte sich auch, gesehen zu haben, wie es aus dem verborgenen unterirdischen Gewölbe auf dem Friedhof nach oben gebracht worden war.

»Das Buch der gezählten Schatten«, erklärte sie.

Jagang sah den beiden in die Augen, streckte dann beide Hände zu den Seiten aus. Sofort trat ein Sklave mit einem Handtuch vor und machte sich an die Säuberung der kaiserlichen Hände. Als dieser mit dem Kopf auf die Tafel wies, eilten weitere Sklaven herbei, um Teller und Schalen abzuräumen. Nachdem sie auf diese Weise Platz geschaffen hatten, rauschte eine junge, mit einem mehr ent- als verhüllenden Gewand bekleidete Frau herein, um die Tafel abzuwischen.

Während Jagang sich noch immer seine Hände reinigen ließ, legte ihm Schwester Armina das Buch vor. Sofort schlug er die Sklavenhände unwirsch fort und beugte sich über den Folianten, schlug den Einband auf und begann den Text zu studieren.

»Nun«, meinte er, die Seiten umblätternd, »wie lautet eure Meinung? Ist es eine korrekte oder eine fehlerhafte Abschrift?«

»Es ist keine Abschrift, Exzellenz.«

Er sah auf - mit einem Stirnrunzeln, das aussah, als könnte es lebensbedrohlich werden. »Was soll das heißen, keine Abschrift?« »Es ist das Original, Exzellenz.«

Jagang kniff die Augen zusammen, unsicher, ob er richtig gehört hatte. Er ließ sich wieder in seinen Sessel sinken und musterte sie mit festem Blick.

»Das Original?«

Schwester Ulicia trat näher, beugte sich über die Tafel und blätterte zum Anfang zurück.

»Seht Euch das hier an, Exzellenz.« Sie tippte auf die Seite. »Das ist das Zeichen des Verfassers, ein Siegel, das einen Bann enthält, der angibt, dass es sich um das Original handelt.«

»Na und? Vielleicht ist das Siegel ja eine Fälschung.«

Schwester Ulicia schüttelte den Kopf. »Nein, Exzellenz. Das ist so nicht möglich. Wenn ein Prophet Prophezeiungen in einem Buch niederschreibt, setzt er dieses Zeichen an den Beginn seiner Niederschrift, um anzuzeigen, dass dies sein eigenhändig verfasstes Werk und keine Abschrift ist.

Ihr besitzt eine Menge Bücher der Prophezeiungen, Exzellenz, aber abgesehen von ein paar Ausnahmen, sind es alles Abschriften des Originals. Die meisten tragen überhaupt kein Siegel, auf anderen hinterlässt der Kopist sein eigenes Zeichen, damit sein Werk zugeordnet und als Abschrift erkannt werden kann. Doch diese Siegel sehen niemals so aus. Dies ist genau die Art von Siegel, die niemals in Abschriften hinterlassen wird, sondern stets nur im Original.

Es ist das Zeichen des Verfassers in Gestalt eines Banns, mit dem üblicherweise Originale gekennzeichnet werden. Es handelt sich also um das Original des Buches der gezählten Schatten.« Sie klappte es zu und zeigte ihm den Buchrücken. »Seht Ihr? Es heißt ›der ... Schatten‹ nicht ›des ... Schattens‹, es trägt das Zeichen des Verfassers, und es wurde hinter Barrieren und Schilden gefunden. Es handelt sich zweifelsohne um das Original.« »Was ist mit den anderen?«

»Keines weist ein solches Siegel auf. Nicht eines der drei trägt auch nur das Zeichen dessen, der es kopiert hat. Tatsächlich weisen sie überhaupt keinerlei Signatur auf. Es sind einfach Abschriften. Das Original ist dieses.«

Eine Hand auf die Tafel gestützt, tippte Jagang nachdenklich auf die Platte.

