54

Kahlan legte einen weiteren Zweig ins Feuer. Funken stoben in die spätabendliche Luft, so als könnten sie es kaum erwarten, den schwindenden dunkelorangefarbenen Resten von Helligkeit hinterherzuja-gen, die durch die kahlen Äste am Himmel im Westen eben noch zu erkennen waren. Sie hielt die Hände wärmend an die auflodernden Flammen und rieb sich dann fröstelnd die Arme. Es würde eine kalte Nacht werden. Wegen der spärlichen Ausrüstung besaßen sie jeder nur eine Decke. Wenigstens hatte sie noch ihren Umhang. Der kalte Boden würde ihnen eine unbequeme Nacht mit wenig Schlaf bescheren, doch da es reichlich Föhren gab, hatte sie ein paar Zweige abgeschnitten und sich daraus eine Unterlage geschichtet. Trotz seiner großen Dichte würde ihnen der Wald kaum Schutz gegen den Wind bieten, aber da sich in der sternenklaren Nacht kein einziger Lufthauch regte, bliebe ihnen wenigstens der Bau eines Unterschlupfs erspart. Kahlan hatte nur noch einen Wunsch: einen Happen essen und sich dann schlafen legen.

Vor dem Anzünden des Feuers hatte sie die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und ein paar Fallen ausgelegt, in der Hoffnung, ein Kaninchen zu fangen und es, wenn nicht noch an diesem Abend, so doch wenigstens morgen früh, vor ihrem erneuten Aufbruch, zu verspeisen. Samuel hatte einen ordentlichen Vorrat an Feuerholz gesammelt, der die Nacht über reichen würde, und anschließend das Feuer angezündet. Danach war er das felsige Ufer eines nahen Bachs hinabgeklettert, um Wasser zu holen. Kahlan war müde bis auf die Knochen und völlig ausgehungert. Die aus dem Feldlager der Imperialen Ordnung mitgebrachten Lebensmittelvorräte waren nahezu vollständig aufgebraucht - dabei hatten sie gar nicht so oft Halt gemacht, um sich auszuruhen oder eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Wenn sie also kein Kaninchen fingen, hieße es wieder Trockenfleisch und Kekse, immerhin. Lange würde jedoch selbst das nicht mehr reichen.

Samuel hatte sich stets dagegen gesträubt, Halt zu machen und ihre Vorräte aufzustocken, denn er schien von einer schrecklichen Unruhe getrieben. Ganz unten in den Satteltaschen hatten sie ein paar Münzen entdeckt, doch anstatt eine der kleinen Ortschaften, an denen sie vorübergekommen waren, aufzusuchen, um ein paar Vorräte einzukaufen, hatte Samuel darauf bestanden, dass sie sich von allen Menschen fernhielten.

Er war überzeugt, dass sie von den Ordenssoldaten verfolgt wurden, und angesichts des unbändigen Hasses, den Jagang für sie empfand, seiner Rachsucht, hatte Kahlan seiner Befürchtung kaum etwas entgegenzusetzen. Soweit sie wusste, konnten sie ihnen bereits unmittelbar auf den Fersen sein. Ein Gedanke, der ihrem Frösteln eine beklemmende Schärfe verlieh.

Auf ihre Frage, wohin es denn gehe, hatte Samuel ausweichend reagiert und lediglich nach Südwesten gewiesen - allerdings nicht ohne ihr zu versichern, dass sie zu einem Ort unterwegs seien, wo sie in Sicherheit wären.

Er erwies sich als zunehmend merkwürdiger Reisegefährte. Beim Reiten brachte er kaum ein Wort über die Lippen, im Lager noch weniger. Wenn sie Halt machten, entfernte er sich niemals weit von ihr. Zwar hatte er sich in das Feldlager der Imperialen Ordnung geschlichen, um sie zu befreien, aber über seine Beweggründe schwieg er sich aus. Einmal hatte er auf ihr Drängen behauptet, er habe es getan, um ihr zu helfen, was bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht ganz nett klingen mochte, nur ließ er sich niemals darüber aus, woher er sie überhaupt kannte, oder woher er von ihrer Gefangenschaft wusste.

Aus seiner Art, ihr verstohlene Blicke zuzuwerfen, sobald er sich unbeobachtet glaubte, schloss sie, dass er womöglich schüchtern war. Bedrängte sie ihn wegen irgendetwas, zog er normalerweise nur achselzuckend den Kopf zwischen die Schultern. Nicht selten hatte sie das Gefühl, den armen Kerl mit ihren Fragen nur zu quälen, so dass sie es schließlich aufgegeben hatte und ihn in Ruhe ließ. Es waren die einzigen Momente, da er sich ein wenig zu entspannen schien. Trotzdem, die Vielzahl der ungeklärten Fragen machte sie stutzig. Obwohl er viel für sie getan, ihr bei jeder Gelegenheit geholfen hatte, traute sie ihm nicht über den Weg. Es war ihr unangenehm, dass er sich weigerte, auf die einfachsten und doch so wichtigen Fragen zu antworten. Ein Großteil ihres eigenen Lebens war ihr selbst ein Rätsel, weshalb sie auf unbeantwortete Fragen überaus empfindlich reagierte. Manchmal, wenn sie ihn unvermutet anblickte, sah sie ihn sie aus diesen seltsamen goldenen Augen anstarren. In diesen Momenten meinte sie in seinen Augen die verschlagene Gerissenheit eines Halunken zu erkennen. Beim Schlafengehen war sie daher stets bemüht, den Griff ihres Messers niemals aus der Hand zu lassen.

Versuchte sie hingegen, ihn auszufragen, schien er zu schüchtern, ihr auch nur in die Augen zu sehen, geschweige denn zu antworten, und zog sich mit eingezogenem Kopf zum Feuer zurück, so als hoffte er, sich dort unsichtbar machen zu können. Meist hatte sie schon Schwierigkeiten, ihm mehr als ein »Ja« oder »Nein« zu entlocken.

Seine Schweigsamkeit schien jedoch nie auf Grausamkeit, Arroganz oder Gleichgültigkeit zu beruhen. Weil es so schwierig war, ihn zum Sprechen zu bewegen, und seine Antworten praktisch nutzlos waren, hatte sie es zu guter Letzt einfach aufgegeben.

Entweder war er übertrieben schüchtern oder er verheimlichte ihr etwas. In diesen langen Phasen der Schweigsamkeit wanderten Kahlans Gedanken zu Richard. Sie fragte sich, ob er überhaupt noch lebte. Sie befürchtete, die Antwort zu kennen, sträubte sich aber gegen die Endgültigkeit seines Todes. Ihn seine Waffe benutzen zu sehen, zu sehen, wie er die Klinge schwang und sich bewegte, erfüllte sie noch immer mit Erstaunen. Er hatte so viel getan, um ihr zur Flucht zu verhelfen, dass sie befürchtete, er könnte den allerhöchsten Preis dafür bezahlt haben. Während sie ihren Gedanken an Richard nachhing, bemerkte sie eine Frostigkeit in der regungslosen Luft, die nicht von der Kälte herrührte. Es war eine merkwürdige Nacht, irgendetwas daran schien nicht in Ordnung, leer. Die Welt erschien ihr noch einsamer als sonst. Das setzte ihr am meisten zu - dieses unablässige, nagende Gefühl der Leere, diese entsetzliche Einsamkeit, weil sie von nahezu allen anderen abgesondert war. Auch fehlte ihr ein Teil ihres Lebens, ohne dass sie hätte sagen können, welcher. Abgesehen von ihrem Namen und dass sie die Mutter Konfessor war, wusste sie nichts über sich selbst. Auf ihre Frage, was eine Konfessorin sei, hatte Samuel sie nur lange angestarrt und dann mit den Schultern gezuckt. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass er es wusste, es ihr nur nicht verraten wollte. Kahlan fühlte sich nicht nur von der Welt abgeschnitten, sondern von ihrem eigenen Selbst. Sie wollte ihr altes Leben zurück ...

»Hab eins erwischt!«, rief Samuel, als er wie aus dem Nichts in den Schein des Lagerfeuers trat.

Er hielt ein Kaninchen an den Hinterbeinen. Sie konnte sich nicht erinnern, Samuel jemals so aufgeregt gesehen zu haben. Er musste völlig ausgehungert sein.

Lächelnd ließ sie sich nach hinten sinken. »Schätze, dann werden wir heute Abend eine warme Mahlzeit kriegen.«

Samuel packte die beiden Hinterläufe mit beiden Händen und riss das Tier mit einem hektischen Ruck auseinander. Überrascht richtete sich Kahlan auf, als er eine blutende Kaninchenhälfte vor ihr auf den Boden legte.

Dann hockte er sich unweit mit dem Gesicht zum Feuer hin und begann, seine Hälfte des Kaninchens zu verschlingen.

Schockiert beobachtete sie, wie er den rohen Fang in sich hineinschlang, mit den Zähnen ein Stück Fell abriss und es in einem Stück hinunterschluckte, während ihm das Blut vom Kinn herabrann. Als ihr von dem Anblick übel wurde, wandte sie den Blick ab und starrte in die Flammen.

»Iss«, forderte er sie auf. »Schmeckt gut.«

Kahlan packte einen Hinterlauf mit zwei Fingern und warf ihm ihre Hälfte zu. »Ich bin nicht sehr hungrig.«

Ohne ein Wort des Widerspruchs machte er sich über ihre Hälfte her. Den Kopf auf den Sattel gestützt, lehnte Kahlan sich zurück und betrachtete die Sterne. Um Samuel aus ihren Gedanken zu verbannen, dachte sie noch einmal an Richard und fragte sich, wer er wohl wirklich war, und was ihn mit ihr verband. Seine Art, mit der Klinge zu kämpfen erinnerte sie sehr an ihren Kampfstil, aber wo sie das gelernt hatte, wusste sie nicht. Während sie durch eine innere Landschaft schattenhafter Ungewissheiten wanderte, sah sie zu, wie der Mond langsam aufging.

Allmählich stellte sich ihr die Frage, was sie eigentlich bei Samuel hielt. In gewisser Weise hatte er ihr das Leben gerettet - nachdem Richard ihn dazu aufgefordert hatte. Vermutlich war sie ihm eine gewisse Dankbarkeit schuldig. Aber warum bei ihm bleiben? Er hatte weder Antworten noch echte Lösungen zu bieten. Diese unterwürfige Ergebenheit schuldete sie ihm jedenfalls nicht. Sie überlegte, ob sie sich vielleicht allein auf den Weg machen sollte.

Aber was würde das ändern? Sie sah beim Reiten Bäume und Berge an sich vorüberziehen, hatte aber trotzdem keine Ahnung, wo sie sich befand. Sie wusste weder, wo sie aufgewachsen war, wo sie lebte oder hingehörte. Weder erkannte sie das Land wieder, noch erinnerte sie sich – abgesehen von den Totenstätten, die sie nach ihrer Gefangenschaft durch die Schwestern passiert hatte - an irgendwelche OrtSchäften oder Städte. Sie hatte sich in einer Welt verirrt, in der sie unbekannt war, und an die sie keinerlei Erinnerung hatte. Als sie merkte, dass der Mond über den Bäumen stand, sah sie zu Samuel hinüber. Er hatte sein Mahl längst beendet und polierte sein Schwert, das in seinem Schoß lag.

»Samuel.« Er blickte auf, wie aus einer Trance gerissen. »Samuel, ich muss wissen, wohin wir reiten.«

»Zu einem Ort, wo wir sicher sind.«

»Das hast du schon einmal gesagt. Wenn ich dich weiter begleiten so-«

»Du musst! Du musst mit mir kommen! Bitte!« Sein plötzlicher Gefühlsausbruch verblüffte sie. Mit seinen weit aufgerissenen runden Augen schien er von echter Panik ergriffen. »Warum?«

»Weil ich uns in Sicherheit bringen werde.« »Vielleicht kann ich das ja selbst.«

»Aber ich kann dich zu jemandem bringen, der dir helfen kann, deine Erinnerung wiederzuerlangen.«

Das ließ sie aufhorchen. Sie richtete sich auf. »Du kennst jemanden, der das kann?« Heftiges Nicken. »Wen?«

»Einen Freund.«

»Woher soll ich wissen, dass du mir die Wahrheit sagst?«

Samuel blickte auf die blinkende Waffe in seinem Schoß und zeichnete ihren Schwung bewundernd mit dem Finger nach.

»Ich bin der Sucher der Wahrheit. Du stehst unter einem Bann, der deine Erinnerung gelöscht hat. Ich habe einen Freund, der dir helfen kann, deine Vergangenheit wiederzufinden, dich selbst.«

Die ebenso plötzliche wie unerwartete Aussicht, ihr Erinnerungsvermögen wiederzuerlangen, ließ Kahlans Herz schneller schlagen. Alle anderen Fragen schienen plötzlich bedeutungslos.

Samuel hatte ihr nie gesagt, dass er der Sucher der Wahrheit sei, sie wusste auch gar nicht, was das war, hatte allerdings das Wort WAHRHEIT mit Golddraht in den Silberdraht des Heftes eingeflochten gesehen. Es schien ein merkwürdiger Titel für jemanden, der nur äußerst widerwillig irgendwelche Informationen preisgab.

»Wann werde ich besagter Person begegnen?« »Bald. Sie ist ganz nah.«

»Woher weißt du das?«

Samuel blickte auf und starrte sie aus seinen gelben Augen an, die in der Dunkelheit wie Zwillingslampen wirkten.

»Ich kann sie spüren. Wenn du deine Vergangenheit wiederfinden willst, musst du bleiben.«

Der mit all diesen seltsamen Symbolen bemalte Richard kam ihr in den Sinn - das war die Vergangenheit, die sie eigentlich interessierte. Sie wollte wissen, was sie mit diesem Mann mit den grauen Augen verband. Richard wusste, es war seine einzige Chance.

Eine nie zuvor gekannte Dunkelheit bedrängte ihn von allen Seiten, es war ein erstickendes, erschreckendes, erdrückendes Gefühl. Denna versuchte ihn zu schützen, doch nicht einmal sie besaß die Macht, ein solches Wesen aufzuhalten. Diese Macht besaß niemand.

»Das kannst du nicht tun«, erklang Dennas Flüsterstimme in seinem Verstand. »Dies ist ein Ort des Nichts. Das kannst du nicht tun.« Er wusste, es war seine einzige Chance. »Ich muss es versuchen.«

» Wenn du das tust, wirst du diesem Ort schutzlos ausgeliefert sein. Du wirst allen Schutzes beraubt werden und nicht länger hierbleiben können.«

»Ich habe getan, was ich tun musste.«

»Aber du wirst den Weg zurück nicht finden können.«

Richard stieß einen Schmerzensschrei aus. Die schützende Konstruktion der von ihm geschaffenen Bannformen stand kurz davor, in Fetzen gerissen zu werden, so dass die alles umhüllende Schwärze hereinsickerte und ihm das Leben aus dem Leib presste. Dieser Ort duldete nichts Lebendiges, es war ein Ort, der existierte, um das Leben in die dunkle Ewigkeit des Nichts zu zerren.

Die Bestie war ihm in die Leere der Unterwelt gefolgt und hielt ihn nun in ihrem ureigenen Reich gefangen.

Längst galt seine Sorge nicht mehr dem Wiederfinden des Rückwegs, diese Möglichkeit war ihm bereits verwehrt. Seine Verbindung zum Eingangsportal war abgerissen, unterbrochen von der Bestie, als sie das Geflecht aus schützenden Bannen fortgerissen hatte. Eine Rückkehr in den Garten des Lebens war ausgeschlossen, ebenso die Möglichkeit, hier, inmitten des Nichts, irgendetwas zu finden.

Das Einzige, was jetzt noch zählte, war zu entkommen. Die Bestie war aus subtraktiver Magie geschaffen, und sie befand sich in einer subtraktiven Welt. Richard saß in ihrem Bau in der Falle. An diesem Ort war keine Hilfe zu erwarten. Gegen ein Geschöpf dieser Art, das sich in seinem ureigenen Element befand, vermochte Denna nichts auszurichten.

Selbst der Weg zurück in den Saal des Himmels, auf dessen steinerner Decke, einem Fenster gleich, das Firmament abgebildet war, war ihm endgültig verwehrt. Eine Ewigkeit schien das jetzt her zu sein, endlos fern jenseits der Ewigkeit des Nichts. Irgendwo in dieser Finsternis war seine Verbindung zu diesem Ort verloren gegangen.

Als er die quälenden Reißer des Todes höchstselbst an sich zerren spürte, wollte er nur noch eins: fort von hier.

Verbissen klammerte sich sein Verstand an die Elemente, derentwegen er gekommen war, während die Bestie sie ihm zu entreißen versuchte. Nicht einmal um den Preis seines Lebens würde er von ihnen lassen. Ein Verlust dieser flüchtigen Aspekte würde eine Rückkehr in die Welt des Lebens allen Sinns berauben.

»Ich muss es tun«, schrie er gegen die lähmenden Schmerzen dessen an, was an seiner Seele zerrte.

Verzweifelt schlossen sich Dennas Arme fester um ihn, doch diese Umarmung vermochte ihm keinen Schutz zu bieten. So sehr sie ihm auch helfen wollte, gegen dieses Wesen war sie chancenlos. Sie war seine Beschützerin in dieser Welt, aber nur in dem Sinn, dass sie sein Abirren in Gefahren verhinderte, die ihn für immer an noch dunklere Orte ziehen würden. Gegen das, was aus diesem Dunkel emporstieg, konnte sie ihn nicht schützen, und einem durch Zauberei geschaffenen Wesen Einhalt zu gebieten, das gar nicht existierte, überstieg ihre Kräfte.

»Ich muss!«, schrie er in dem Bewusstsein, dass es das Einzige war, was er versuchen konnte.

Schimmernde Tränen liefen über Dennas wunderschönes, strah lendes Gesicht. »Wenn du das tust, kann ich dich nicht mehr beschützen!«

»Was, meinst du, wird aus mir, wenn ich es nicht tue?« Ein trauriges Lächeln ging über ihr Gesicht. »Dann wirst du hier sterben.«

»Was habe ich also für eine Wahl?«

Sie begann davonzuschweben, hielt ihn nur noch an einer Hand.

»Keine«, sagte ihre seidige Stimme in seinem Verstand. »Aber wenn du es tust, kann ich dir nicht mehr zur Seite stehen.«

Sich windend vor Schmerzen, während die Bestie ihn immer enger umschloss, brachte Richard ein Nicken zuwege. »Das weiß ich, Denna. Ich danke dir für alles. Es war ein wahres Geschenk.«

Ihr trauriges Lächeln hellte sich auf, während sie immer weiter davontrieb. »Auch für mich, Richard. Ich liebe dich.«

Und dann war sie verschwunden.

Richard, plötzlich alleine, umgeben von unvergleichlicher Einsamkeit und Schwärze, entfesselte in einer Welt des völligen Nichts, in einer Welt, in der sie nicht existieren konnte, additive Magie und jagte sie in die Bestie.

In diesem Augenblick, als das Additive im Herzen des Nichts eine Erschütterung hervorrief, löste sich die Bestie auf - unfähig, dem unvereinbaren Aufeinanderprallen von Sein und Nichtsein, von der Welt des Lebens und des Todes standzuhalten und, gezwungen, ohne den Schutz irgendwelcher Puffer, ein Element des Additiven in der subtraktiven Welt in sich aufzunehmen, und zerfiel in beiden Welten. Gleichzeitig verspürte Richard von allen Seiten gleichzeitig einen gewaltigen Stoß.

Plötzlich fühlte er Boden unter seinen Füßen.

Nicht in der Lage, sich auf den Beinen zu halten, brach er zusammen – inmitten von Totenschädeln.

Nackte, mit wilden Mustern bemalte Männer saßen im Kreis um ihn herum.

Zitternd vor Schreck und Schmerzen, fühlte er plötzlich tröstende, beschwichtigende Hände auf seinem Körper und vernahm von allen Seiten unverständliche Worte.

Doch schließlich schälten sich Gesichter heraus, die er wieder erkannte. Er erblickte seinen Freund Savidlin, und am Scheitelpunkt des Kreises den Vogelmann.

»Willkommen zurück in der Welt des Lebens, Richard mit dem Zorn«, begrüßte ihn eine wohlvertraute Stimme. Chandalen.

Immer noch nach Atem ringend, versuchte Richard mit zusammengekniffenen Augen die ihm entgegenblickenden Gesichter zu erkennen. Sie alle waren mit wilden Mustern aus weißem und schwarzem Schlamm bemalt, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er die Symbole verstand. Als er diese Menschen bei seinem ersten Besuch gebeten hatte, eine Versammlung abzuhalten, waren sie ihm noch wie zufällige Muster aus weißem und schwarzem Schlamm erschienen, doch auf einmal wusste er, dass dies nicht stimmte. Sie bedeuteten etwas.

»Wo bin ich?«

»Du bist im Seelenhaus«, erklärte Chandalen mit seiner tiefen, stets ein wenig barsch klingenden Stimme.

Die Männer rings um ihn her, die sich alle derselben Sprache bedienten, waren die Ältesten der Schlammmenschen, und dies war eine Versammlung.

Richard sah sich im Seelenhaus um. In diesem Dorf waren er und Kahlan getraut worden, hier hatten sie ihre erste Nacht als Mann und Frau verbracht.

Die Männer halfen ihm auf die Beine.

»Aber was tue ich hier?«, wandte er sich an Chandalen, unsicher, ob er träumte oder ... tot war.

Der wandte sich herum zum Vogelmann und wechselte ein paar Worte mit ihm. Dann wandte sich Chandalen wieder zu ihm herum.

»Wir dachten, das wüsstest du und könntest es uns erklären. Wir wurden gebeten, für dich eine Versammlung abzuhalten. Man sagte uns, es wäre eine Angelegenheit auf Leben und Tod.«

Die Stirn in tiefen Falten, stieg Richard behutsam über die Ansammlung von Ahnenschädeln hinweg. »Wer hat euch gebeten, die Versammlung abzuhalten?«

Chandalen räusperte sich unsicher. »Nun, zuerst dachten wir, es handele sich um eine Seele.«

»Eine Seele«, wiederholte Richard mit starrem Blick. Chandalen nickte. »Doch dann dämmerte uns, dass es ein Fremdling sein musste.«

Richard neigte den Kopf in seine Richtung. »Ein Fremdling?«

»Sie kam auf einer Bestie angeflogen, un-« Er unterbrach sich, als er Richards Gesichtsausdruck bemerkte. »Komm mit, sie sollen es dir selbst erklären.«

»Sie?«

»Ja, die Fremdlinge. Komm.« »Ich bin nackt.«

Chandalen nickte. »Wir wussten, dass du kommen würdest, und haben dir Kleider mitgebracht. Komm, sie sind gleich hier draußen, dort kannst du mit den Fremdlingen sprechen. Sie können es kaum erwarten, dich zu sehen. Sie hatten schon befürchtet, du würdest nicht mehr kommen. Wir harren hier drinnen nun schon seit zwei Nächten aus.«

Richard überlegte, ob es Nicci sein konnte, und vielleicht Nathan. Wer außer ihr besäße das nötige Wissen dafür?

»Seit zwei Nächten ...«, murmelte Richard, während er in einem Pulk zur Tür hinausgeschoben wurde und die Ältesten ihn berührten, ihm auf die Schulter klopften und ihn schnatternd begrüßten. Trotz der unvorhergesehenen Umstände freuten sie sich, ihn wiederzusehen, schließlich war er einer von ihnen, aus dem Volk der Schlammmenschen. Draußen war es dunkel. