63

Auf einmal trat in dieser Welt aus reinem Weiß seine Schwester Jennsen in Erscheinung. Bei ihr war Tom, den Arm beruhigend um ihre Schultern gelegt. Auch Anson, Owen und Marilee waren dabei. Bis auf Tom waren sie alle völlig unbeleckt von der Gabe - Säulen der Schöpfung.

»Richard«, wandte sich Jennsen an ihn. »Wir möchten auch in diese neue Welt.«

Eine Träne lief über Richards Wange. Er wusste, alle ihresgleichen hörten zu, und sie alle waren einer Meinung.

»Du hast jedes Recht, hierzubleiben und ein Leben in Freiheit zu genießen.«

»Ich weiß«, sagte sie im Namen aller.

»Aber du hast mir beigebracht, wie wertvoll das Leben ist, und dass man das Leben anderer respektieren muss. Wir möchten nicht, dass unser Leben zu Lasten dieser Welt geht, oder zu Lasten der Menschen hier, deren Existenz auf Magie angewiesen ist. Dies ist eure Welt, die ferne Welt ist unsere.«

Er legte ihr die Hand an die Wange. »So sehr ich mir wünschte, dass du bleibst, ich verstehe dich.«

Es war nicht allein Verständnis, vielmehr hatte er gewusst, dass sie den Wunsch äußern würde, in jene andere Welt zu wechseln. Ihre Schönheit, ihre unglaubliche Güte entlockte Richard ein Lächeln.

»Ich denke, du wirst ein sicheres Zuhause für dich und deine Freunde finden.«

»Was meint Ihr, werden wir dort wirklich sicher sein, Lord Rahl?«, erkundigte sich Tom. »Ich meine, wenn man bedenkt, was das für Leute sind, die Ihr in diese neue Welt verbannt habt.«

Richard nickte. »Bewegungen wie dieser Orden, die das Leben ihrer Anhänger nur herabwürdigen und letztendlich zerstören, brauchen einen Feind, um von ihrem ungeheuren, selbst geschaffenen Leid abzulenken, einen mächtigen Dämon, der ihnen die Rechtfertigung für ihr Elend liefert. Ein solcher Feind, wie wir es waren, ist das Bindeglied, das sie in ihrem haarsträubenden Leid zusammenhält. Ohne die Ausrede eines mächtigen Gegners, dem man die Schuld zuschieben kann, fallen ihre Ideen, selbst wenn sie jahrtausendelang unkontrolliert gediehen sind, irgendwann in sich zusammen. Gewöhnlich entstehen aus solchen Trümmern immer wieder erneut primitive Tyranneien, und lodern in immer wiederkehrenden Zyklen der Schuldzuweisungen an frühere Generationen wieder auf.

Die völlig von der Gabe Unbeleckten werden ein für den Orden viel zu unbedeutender Gegner sein, als dass sie überhaupt Notiz von ihnen nehmen oder ihnen gar eine Schuld zuweisen könnten. Ihr werdet viel zu wenige sein, um ihnen eine lohnende Ausrede zu bieten.«

»Wir werden dort sicher sein«, entschied Jennsen wie als Antwort auf die Sorge, die sie noch immer in Richards Augen sah. »Ohne einen Gegner wie hier, den sie beschuldigen und bekämpfen können, werden die Ordensangehörigen ihren Hass nach innen kehren und ihre Opfer in den eigenen Reihen suchen. Wir werden dafür sorgen, dass wir nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Wir werden schon zurechtkommen.«

Richard nickte. »Solltet ihr ihnen in die Quere kommen oder in ihr Blickfeld geraten, werden sie euch vernichten. Aber ich hoffe sehr, dass du und deine Leute ein sicheres Plätzchen finden werdet - vielleicht in dem Gebiet, das hier unter dem Namen Bandakar bekannt ist. Dort könnt ihr euer eigenes Leben führen. Ich wünschte, es wäre anders, aber ich weiß, es muss so sein.

Diese neue, ferne Welt habe ich mit dem Feuerkettenbann belegt«, erklärte er ihr. »Er wird dort nach und nach alle Menschen befallen und ihre Erinnerung an diese Welt tilgen, an das, was du zurückgelassen hast. Auch musste ich die Verunreinigung durch die Chimären aufrechterhalten, um sicherzustellen, dass alle in diese ferne Welt mitgenommene Magie vernichtet wird.