»Mir leuchtet immer noch nicht recht ein, wieso es keine fehlerhafte Abschrift sein könnte. Man hätte doch ein gefälschtes Zeichen in die Abschrift einsetzen können, um die Leute in die Irre zu führen.«

»Rein technisch wäre das möglich, allerdings weisen eine Reihe von Anhaltspunkten darauf hin, dass es keine Fälschung ist. Zudem könnten wir zur Bestätigung der Echtheit des Verfasserzeichens noch eine Reihe von Tests durchführen, denn letztendlich ist das der Grund, warum es in Gestalt einer Bannform hinterlassen wird: um eine solche Überprüfung zu ermöglichen. Ein paar haben wir bereits durchgeführt, mit dem Ergebnis, dass es das echte ist. Es gibt aber noch einige komplexere Prüfnetze, mit denen man es testen könnte.«

Schwester Armina wies auf das Buch. »Außerdem bleibt die Frage, was ganz zu Beginn steht, Exzellenz, wo es heißt, seine Echtheit könne nur von einer Konfessorin bestätigt werden.«

Schwester Ulicia schnalzte ungeduldig mit der Zunge. Offenbar hatten sie diese Diskussion bereits hinter sich. Sie warf Schwester Armina einen mörderischen Blick zu, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kaiser zuwandte.

»Im Text heißt es, im Wesentlichen bedürfe es einer Konfessorin, um die Echtheit einer Abschrift zu bestätigen, aber nicht des Originals. In diesem Falle ist dies bereits durch das Zeichen des Verfassers gegeben, was sich wiederum anhand weiterer Tests überprüfen ließe. Ich bin allerdings zuversichtlich, dass sie nur bestätigen würden, was wir bereits wissen.«

Jagang tippte mit dem Finger auf die Tischplatte, während er über ihre Worte nachdachte. »Wo hat man es gefunden?«

»In Bandakar, Exzellenz«, antwortete sie.

»Willst du damit sagen, es lag all die Jahre hinter diesen magischen Barrieren verborgen?«

»So ist es, Exzellenz«, erwiderte Schwester Ulicia sichtlich aufgeregt.

»Das alleine beweist, dass dies das Originalmanuskript ist.«

»Wieso?«

»Nun, wenn das Original anhand des Zeichens zu erkennen ist, wo würdet Ihr es dann verstecken?«

»Hinter magischen Barrieren«, antwortete er nachdenklich.

»Dies ist das Original des Buches der gezählten Schatten, Exzellenz. Ich bin mir dessen ganz sicher.«

Er betrachtete sie mit seinen schwarzen Augen. »Bist du auch bereit, dein Leben darauf zu verwetten?«

»Bin ich, Exzellenz«, gab sie ohne Zögern zurück.

Ein äußerst seltsames Geräusch riss Jennsen unvermittelt aus tiefstem Schlaf. Langsam kam sie zu sich; es schien ihr eine Art Röhren zu sein. Zunächst dachte sie, Kaiser Jagang habe wieder einen seiner Albträume, doch dann folgte auf das Geräusch ein gewaltiges Durcheinander draußen. Männer schrien andere an, aus dem Weg zu gehen, stießen verängstigte Schreie aus. Man hörte ein metallisches Klirren, wie von zu Stapeln aufgestellten Lanzen, die von Männern in wilder Hast umgerissen wurden. Dann vernahm sie erneut das Röhren, näher diesmal, und weitere Rufe.

Jennsen sah die Posten am Zelteingang durch den Spalt in der Türabdeckung linsen. Sie hatte Angst, sich von ihrem Platz am Fußboden zu erheben, denn Jagang hatte ihr befohlen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Angesichts seiner urplötzlichen Zornesanfälle hielt sie es für ratsam, ihn besser nicht zu reizen.

Als Anson ihr einen fragenden Blick zuwarf, zuckte sie nur die Achseln. Owen ergriff Marilees Hand. Offenbar hatten die drei Angst - ein Gefühl, das Jennsen teilte.

Schließlich kam Jagang aus seinem Schlaf gemach gestürzt, die Hose noch nicht vollständig zugeknöpft. Er wirkte müde und ausgelaugt. Jennsen wusste, dass er wegen seiner quälenden Albträume kaum noch Schlaf fand.

Er wollte gerade den Mund aufmachen, als die Decke vor der ZeltÖffnung zur Seite geschlagen wurde, und der Höllenlärm von draußen in das Innere des Zeltes flutete.

Eine hagere Frau trat durch die Zeltöffnung, die sich trotz des Lärms und Durcheinanders in der abgeklärten, zielbewussten Weise einer Schlange bewegte.

Schon ihr bloßer Anblick ließ in Jennsen den Wunsch aufkeimen, sie könnte unter einen Teppich kriechen und sich dort verstecken. Mit ihren blassen Augen erfasste die Frau die vier am Boden Sitzenden, ehe sie den Blick zum Kaiser hob. Die Gardisten beachtete sie gar nicht. Ihre blasse Haut hob sich deutlich vor dem Hintergrund ihres schwarzen Kleides ab.

