58

»Ehe wir einen Krieg vom Zaun brechen«, erklärte Richard mit kaum hörbarem Flüstern, »muss ich in den Palast zu der Stelle, wo das Buch versteckt liegt. Ich muss es zuerst zurückhaben, für den Fall, dass irgendetwas schiefgeht.«

Kahlan atmete hörbar aus, während sie die Entschlossenheit in seinen Augen abschätzte. »Also gut, aber es gefällt mir nicht. Das Ganze fühlt sich an wie eine Falle. Sind wir erst einmal drinnen, wäre es ein Leichtes, uns in einen Hinterhalt zu locken. In dem Fall würden wir uns den Weg nach draußen freikämpfen müssen.«

»Wenn wir es müssen, werden wir es eben tun.«

Kahlan wusste nur zu gut, wie Richard mit einem Schwert - oder auch einem Broc - umzugehen wusste, aber dies war etwas anderes.

»Und du glaubst, wenn wir hier drinnen in eine Falle gelockt werden, wird dir dein Schwert etwas nützen gegen eine Hexe, die uns überall auflauern könnte?«

Er löste den Blick von ihren Augen und sah sich erneut in dem Flur um.

»Die Welt steht kurz vor dem Untergang - für all die unbescholtenen Menschen, die das Leben lieben und sich nichts sehnlicher wünschen, als es zu genießen, und das schließt dich und mich ein. Ich habe keine andere Wahl. Ich muss dieses Buch beschaffen.«

Er beugte sich vor, um den schlecht beleuchteten Flur auch in der anderen Richtung einsehen zu können. Kahlan konnte das näherkommende Echo von den Stiefelschritten patrouillierender Soldaten hören. Bislang war es ihnen mehrfach gelungen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Richard war überaus geschickt darin, durch dunkle Gänge zu schleichen und sich vor den Augen aller unsichtbar zu machen. Sie drückten sich in den schmalen Schatten des zurückversetzten Türdurchgangs, bemüht, sich dabei so dünn wie möglich zu machen. Die vier Gardesoldaten, in ein Gespräch über die Frauen unten in der Stadt vertieft, bogen um die nahe Ecke und schlenderten an ihnen vorüber, viel zu sehr damit beschäftigt, mit ihren Eroberungen zu prahlen, um die beiden in der dunklen Türnische zu bemerken. Kahlan hielt den Atem an und konnte kaum glauben, dass sie einer Entdeckung entgangen waren. Sie hielt den Griff ihres Messers noch immer fest umklammert. Kaum waren die Gardisten hinter der nächsten Ecke verschwunden, ergriff Richard ihre Hand und zog sie hinter sich her auf den Flur. Durch einen weiteren dunklen Gang gelangten sie zu einer schweren Tür, vor der sie stehen blieben. Die Haspe war mit einem Schloss versehen. Richard, das Schwert bereits in der Hand, schob die Klinge hinter den Riegel und drehte, die Lippen fest zusammengepresst, das Schwert mit aller Kraft. Das Schloss brach mit einem gedämpften metallischen Knacken. Stahlstücke sprangen über den Steinfußboden. Kahlan zuckte bei dem Geräusch zusammen. Sie war sicher, dass es irgendwelche Posten anlocken würde.

Richard schlüpfte durch den Türdurchgang.

»Zedd!«, hörte sie ihn in lautem Flüsterton rufen.

Kahlan steckte ihren Kopf in den Raum hinein. In der beengten steinernen Zelle befanden sich drei Personen: ein alter Mann mit zerzaustem weißem Haar, ein großer blonder Hüne sowie eine Frau, deren blondes Haar zum Zopf einer Mord-Sith geflochten war.

»Richard!«, rief der Alte. »Bei den Gütigen Seelen - du lebst!«

Richard legte einen Finger an die Lippen, zog Kahlan hinter sich hinein und schloss leise die Tür. Die drei sahen erschöpft und abgerissen aus. Die Gefangenschaft schien ihnen mächtig zugesetzt zu haben.

»Sprecht leise«, raunte Richard. »Hier wimmelt es nur so von Gardesoldaten.«

»Woher in aller Welt wusstest du, dass wir hier sind?«, wollte der Alte wissen.

»Ich wusste es gar nicht«, erwiderte Richard. »Also, eins kann ich dir sagen, Junge, wir haben wahrlich eine Menge zu be-«

»Sei still, Zedd, und hör mir zu.«

Der Alte schloss abrupt den Mund. Dann zeigte er. »Woher hast du das Schwert?«

»Kahlan hat es mir gegeben.«

Zedds buschige Brauen zogen sich zusammen. »Du hast sie gesehen?«

Richard nickte, dann reichte er ihm die Klinge. »Schließ deine Hand um das Heft.«

Zedds Miene verfinsterte sich noch mehr. »Wozu? Es gibt eine Menge sehr viel wichtigerer Ding-«

»Nun mach schon!«, fuhr Richard ihn an.

Der Kommandoton irritierte Zedd, doch dann nahm er sich zusammen und tat, wie Richard ihn geheißen.

Sofort zuckte sein Blick zu Kahlan, und in seinen immer größer werdenden haselnussbraunen Augen schien ein Licht aufzuleuchten.

»Bei den Gütigen Seelen ... Kahlan.«

Während Zedd noch vor Schreck erstarrt dastand, hielt Richard das Schwert der Frau hin. Sie berührte den Griff, und während sie Kahlan anstarrte, die wie durch Magie plötzlich vor ihr erschienen zu sein schien, dämmerte in ihren Augen so etwas wie Erkenntnis. Der große Hüne zeigte sich nicht weniger erstaunt, als er das Heft berührte.

»Dich kenne ich doch«, sagte Zedd zu ihr. »Ich kann dich sehen.«

»Du erinnerst dich an mich?«, fragte Kahlan.

Zedd schüttelte den Kopf. »Nein. Offenbar setzt das Schwert den noch immer anhaltenden Prozess der Feuerkettenreaktion einen Moment lang aus. Mein Erinnerungsvermögen vermag es nicht wiederherzustellen – das ist verloren -, aber es scheint die Reaktion als solche zu unterbrechen. Sehen kann ich dich, und ich erkenne auch, wer du bist, aber ich erinnere mich nicht an dich. Es ist, als ob man ein bekanntes Gesicht sähe, aber nicht weiß, wohin damit.«

»Bei mir ist es genau so«, meinte der Hüne.

Die Frau nickte zustimmend.

Zedd packte Richard am Ärmel. »Wir müssen hier raus. Sechs wird bestimmt zurückkommen. Wir dürfen nicht riskieren, uns hier erwischen zu lassen und mit ihr aneinanderzugeraten. Übrigens kann einem diese Frau gewaltig auf die Nerven gehen.«

Richard war bereits auf dem Weg zur anderen Seite der Zelle. »Zuerst muss ich mir etwas wiederholen.«

»Etwa das Buch?«, fragte Zedd.

Er blieb stehen und wandte sich herum. »Du hast es gesehen?« »Das will ich meinen. Wo in aller Welt hast du so etwas nur gefunden?«

Richard stieg auf einen Stuhl und förderte einen hinter einen Balken gestopften Rucksack zutage. »Der Oberste Zauberer Baraccus ...«

»Etwa der aus dem Großen Krieg? Meinst du diesen Baraccus?«

»Genau den.« Richard sprang vom Stuhl herunter. »Er hat es verfasst und ließ es verstecken, damit ich es finde. Ihm habe ich es auch zu verdanken, dass ich mit beiden Seiten der Gabe geboren wurde, weshalb er mich unterstützen wollte und daher seine Frau, Magda Searus, nach seiner Rückkehr vom Tempel der Winde bat, es zu verstecken. Das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls hatte es schon seit dreitausend Jahren auf mich gewartet.«

Zedd schien es die Sprache verschlagen zu haben. Sie versammelten sich um den Tisch, während Richard in dem Rucksack wühlte, bis er das Buch gefunden hatte und es hervorzog. Er zeigte es Zedd.

»Das Problem war, dass ich damals von meiner Gabe abgeschnitten war und es gar nicht lesen konnte. Ich weiß also nicht, was Baraccus mir über meine Talente mitteilen wollte.«

Zedd wechselte einen Blick mit den beiden anderen Gefangenen.

»Richard, ich muss mit dir über Baraccus’ Hinterlassenschaft sprechen.«

»Ja, einen Moment noch.«

Die Falten auf seiner Stirn furchten sich immer tiefer, während er in dem Buch blätterte. »Die Seiten sind noch immer leer.« Verwirrt blickte er auf. »Zedd, sie sind noch immer leer. Dabei ist die Sperre meiner Gabe aufgehoben worden, dessen bin ich mir absolut sicher. Warum also habe ich noch immer den Eindruck, dass hier nichts steht?«

Zedd legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Weil dort eben nichts steht.«

»Für mich. Aber du kannst es doch lesen.« Er hielt ihm das geöffnete Buch hin. »Was steht hier?«

»Gar nichts. Abgesehen vom Titel auf dem Einband enthält das Buch keinerlei Schrift.«

Richard sah den alten Mann verwirrt an. »Was soll das heißen, es enthält keinerlei Schrift? Das kann nicht sein. Es müsste die Geheimnisse der Kraft eines Kriegszauberers enthalten.«

»Tut es ja«, erwiderte Zedd mit feierlichem Ernst.

Richard schien gleichzeitig entmutigt, verärgert und verwirrt. »Das begreife ich nicht.«

»Zauberer Baraccus hat dir ein Gesetz der Magie hinterlassen.«

»Und welches?«

»Das Gesetz aller Gesetze. Das ungeschriebene Gesetz, jenes Gesetz, das seit Anbeginn der Zeit unausgesprochen ist.«

Richard fuhr sich mit dem Fingerkamm durchs Haar. »Für Rätsel haben wir keine Zeit. Was wollte er mir damit mitteilen? Was besagt dieses Gesetz?«

Zedd zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Es wurde nie ausgesprochen, niemals niedergeschrieben.

Gleichwohl wollte Baraccus dich wissen lassen, dass sich dahinter das Geheimnis zum Gebrauch der Kraft eines Kriegszauberers verbirgt. Und die einzige Möglichkeit, sicherzustellen, dass du verstehst, was er dir mitteilen wollte, war, dir zur Erklärung des ungeschriebenen Gesetzes ein ungeschriebenes Buch zu hinterlassen.«

»Und was soll ich damit anfangen, wenn ich gar nicht weiß, was drinsteht?«

»Diese Frage musst du dir selbst stellen, Richard. Wenn du der bist, für den Baraccus dich hielt, wirst du wissen, wie du sein Vermächtnis nutzen kannst. Offenbar hielt er es für außergewöhnlich wichtig und aller Mühen wert, ich würde also vermuten, es ist das, was du brauchst.«

Richard holte einmal tief Luft, um sich zu sammeln. Kahlan tat er unendlich leid, denn er schien mit seinem Verstand am Ende - und den Tränen nahe.

»Sieh an, sieh an«, war hinter ihnen eine Stimme zu vernehmen. Alle fuhren herum.

»Sechs...«, entfuhr es Zedd.

»Wenn das nicht die Mutter Konfessor ist. Was wird der Kaiser erfreut sein, wenn ich ihm obendrein auch noch den Lord Rahl bringe, schön verschnürt zu einem Bündel.«

Kahlan sah Zedd, offenbar von starken Schmerzen gepeinigt, die Hände an seinen Kopf pressen, nach hinten torkeln und am Boden zusammenbrechen. Mit einem klirrenden Geräusch zog Richard sein Schwert und wollte schon damit auf die Frau losgehen, als er von unsichtbaren Kräften jäh gestoppt und zurückgedrängt wurde. Sein Schwert schlitterte scheppernd über den Steinfußboden. Mit dürrem Finger zeigte die Frau auf Kahlan. »Das wäre keine gute Idee, Mutter Konfessor. Nicht, dass es mir etwas ausmachte, wenn Ihr Euer eigenes Gehirn bei dem Versuch, meines in Brei zu verwandeln, verschmoren würdet. Nur seid Ihr lebend für mich sehr viel wertvoller.«

Kahlan spürte den Schmerz einer unsichtbaren Kraft, die sie ebenso zurückdrängte, wie zuvor Richard. Die einen aller Kraft beraubende Pein ähnelte ein wenig der des Halsrings, nur traf sie sie noch stechender und tiefer in den Ohren. Ihr Kiefergelenk schmerzte so ungeheuer, dass sie gezwungen war, den Mund aufzusperren. Alle fünf krümmten sich vor Schmerzen und pressten sich die Hände auf die Ohren.

»Das wird alles ungeheuer erleichtern«, bemerkte Sechs selbstzufrieden, während sie dem leibhaftigen Tod gleich auf sie zuglitt.

»Sechs«, herrschte sie eine strenge Stimme von der Tür aus an. Sechs wirbelte herum. Offenbar war ihr die Stimme nicht unbekannt. Der Schmerz in Kahlans Kopf ebbte ein wenig ab, und sie sah, dass auch die anderen sich erholten.

»Mutter ... ?«, stammelte Sechs in gefühlsmäßiger Verwirrung.

»Du hast mich enttäuscht, Sechs«, sagte die alte Frau und trat in den Raum. »Uber alle Maßen.«

Sie war, ganz so wie Sechs, sehr schlank, wenn auch altersgebeugt. Auch stand ihr das schwarze Haar in ganz ähnlicher Manier vom Kopf ab, allerdings war es durchsetzt von weißen Strähnen, und auch ihre blauen Augen hatten schon ein wenig von ihrem Glanz verloren. Sechs wich einige Schritte zurück. »Aber ich ... ich ...«

»Was ?«, verlangte die Alte im giftigen Tonfall äußersten Missfallens zu wissen. Sie war eine beherrschende Erscheinung, die sich offenbar vor gar nichts fürchtete, ganz sicher nicht vor Sechs.

Geduckt wich Sechs einen weiteren Schritt zurück. »Ich verstehe nicht ...«

Kahlan klappte der Unterkiefer herunter, als sie die gespannte, bleiche Haut an Sechs’ Gesicht und Händen in Bewegung geraten sah, wie wenn sich darunter Blasen bildeten.

Sechs fing vor Schmerzen an zu schreien, während sie die sich verziehende Haut ihres Gesichts hektisch mit den Händen betastete.

»Was willst du, Mutter?!«

»Das ist recht einfach.« Die alte Frau näherte sich der noch immer ängstlich zurückweichenden Sechs. »Ich will deinen Tod.«

Bei diesen Worten verfiel Sechs’ Körper in wilde Zuckungen, während ihre sich zusammenziehende, heftig bewegende Haut sich von den hektisch bewegenden Muskeln und Sehnen zu lösen schien. Unvermittelt packte die Alte die erschlaffte Haut in Sechs’ Nacken, und riss, noch während Sechs in sich zusammensackte, mit aller Kraft daran. Die Haut löste sich fast vollständig in einem Stück von der schwer angeschlagenen Hexe. Sie brach auf dem Steinfußboden zu einer blutigen, unkenntlichen Masse zusammen, die von der Hülle ihres schwarzen Kleides kaum noch zusammengehalten werden konnte. Ein ekelhafter Anblick.

Die erschlafften Überreste von Sechs’ Haut in der Hand, lächelte die Alte sie an.

Starr vor Schreck beobachteten sie, wie die alte Frau zu schimmern begann, ihre Erscheinung flimmerte und flackerte. Kahlan starrte verdutzt. Plötzlich war die alte Frau gar nicht mehr alt, sondern jung und schön, mit langem, welligem kastanienbraunem Haar. Ihr bunt schillerndes Kleid, dessen luftige Stoffspitzen wie in einer sanften Brise wehten, vermochte ihren sinnlichen Körper nur unzureichend zu verhüllen.

»Shota ...« Ein breites Grinsen ging über Richards Gesicht. Sie ließ die blutende Haut zu einem unordentlichen Haufen aus den Fingern gleiten, trat dann, ein geziert verführerisches Lächeln im Gesicht, zu ihm hin und legte ihm die andere Hand zärtlich unters Kinn. Kahlan spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

»Was tust du hier, Shota?«, fragte Richard.

»Deine Haut retten, offensichtlich.« Ihr Lächeln wurde breiter, als ihr Blick kurz die Überreste in dem schwarzen Kleid streifte. »Was, denke ich, Sechs die ihrige gekostet hat.«

»Aber ... aber ich verstehe nicht.«

»Sechs hat es ebenso wenig verstanden«, fiel sie ihm ins Wort. »Sie hatte wohl erwartet, ich würde mich mit eingekniffenem Schwanz aus dem Staub machen, zitternd vor Angst, dass sie mich finden könnte, folglich kam der Besuch ihrer Mutter für sie völlig überraschend. So etwas gehört nicht zu ihren ansonsten recht bemerkenswerten Talenten und übersteigt ihr begrenztes Vorstellungsvermögen, denn sie vermag die Bedeutung einer Mutter nicht einzuschätzen, noch kann sie es denen nachempfinden, die es können. Die Kraft und Bedeutung dieser Bande sind ihr ein Rätsel, weshalb sie blind dagegen ist. Schließlich war das Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter von Abscheu und Angst geprägt.«

Kahlan spürte, wie ihr Gesicht noch heißer wurde, als sie Shota mit langem, rotlackierten Fingernagel über Richards Hemdbrust streichen sah.

»Ich mag es nicht, wenn mir jemand etwas wegnimmt, was ich durch harte Arbeit erschaffen habe«, meinte Shota in innig vertrautem Ton zu Richard. »Sie hatte kein Recht auf das, was mir gehört. Auch wenn es mich sehr viel Zeit und Mühe gekostet hat, all ihre Anstrengungen, sich mein Reich mit ihren verräterischen Tentakeln zu greifen, wieder aufzuheben, ich habe es getan.«

»Ich denke, es hatte auch noch einen anderen Grund, Shota. Ich glaube, Ihr wolltet uns helfen.«

Shota bestätigte es mit einer knappen Handbewegung und kehrte ihm den Rücken zu. »Die Kästchen sind im Spiel. Sollten die Schwestern der Finsternis sie öffnen, werden zahllose Menschen umkommen, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen. Auch ich werde dem Hüter wie ein Stück Fleisch vorgeworfen werden.«

Was Richard nur mit einem Nicken bestätigen konnte. Er bückte sich und hob sein Schwert vom Boden auf. Dann hielt er ihr das Heft hin. »Hier.«

»Mein Guter, ich habe keinerlei Verwendung für ein Schwert.« Kahlan war unbegreiflich, wie jemand eine so wunderschöne, sei denweiche Stimme haben konnte. Auch war Shotas Benehmen nicht anzumerken, dass sie sich der Anwesenheit der anderen im Raum bewusst war. Sie löste ihre mandelförmigen Augen nur einmal kurz von Richard, um Zedd einen kurzen warnenden Blick zuzuwerfen.

»Tut mir einfach den Gefallen und berührt es kurz.«

Ein kokettes Lächeln milderte ihre Züge. »Wenn du es sagst.«

Ihre eleganten Finger umschlossen das Heft. Plötzlich richtete sie ihre Augen auf die unmittelbar neben ihm stehende Kahlan.

»Das Schwert unterbricht den anhaltenden Prozess des Feuerkettenbanns«, erklärte er. »Es hebt ihn nicht auf, befähigt Euch aber zu sehen, wer vor Euch steht.«

Ihr Blick verweilte kurz, ehe er zu Richard zurückkehrte. »Allerdings.«

Ihr Ton wurde ernst. »Im Augenblick allerdings laufen wir alle in der Zelle hier Gefahr, von der Macht der Ordnung überwältigt und für alle Ewigkeit zum Hüter der Toten in die Unterwelt verbannt zu werden.« Sie strich ihm mit den Fingern über die Wange. »Wie ich dir bereits erklärt habe, musst du das unter allen Umständen verhindern.«

»Und wie soll ich das tun?«

Sie bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. »Diese Diskussion hatten wir bereits, Richard. Du bist der Spieler, also obliegt es dir, die Kästchen ins Spiel zu bringen.«

Richard seufzte schwer. »Die Kästchen sind weit weg. Jagang wird sie ins Spiel bringen lassen, lange bevor wir zurückkönnen.«

Shota sah ihn lächelnd an. »Ich wüsste einen Weg.«

»Der wäre?«

»Du könntest fliegen.«

Fragend neigte Richard den Kopf zur Seite. »Fliegen?«

»Der Drache, den Sechs verhext und für ihre Zwecke missbraucht hat, wartet oben auf der Brustwehr.«

»Ein Drache!«, entfuhr es Zedd. »Ihr erwartet, dass Richard einen Drachen fliegt? Was für ein Drache ist das überhaupt?«

»Ein zorniger.«

»Zornig?«, wunderte sich Richard.

»Ich fürchte, mein Auftritt als Drachenmutter war nicht sonderlich überzeugend, gleichwohl habe ich ihn besänftigt.« Sie zuckte die Achseln.

»Jedenfalls ein wenig.«

Richard bat die anderen, im Flur zu warten, während er sich rasch mit den Sachen aus seinem Rucksack umzog. Als er sich ihnen wieder präsentierte, blieb Kahlan bei dem Anblick, der sich ihr bot, glatt die Luft weg.

Uber einem schwarzen Hemd trug er einen an den Seiten offenen Waffenrock, verziert mit seltsamen Symbolen, die sich auf einem breiten goldenen Band um den gesamten Saum wanden. Ein breiter, mehrschichtiger Ledergürtel, auf dem weitere dieser Embleme zu erkennen waren, raffte den Waffenrock an seiner Hüfte. Der alte Waffengurt aus geprägtem Leder, an dem eine in Gold und Silber gearbeitete Scheide für das Schwert der Wahrheit befestigt war, hing über seiner rechten Schulter. Jedes seiner Handgelenke war von einem breiten, ledergepolsterten Silberreif umschlossen, auf denen weitere dieser seltsamen Symbole zu sehen waren. Die schwarzen, über seine ebenfalls schwarzen Hosen gestülpten Stiefel waren mit Nieten besetzt, die ebenso mit diesen verschlungenen Symbolen verziert waren. Um seine breiten Schultern trug er einen Umhang, der aus gewebtem Gold gemacht zu sein schien.

Sein Äußeres entsprach genau Kahlans Idealbild von einem Kriegszauberer. Er sah aus, als befehlige er Könige. Er sah aus wie der Lord Rahl.

Kahlan hatte nicht die geringste Mühe, sich vorzustellen, warum Nicci in ihn verliebt war. Sie war ganz einfach die glücklichste Frau der Welt – und eine Frau, die dieses Mannes würdig war.

»Beeilen wir uns«, sagte er an Shota gewandt.

Shota, in ihrem fließenden, hauchzarten Kleid, durchmaß mit gleichmäßigen Schritten die Flure und führte sie durch untergeordnete, ungeschmückte Gänge im Inneren der Burg, als wäre diese menschenleer. Ab und zu wies sie mit einer Handbewegung auf einen Durchgang oder eine Tür, wie um jeden zu verscheuchen, der sie zu behelligen wagte. Offenbar erreichte sie genau das, denn niemand wagte es, sich der kleinen durch die Flure hastenden Gruppe in den Weg zu stellen.

Als sie schließlich vor einer schweren Eichentür Halt machte, blieben die anderen ebenfalls stehen. Mit einem fragenden Blick, wie um sich zu vergewissern, dass alle bereit waren, stieß sie die schwere Holztür auf. Als sie durch die Tür ins wolkenverhangene Freie traten, fuhr der Wind in Richards Umhang. Draußen auf der Brustwehr sahen sie sich einem riesigen Tier mit glänzend rotem Schuppenpanzer und schwarzen Zacken auf dem Rücken gegenüber.

Ein Feuerschwall ergoss sich tosend über den Wehrgang und wirbelte Staub und Kies in alle Himmelsrichtungen. Die Gruppe wich erschrocken zurück.

»Das ist nicht Scarlet«, bemerkte Richard. »Ich dachte, es könnte vielleicht Scarlet sein.«

»Du kennst einen Drachen?«, wollte Kahlan wissen.

»Ja. Du übrigens auch, aber nicht diesen. Dieser hier ist größer und macht einen erheblich übellaunigeren Eindruck.«

Die Hitze der wallenden Flammen trieb sie abermals zurück. Shota, ein leises Lied auf den Lippen, trat unbekümmert einen Schritt vor. Der Feuerschwall kam zum Erliegen. Der Drache schob seinen Kopf nach unten, ganz in ihre Nähe, und neigte ihn leicht zur Seite, so als wäre er neugierig. Auf Shotas leise geflüsterte Worte, die Kahlan nicht verstand, gab er ein sachtes, zufriedenes Schnauben von sich. Während sie ihn am Kinn kraulte, wandte sich Shota zu ihnen herum.

»Komm, Richard, sprich mit diesem hübschen Kerl.«

Auf ihre Worte stimmte der Drache ein beinahe wohlig zufriedenes Schnurren an.

Richard trat rasch einen Schritt vor. »Ich habe eine Drachenfreundin«, wandte er sich an die ihn überragende Bestie, »du kennst sie vielleicht. Ihr Name lautet Scarlet.«

Das massige Tier warf seinen Kopf nach hinten und stieß eine Feuersäule in den Himmel. Sein zackenbewehrter Schwanz wischte über die Brustwehr und fegte mächtige Steinquader aus der Mauer in die Tiefe. Der rote Schädel schwenkte wieder nach unten und bleckte mit einem Knurren seine gefährlich aussehenden Reißer. »Scarlet ist meine Mutter«, knurrte er.

Richard schien angenehm überrascht. »Scarlet ist deine Mutter? Dann bist du Gregory?«

Der Drache kam noch näher und beschnupperte Richard mit gerunzelter Stirn. Jeder seiner Atemzüge blähte Richards Umhang.

»Wer bist du, kleiner Mann?«

»Ich bin Richard Rahl. Als ich dich das letzte Mal sah, warst du noch ein Ei.« Wie in einer Unterhaltung mit einem alten Freund, deutete Richard mit den Armen einen Halbkreis an. »Gerade mal so groß warst du.«

»Richard Rahl.« Ein Grinsen ging über Gregorys Züge, und seine Feindseligkeit löste sich auf in Nichts. »Meine Mutter hat mir von dir erzählt.«

Richard legte ihm eine Hand auf die Schnauze. Seine Stimme wurde sanft vor Sorge. »Geht es ihr gut? Die Magie ist im Schwinden begriffen, und ich habe mir Sorgen gemacht, wie sich das auf sie auswirken könnte.«

Schnaubend stieß Gregory ein Rauchwölkchen aus. »Sie ist sehr krank und wird mit jedem Tag schwächer. Ich bin stärker, weshalb ich noch immer fliegen kann. Ich bringe ihr zu essen, aber die Hexe hindert mich immer wieder daran. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihr noch helfen soll. Ich habe Angst, sie zu verlieren.«

Richard nickte traurig. »Schuld daran ist die durch den Aufenthalt der Chimären in dieser Welt verursachte Verunreinigung. Sie ist im Begriff, alle Magie zu vernichten.«

Gregory nickte mit seinem riesigen Schädel. »Dann sind die roten Drachen zum Untergang verdammt.«

»So wie wir alle. Es sei denn, es gelingt mir, dieser Verunreinigung ein Ende zu machen.«

Der riesige Schädel neigte sich zur Seite, so dass Gregory Richard mit einem seiner gelben Augen betrachten konnte. »Dazu wärst du imstande?«

»Möglicherweise, nur bin ich mir nicht sicher, wie. Ich weiß nur eins:

Wenn ich es versuchen will, muss ich zum Palast des Volkes.«

»Zum Palast des Volkes? Wo diese Armee von Verbrechern lagert?«

Richard nickte. »So ist es. Womöglich bin ich der Einzige, der dieser Verunreinigung ein Ende machen kann. Würdest du uns dorthin bringen?«

»Ich bin jetzt frei. Ein freier Drache dient den Menschen nicht.«

»Ich bitte dich nicht, mein Diener zu sein, sondern uns nur nach D’Hara zu fliegen, damit ich versuchen kann, uns alle zu retten - und das gilt auch für dich und deine Mutter.«

Gregory schob seinen Kopf näher an Zedd, Tom und Rikka heran und dachte kurz darüber nach, ehe er erneut Richard ansah. »Euch alle?«

»Uns alle«, bestätigte Richard. »Ich bin auf die Hilfe meiner Freunde hier angewiesen. Es ist unsere einzige Chance, den grauenhaften Dingen Einhalt zu gebieten, die sich in Kürze ereignen werden.«

Gregorys Schädel senkte sich herab, so nah, dass er Richard mit der Schnauze einen Stoß gegen die Brust versetzen und ihn einen halben Schritt zurückschieben konnte. »Meine Mutter hat mir die Geschichte erzählt, wie du mich gerettet hast, als ich noch ein Ei war. Wenn ich es tue, sind wir quitt.«

»Einverstanden«, bestätigte Richard.

Gregory ließ seinen Körper so weit wie möglich auf den Wehrgang hinunter. »Dann also nichts wie los.«

Richard erklärte den anderen, wie sie aufsitzen und sich an den Zacken und anderen Vorsprüngen festhalten mussten. Er schwang sich als Erster hinauf und setzte sich rittlings am Halsansatz des Drachen auf dessen Rücken, anschließend half er Zedd, Tom und Rikka hinter sich nach oben. Zedd brummelte die ganze Zeit mürrisch vor sich hin, worauf Richard ihn anfuhr, das Fluchen gefälligst zu unterlassen. Als Letzte kam Kahlan. Richard beugte sich herab, ergriff ihre Hand, und zog sie hinter sich hinauf. Während sie es sich auf dem Drachenrücken hinter ihm bequem machte, sah sie ihn ein weißes Tuch aus seiner Tasche ziehen und es betrachten.

Die Arme um ihn geschlungen, raunte sie ihm leise ins Ohr. »Ich habe Angst.«

Er sah sie lächelnd über seine Schulter an. »Wenn man auf einem Drachen fliegt, kann einem zwar schwindelig werden, aber man wird nicht flugkrank. Halt dich einfach gut fest und mach, wenn du willst, die Augen zu.«

Ihr fiel auf, wie unbeschwert sich diese Nähe zu ihm anfühlte, und wie rücksichtsvoll und natürlich er sich ihr gegenüber gab. Sobald sie in seiner Nähe war, schien er regelrecht aufzuleben.

»Was hast du da?« Mit dem Kopf deutete sie auf das weiße Tuch, das auf der einen Seite einen Tintenfleck aufwies, und auf der anderen dessen genaues Gegenstück.

»Etwas von früher«, antwortete er leicht zerstreut. Offenbar beschäftigte ihn weniger ihre Frage als das weiße Tuch mit den beiden Tintenflecken darauf.

Er stopfte es wieder in seine Tasche und sah hinunter zum Wehrgang.

»Kommt Ihr, Shota?«

»Nein. Ich kehre nach Agaden zurück, in mein Zuhause. Dort werde ich abwarten, bis entweder das Ende kommt oder du es noch verhinderst.«

Richard nickte. Kahlan hatte nicht den Eindruck, dass er übermäßig zuversichtlich wirkte. »Vielen Dank für alles, was Ihr getan habt, Shota.«

»Mach, dass ich stolz auf dich sein kann, Richard.«

Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln. »Ich werde mein Bestes geben.«

»Mehr kann man von niemandem verlangen«, gab sie zurück. Er versetzte dem glänzenden roten Schuppenpanzer des Drachen einen Klaps. »Fliegen wir, Gregory. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Gregory gab einen kurzen Feuerstoß ab, und noch während der schwarze Rauch sich kräuselnd verzog, hoben sich die mächtigen Schwingen des Drachen und senkten sich mit ungeheurer und doch geschmeidiger Kraft. Kahlan spürte, wie sie sich in die Lüfte erhoben. Es war, als würde ihr der Magen umgestülpt.

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