Ich habe keine Ahnung, was die dadurch entstandene Leere in der Erinnerung der Menschen wieder füllen wird - womit sie letztendlich ihre wahre Vergangenheit ersetzen werden. Diese künstlich erzeugten Erinnerungen werden sich sehr viel hartnäckiger halten als die Erinnerung an ihre tatsächliche Vergangenheit, an die Geschehnisse hier. Dank des Feuerkettenbanns werden sich diese Erinnerungen im Geist der Menschen miteinander verflechten, bis sie zu einer allgemeinen Überzeugung, einer von allen geteilten Gewissheit werden. Sie vor allem werden die künftigen Generationen entscheidend beeinflussen, während alle Erinnerungen an uns mit der Zeit verblassen werden. Aber ich kann mich nicht allein auf den Feuerkettenbann verlassen, ich kann mich nicht darauf verlassen, dass die, die dort für eine gewisse Zeit noch über einen Rest von Magie verfügen, nicht ohne sie auskommen.«

Richard legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du und deinesgleichen, ihr seid die Garanten für die Zukunft eurer eigenen Welt, die Garantie dafür, dass die Magie in jener Welt und in den künftigen Ge nerationen ausgelöscht sein wird. Wenn sich das Erbe deiner Nachfahren erst auf jedes Neugeborene erstreckt, wird es in dieser fernen Welt keine Magie mehr geben. Dafür werden die Zeit und all die Säulen der Schöpfung, die noch geboren werden, sorgen. Hier jedoch wird sie weiterexistieren.

Ich weiß, du wirst mich in Erinnerung behalten, Jennsen, aber mit der Zeit wird diese Erinnerung wie alles aus dieser Welt dir mehr und mehr entgleiten, bis sie nur noch eine Legende ist.«

Er wandte sich herum zu Tom, dem hoch aufgeschossenen, blonden D’Haraner. »Du bist nicht völlig von der Gabe unbeleckt.«

Tom nickte. »Ich weiß. Aber ich liebe Jennsen und habe keinen sehnlicheren Wunsch, als bei ihr zu bleiben. Wir werden ein wundervolles Leben zusammen haben, ganz egal wo. Im Grunde finde ich es sehr spannend, beim Aufbau einer neuen Welt zu helfen, einer Welt, in der Jennsen und all die anderen von der Gabe Unbeleckten keine Sonderlinge, sondern ganz normale Menschen sind.

Deshalb bitte ich Euch, Lord Rahl, um die Entlassung aus Euren Diensten, damit ich mich ganz der Liebe und dem Schutz Eurer Schwester sowie unseren Leuten in der neuen Welt widmen kann.«

Lächelnd drückte er die Hand des Mannes. »Ich brauche dich nicht zu entlassen, Tom, denn du hast mir stets aus eigenem Entschluss gedient. Ich werde dir ewig dankbar sein, dass du Jennsen glücklich gemacht hast.«

Tom salutierte mit einem Faustschlag auf sein Herz, ehe er Richard lächelnd kurz umarmte. Owen, Anson und Marilee, denen die Aufregung über ihre bevorstehende neue Existenz ebenfalls anzusehen war, schüttelten Richard die Hand und bedankten sich bei ihm, dass er ihnen beigebracht hatte, das Leben mit offenen Armen anzunehmen.

»Ich liebe dich«, hauchte Jennsen und drückte ihn ein letztes Mal fest an sich. »Danke, dass du mir geholfen hast, das Leben zu lieben. Selbst wenn ich dich vergessen sollte, werde ich dich stets in meinem Herzen behalten.«

Dann löste sie sich von ihm, und sie und die anderen wurden nach und nach von der weißen Leere der Pforte aufgenommen.

Allein in der weißen Leere, packte Richard das Schwert der Wahrheit und zog es aus dem Kästchen und damit den Schlüssel aus der Pforte. Er konnte nur einen einzigen Gedanken denken: Auch wenn alles wie geplant funktioniert hatte, seine größte Hoffnung war unerfüllt geblieben.

Das sterile Feld, das er gebraucht hätte, um der Kraft der Ordnung zum Erfolg zu verhelfen, war bereits verunreinigt gewesen. Kahlan hatte bereits gewusst, dass er sie liebte.

»Menschen wie dich gibt es nicht oft, Richard Rahl«, vernahm er die zauberhafteste Stimme der Welt.

Er drehte sich um und sah sie vor sich stehen. Ihre grüne Augen funkelten, und sie hatte dieses ganz besondere Lächeln im Gesicht, das sie sich allein für ihn aufsparte.

Richard stand da wie versteinert, das Schwert so fest umklammert, dass er spürte, wie sich das Wort WAHRHEIT in seine Hand grub. Kahlan kam näher und legte ihm einen Arm um den Hals. »Ich liebe dich, Richard.«

Von seinen Gefühlen überwältigt, ließ er einen Arm um ihre Hüfte gleiten. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Es hätte doch gar nicht funktionieren dürfen, wenn das sterile Feld durch Vorwissen bereits gestört war.«

»Ich wurde beschützt«, meinte sie mit einem schiefen Lächeln. Richard runzelte die Stirn. »Beschützt? Wodurch?«

»Ich hatte mich bereits wieder von neuem in dich verliebt, daher brauchte ich kein steriles Feld. Ich glaube, angefangen hatte es in dem Moment, als ich dich in deinem Käfig in das Feldlager der Ordenssoldaten hineinfahren sah. Mit allem, was du tatest, hast du mir zu verstehen gegeben, was für eine Art Mann du bist - nämlich genau der, in den ich mich vor so langer Zeit verliebt und den ich im Dorf der Schlammmenschen geheiratet hatte.

Und als du mir dann die kleine Schnitzerei geschenkt hast, war das die Bestätigung all dessen, was mir längst wieder klar geworden war. In einem Kunstwerk offenbart sich das Innerste des Künstlers, es macht seine Ideale sichtbar, seine Werte. Wer so viel Ehrfurcht und Leidenschaft für die Erhabenheit des menschlichen Geistes an den Tag legt, konnte nur jemand sein, der meine Leidenschaft für das Leben teilt.«

Richard lächelte gerührt. »Ich bin in die Unterwelt hinabgestiegen, um die von der subtraktiven Magie des Feuerkettenbanns gelöschten Erinnerungen zurückzuholen. Dort erfuhr ich, dass sie nur wiederhergestellt werden können, wenn man sie aus vollkommen freien Stücken akzeptiert. Also ließ ich sie in diese kleine Schnitzerei einfließen. Mit ihrer Annahme hast du auch die Erinnerungen aller akzeptiert - und den Feuerkettenbann gebrochen, der den Menschen so viel genommen hatte. Mit deiner Bereitschaft, das Gute und die Schönheit des Lebens anzunehmen und in deinem Herzen zu bewahren, hast du allen ihr Erinnerungsvermögen zurückgegeben.«

Sie sah ihm lange in die Augen.

Und dann küsste er seine Frau, die Frau, die er liebte, und die ihm alles bedeutete. Die Frau, deren ganze Liebe ihm galt.

Die Frau, für die er in die Unterwelt hinabgestiegen war ... Als er schließlich die Augen aufschlug, war die Welt ringsum zurückgekehrt. Unweit von ihnen stand Zedd und beobachtete sie lächelnd.

»Zedd«, sagte er, erstaunt, dass auch all die anderen zugegen waren.

»Kein Grund, sich zu entschuldigen, Junge.« »Das war auch nicht meine Absicht.«

Zedd bedeutete den beiden, sich nicht stören zu lassen. »Nach all dieser Zeit hast du jedes Recht, deine Frau zu küssen. Ich wusste ja schon immer, dass ihr zwei zusammengehört.

Nur wäre es mir lieber gewesen, du hättest nicht ganz so lange gebraucht, das alles zu begreifen.«

Richard sah seinen Großvater missbilligend an. »Tut mir leid, wenn ich dir Unannehmlichkeiten bereitet haben sollte. Aber vielleicht hättest du es mir anfangs etwas besser erklären sollen, dann hätte es nicht so lange gedauert.«

Zedd zuckte die Achseln. »Ein so schlechter Lehrer kann ich nicht gewesen sein - immerhin hast du alles richtig gemacht.«

Nathan trat vor. »Richard, ist dir eigentlich klar, was du soeben getan hast?«

Richard sah sich um. »Ja, ich glaube schon.«

»Du hast die Prophezeiung erfüllt.«

Skeptisch neigte er den Kopf zur Seite und sah den Propheten an.

»Welche Prophezeiung?«

»Die, die die große Leere betrifft.«

Richard zog ein Gesicht. »Aber ich habe uns doch gerade vor der großen Leere bewahrt, die uns deiner Meinung nach in dieser Prophezeiung gefährlich werden konnte.«

Aufgeregt warf Nathan die Arme in die Luft. »Nein, nein, verstehst du denn nicht? Du hast soeben eine Welt geschaffen, in der es keine Magie gibt. Deswegen wird diese andere Welt in den Prophezeiungen als Leere bezeichnet - weil sie keinen Einblick in eine Welt mit Magie hat! Sie hat also dein Tun tatsächlich vorhergesagt. Deine Aufteilung der beiden Welten entsprach der Gabelung in den Prophezeiungen, und die Große Leere entspricht der Weissagung einer anderen Welt.«

Richard seufzte. »Wenn du es sagst, Nathan.«

»Eins begreife ich nicht«, meinte Zedd. »Woher wusstest du, dass das Schwert der Schlüssel zum Öffnen der Kästchen der Ordnung war? Dass es nicht Das Buch der gezählten Schatten sein konnte, wusstest du, weil die Macht der Ordnung lange vor den Konfessorinnen existierte. Aber sie existierte ebenso vor dem Schwert der Wahrheit. Wie also konnte es der Schlüssel sein?«

»Das Schwert hat meinen Verstand gegen den Feuerkettenbann abgeschirmt, weil die Kästchen der Ordnung das Gegenmittel gegen den Feuerkettenbann waren. Und das Schwert der Wahrheit, oder genauer, die darin enthaltene Magie, ist der Schlüssel zu den Kästchen, demnach ist es ein Teil der Macht der Ordnung. Diese Erkenntnis war es, die mich schließlich darauf brachte - denn als ich es beim Auslösen des Banns durch die Schwestern in der Hand hielt, schützte es meine Erinnerung an Kahlan und unterbrach, für den, der es berührte, die bereits existierenden Auswirkungen des Banns.«

Zedd stemmte die Hände in die Hüften. »Aber es ist nach der Macht der Ordnung geschaffen worden.«

»Das war ein Täuschungsmanöver.«

»Ein Täuschungsmanöver!«

»Wie ließe sich etwas so ungeheuer Mächtiges besser beschützen, als durch eine List, statt mithilfe eines komplizierten, übertriebenen magischen Konstrukts, für das alle Das Buch der gezählten Schatten hielten?

Schließlich hat ein Täuschungsmanöver, richtig ausgeführt, auch etwas von Magie, wie du mir selbst beigebracht hast, schon vergessen?«

Richard grinste. »Genau das haben die Zauberer damals getan. Das Buch der gezählten Schatten war nur ein Ablenkungsmanöver, der eigentliche Schlüssel war das Schwert der Wahrheit, das man mit der Magie zum Offnen der Kästchen versehen hatte. Das Buch diente lediglich dazu, alle in die Irre zu führen.

Das Schwert mag erst im Nachhinein erschaffen worden sein, aber immerhin geht die darin enthaltene Magie auf dieselben Zauberer zurück, die auch die Macht der Ordnung schufen. Es befand sich die ganze Zeit vor aller Augen.

Und deshalb oblag es auch stets der Verantwortung des Obersten Zauberers, denn es war unschätzbar, ja unvorstellbar wertvoll. Du, Zedd, warst der geeignete Verwalter für das Schwert, denn du hast genau den Richtigen gefunden, der die Rolle des Suchers der Wahrheit übernehmen konnte.

Und das war deswegen so ungeheuer wichtig, weil nur eine bestimmte Art von Mensch, jemand, der das Leben liebte und über genügend Einfühlungsvermögen verfügte, in der Lage sein würde, die Klinge weiß zu verfärben. Nur diese Person würde die Klinge, in dem Moment, da sie das Kästchen berührt, weiß verfärben.

Nur der Sucher der Wahrheit vermag das Schwert der Wahrheit zu benutzen, und somit die Macht der Ordnung.

So steht es schon in der Warnung zu Beginn des Buchs des Lebens, wo es heißt: ›Wer voller Hass gekommen ist, sollte nun gehen, denn in seinem Hass verrät er nur sich selbst.‹ Für den Gebrauch des Schwertes der Wahrheit ist Mitgefühl erforderlich, denn Hass würde die Klinge nicht weiß verfärben. Das ist die entscheidende Sicherung für die Macht der Ordnung. Und gleichzeitig wird das Schwert dadurch zum Schlüssel für die Kästchen.

Mit Hass lässt sich die Macht der Ordnung nicht anwenden, denn er ist nicht Teil der Lösung. Im Buch des Lebens wird genau davor gewarnt. Hat man die Idee erst einmal verstanden, ist es eigentlich ganz einfach.«

»Ja, das sehe ich jetzt auch«, murmelte Zedd bei sich, während er mit einem Finger in seinem widerspenstigen weißen Haarschopf herumstocherte, um sich zu kratzen.

Mit einem Fingerschnippen wandte sich Nathan herum zu Zedd. »Jetzt begreife ich auch, was es mit dieser anderen Prophezeiung auf sich hatte.«

Zedd blickte auf. »Mit welcher?«

Nathan beugte sich zu ihm. »Ihr erinnert Euch: ›Eines Tages wird jemand, der nicht von dieser Welt ist, diese retten müssen‹. Jetzt ergibt es viel mehr Sinn.«

Zedd runzelte die Stirn. »Nicht für mich.«

Nathan machte eine abfällige Handbewegung. »Na ja, die Einzelheiten werde ich später noch ausarbeiten müssen.«

Zedd bedachte Richard mit einem durchdringenden Blick. »Eine Menge Fragen ist noch offen, vieles ist noch unklar. Als Oberster Zauberer muss ich vollständig im Bilde sein, um entscheiden zu können, ob du dich in allen Einzelheiten korrekt verhalten hast. Was, wenn dir irgendwo eine Fehlberechnung unterlaufen wäre. Wir müssen wissen, ob ...«

»Die Zeit war viel zu knapp«, fiel Richard ihm ins Wort. »Manchmal muss man sich im Moment entscheiden, und unter solchen Umständen lassen sich unmöglich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen oder gar berücksichtigen. In solch entscheidenden Momenten geht es nicht anders.

Manchmal ist es besser, einfach nach bestem Vermögen zu handeln, auch wenn man genau weiß, dass man wahrscheinlich nicht jedes Detail berücksichtigt hat.

Für diese Diskussion über das ›was wäre, wenn‹ und ›hätte ich doch‹ ist später noch Zeit.

Ich musste einfach handeln und es nach besten Kräften versuchen, ehe es zu spät wäre.«

Ein Lächeln auf den Lippen, fasste Zedd seine Schulter und rüttelte ihn leicht. »Du hast deine Sache gut gemacht, mein Junge. Sogar ausgezeichnet.«

»Das hat er ganz sicher«, bestätigte Nicci.

Alle wandten sich um und sahen sie den Pfad entlangkommen, ein strahlendes Lächeln im Gesicht.

»Ich habe mich gerade selbst überzeugt. Die Armee der Imperialen Ordnung macht Anstalten, aus der Azrith-Ebene abzuziehen.« Alle Anwesenden brachen in Jubel aus. Kahlan umarmte Nicci und sagte:

»Nur jemand, der ihn wirklich liebt, würde tun, was Ihr getan habt, um mich zurückzuholen. Ihr seid weit mehr für ihn als eine Freundin.«

»Richard hat mir beigebracht, jemanden zu lieben bedeutet, dass man manchmal seine höchste Erfüllung darin findet, dessen sehnlichste Wünsche über die eigenen zu stellen. Ich will gar nicht bestreiten, dass ich ihn liebe, Kahlan, trotzdem könnte ich kaum glücklicher sein über euch beide. Euch beide endlich vereint und so verliebt zu sehen, das erfüllt mich zutiefst mit Freude.«

Mit einem ernsten, fast an Besorgnis grenzenden Blick wandte sie sich herum zu Richard. »Ich wüsste gerne, wie du es geschafft hast, eine ferne Welt auf der anderen Seite des Nirgendwo ins Leben zu rufen und alle dorthin zu verbannen.«

»Nun, in den Schriften über die Ordnungstheorie habe ich gelesen, dass das dabei erzeugte Portal die Magie so verbiegen kann, dass sie dem Feuerkettenbann entgegenwirkt. Das brachte mich auf eine Idee.«

Er zog das zusammengefaltete weiße Tuch aus seiner Tasche. »Seht Ihr, hier? Hier ist ein Tintentropfen drauf gefallen.« Zedd steckte den Kopf vor. »Na und?«

Er faltete es auseinander. »Seht.« Er zeigte auf die beiden Flecken auf den gegenüberliegenden Seiten des Tuches. »Faltet man es zusammen, berühren sich die beiden. Ist es dagegen aufgeschlagen, befinden sie sich an den gegenüberliegenden Enden.

Die Macht der Ordnung ist fähig, das Sein zu krümmen - tatsächlich ist es ebenjene Krümmung des Seins, die den Feuerkettenbann aufzuheben und das Erinnerungsvermögen wiederherzustellen vermag. Im Grunde schuf ich mit seiner Hilfe also einen Sinneseindruck von dieser Welt. Die Kraft der Ordnung verbannte die Menschen durch die Pforte in jene andere Welt, die sich tatsächlich hier, an genau derselben Stelle, befand. Und als ich mit dem Herausziehen des Schwertes die Pforte wieder schloss, befand sich jene andere Welt auf der anderen Seite des Seins – genau wie dieser Fleck hier, der sich ursprünglich mit dem Original auf der anderen Seite des Tuches deckte.«

»Soll das etwa heißen«, Zedd rieb sich tief in Gedanken das Kinn, »die Macht der Ordnung hat eine Pforte geschaffen, die diese beiden Orte vorübergehend miteinander verband, um alle, die sich eine Welt ohne Magie wünschten, hindurchtreten zu lassen, nur um diese beiden Welten gleich darauf für immer wieder zu trennen?«

»Du begreifst aber schnell«, zog Richard ihn auf.

Zedd knuffte ihn in die Rippen.

Richard ging zu Verna und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Es war Warren, der mich auf die Idee gebracht hat, als er mir zum ersten Mal erklärte, dass die Kästchen der Ordnung eine Pforte seien, ein Durchgang durch die Unterwelt. Ohne Warren hätte ich es nicht geschafft. Mit seinem Wissen war er uns allen eine große Hilfe.«

Richard zeigte ihnen das Amulett, das er um den Hals trug, und das einst der Zauberer Baraccus getragen hatte.

»Dieses Amulett veranschaulicht den Tanz mit dem Tod. Dabei geht es um weit mehr als nur den Kampf mit dem Schwert oder sein Leben zu genießen. In diesem Emblem ist auch der Grund enthalten, weshalb ich in die Unterwelt hinabsteigen musste, das Totenreich. Es ist Teil dessen, was Baraccus mir begreiflich machen wollte.

Aber gleichzeitig stellt es auch die abschließende Bewegung des Tanzes mit dem Tod dar, den Todesstoß, der nötig war, um die Kästchen der Ordnung zu benutzen.«

Kahlan schlang ihm den Arm um die Hüfte. »Du hast Zauberer Baraccus mit Stolz erfüllt, Richard.«

»Uns alle«, bestätigte Zedd.

Zedd lächelte auf eine Weise, wie Richard ihn schon lange nicht mehr hatte lächeln sehen. Das war ganz der alte Zedd, sein Großvater, sein Mentor und Freund. Zedd sprach mit leisem Stolz:

»Was all die Zauberer aus alter Zeit mit der großen Barriere erreichen wollten, was ich, als Oberster Zauberer, mit der Grenze bewirken wollte, hast du tatsächlich vollbracht, Richard.

Du hast dafür gesorgt, dass sie uns niemals wieder schaden können, und doch hast du dem Leben eine Zukunft gegeben. Die Kinder dieser Menschen werden die Chance haben, aus den Fehlern ihrer Eltern zu lernen. Und wer weiß, vielleicht begreifen auch sie, dass Hass kein Lebensweg ist. Du hast ihnen eine Welt geschenkt, in der sie ihren Hass ausleben können, eine Welt tausendjähriger Finsternis, aber gleichzeitig hast du den künftigen Generationen die Chance zur Wiedergeburt der Menschheit dort gegeben, einer Menschheit, die hoffentlich das Leben und die Erhabenheit des menschliches Geistes anzunehmen bereit ist.

Dadurch hast du beiden Welten das Geschenk des Lebens gemacht, und das durch Stärke ohne Hass.«

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