»Sechs!«, rief Jagang. »Was tut Ihr hier, noch dazu mitten in der Nacht?«

Der Blick, mit dem sie ihn musterte, hatte beinahe etwas Verächtliches.

»So lautete Euer Befehl.«

Jagang funkelte sie an. »Also schön, worum geht es?«

»Um etwas, das Euch zu beschaffen ich mich bereit erklärt hatte.«

Damit zog sie einen Gegenstand hervor, den sie unter dem Arm getragen hatte. Jennsen hatte ihn gar nicht bemerkt, denn er war von einer Schwärze, die es nahezu unmöglich machte, ihn im trüben Licht des Zeltes zu erkennen, erst recht nicht vor dem Hintergrund des schwarzen Kleides.

Noch während er den schwarzen Gegenstand anstarrte, den sie ihm zeigte, begann sich seine Laune aufzuhellen.

Jagangs Augen waren schwarz, und ebenso Sechs’ Kleid; und auch eine mondlose Nacht um Mitternacht in einer Höhle mitten in einem dichten Wald war schwarz, doch keines dieser Dinge ließ sich mit dem Schwarz jenes Gegenstandes vergleichen, den die Frau in Händen hielt. Er war schwärzer als alles, was Jennsen je gesehen hatte. Dies, so ihr erster Gedanke, musste die Schwärze sein, die einen nach dem Tod umfing. Jagang starrte ihn an, die Augen entzückt aufgerissen, während sich allmählich ein Lächeln über seine Züge breitete. »Das dritte Kästchen ...«

Sechs schien seine auf einmal prächtige Laune nicht zu teilen. »Ich habe meinen Teil des Handels erfüllt.«

»Das habt Ihr«, bestätigte er, während er ihr das Kästchen ehrfurchtsvoll aus den Händen nahm.

Schließlich stellte er das tiefschwarze Kästchen auf einer Kiste ab. »Und die anderen Dinge?«, fragte er über seine Schulter.

»Ich habe ihre Streitkräfte attackiert und sie versprengt, ihre Patrouillen ausgeschaltet, wann immer ich ihnen begegnet bin. Ich habe Wege für die Nachschubzüge erkundet und dafür gesorgt, dass sie ungehindert passieren konnten.«

»Ja, sie sind durchgekommen - und das keinesfalls zu früh.«

»Es wäre bei weitem besser, die Sache einfach zu beenden«, erklärte sie.

»Habt Ihr schon die korrekte Abschrift des Buches der gezählten Schatten gefunden?«

»Nein.« Ein Feixen ging über sein Gesicht. »Allerdings glaube ich, das Original zu haben.«

Sie betrachtete ihn lange, so als wollte sie den Wahrheitsgehalt seiner Worte abwägen. Vielleicht überlegte sie auch nur, ob er betrunken war.

»Ihr glaubt, Ihr hättet das Original gefunden?« Ein freudloses Grinsen spielte über ihre schmalen Lippen. »Warum bedient Ihr Euch nicht einfach Eurer Konfessorin?«

»Es hat hier ... ein paar Schwierigkeiten gegeben. Sie konnte fliehen.«

Was immer Sechs in diesem Moment dachte, auf ihren hageren Zügen ließ sie es sich nicht anmerken. »Nun, sie war für Euch ohnehin nur von begrenztem Nutzen.«

Jagangs Miene verfinsterte sich. »Begrenzt oder nicht, ich habe Pläne mit ihr. Was meint Ihr, könntet Ihr sie finden und sie zu mir schaffen? Es soll nicht Euer Schaden sein.«

Sechs zuckte die Achseln. »Wenn es Euer Wunsch ist. Lasst mich einen Blick auf das Buch werfen.«

Jagang trat an einen Schrank und zog eine Lade auf, holte das Buch heraus und reichte es ihr. Sechs hielt es eine Weile zwischen ihren flachen Handtellern.

»Und nun zeigt mir die anderen.«

Er trat zu einer anderen Lade und entnahm ihr drei weitere Bücher, alle offenbar von der gleichen Größe. Er legte sie nebeneinander auf die Marmorplatte eines Tisches und stellte eine Öllampe daneben. Mit verschränkten Armen schwebte Sechs heran und betrachtete die Bücher eines nach dem anderen. Auf eines legte sie die Spitzen ihrer langen, schmalen Finger. Dann ging ihre Hand weiter zum nächsten, auf dem sie kurz verweilte, ehe sie zum dritten weiterging. Sie wies auf die auf dem Tisch liegenden Bücher. »Diese drei kamen später.« Dann zog sie das Original, das er ihr ausgehändigt hatte, unter dem Arm hervor und legte es nach kurzem Fuchteln auf die anderen drei.

»Dies hier war zuerst da.«

»Zuerst da - es ist also das Original? Seid Ihr dessen wirklich sicher?«

»Ich gehe keine unsinnigen Risiken ein. Wäre es eine fehlerhafte Abschrift, und würden Eure Schwestern deswegen das falsche Kästchen öffnen, würde ich alles verlieren, auf das ich hingearbeitet habe. Und angesichts meiner Mittäterschaft sogar mein Leben.«

»Das beantwortet noch immer nicht meine Frage.«

Achselzucken. »Ich bin eine Hexe, ich verfüge über Talente. Dies ist das Original. Benutzt es, öffnet das korrekte Kästchen, und Eure Alb träume werden ein Ende haben.«

Einen Moment lang wurde Jagangs Blick starr. Er schien über die Erwähnung seiner Albträume gar nicht glücklich, zu guter Letzt aber ging ein Lächeln über sein Gesicht. »Schafft mir die Konfessorin her.«

Sechs setzte ein tödliches Lächeln auf. »Ihr bereitet alles vor, richtet alles ein, wirkt die Banne und tätigt die Herbeirufungen, dann werde ich zu diesem Ereignis die Konfessorin herbeischaffen.«

Jagang nickte. »Schwester Ulicia meinte, wir müssten hinauf in den Garten des Lebens.«

»Das ist zwar nicht die einzige Möglichkeit, wäre aber der beste Garant für den Erfolg. Ihr solltet sie ernst nehmen.«

»Das tue ich. Da sie es sein wird, die das Kästchen öffnet - während ich in ihrem Verstand weile, selbstverständlich - ,würde sich ein Fehler überaus unvorteilhaft für sie auswirken. Es wäre für sie das denkbar schlechteste Ergebnis, würde der Hüter der Unterwelt sie sich auf diese Weise unter den Nagel reißen, es ist also nur in ihrem eigenen Interesse. Deswegen beharrt sie auch darauf, es im Garten des Lebens zu tun und nicht hier.«

Sechs betrachtete Jennsen mit durchdringendem Blick. »Nehmt sie, sie ist Richard Rahls Schwester. Alles kehrt sich eins nach dem anderen gegen ihn. Ihr Leben in die Waagschale zu werfen, wird den entscheidenden Ausschlag geben.«

Jagang betrachtete Jennsen aus seinen dunklen Augen. »Warum, glaubt Ihr, habe ich sie wohl hergebracht?«

Sechs zuckte die Achseln. »Ich dachte, aus Rache.«

»Ich will den Widerstand gegen die Imperiale Ordnung brechen – endgültig. Wäre ich auf Rache aus gewesen, befände sie sich längst in den Folterzelten und würde sich die Seele aus dem Leib schreien. Aber mein Ziel ist es, der Ordensbruderschaft endgültig zur Weltherrschaft zu verhelfen, so wie es ihr von Rechts wegen gebührt.«

»Abgesehen von dem mir zustehenden Anteil«, setzte Sechs mit einem mörderischen Funkeln hinzu.

Jagang lächelte gönnerhaft. »Ihr seid mitnichten gierig, Sechs, Eure Forderung ist recht bescheiden. Mit Eurem kleinen Teil der Welt könnt Ihr nach Gutdünken verfahren, unter der richtungsweisenden Autorität der Imperialen Ordnung, selbstverständlich.«

»Selbstverständlich.«

»Und sollte ihn die Bedrohung des Lebens seiner Schwester nicht umstimmen, fühlt Euch frei, meinen Namen zu erwähnen, und erklärt ihm, es wäre mir eine Freude, Feuer auf ihn herabregnen zu lassen.«

Der Einfall schien seine Phantasie zu beflügeln. »Eine ausgezeichnete Idee. Wie ich von Anfang an vermutet habe, erweist Ihr Euch als überaus wertvolle Verbündete, Sechs.«

»Königin Sechs, wenn es Euch nichts ausmacht.«

Er zuckte die Achseln. »Aber nein. Es ist mir eine Freude, Euch gebührend zu behandeln.«

Загрузка...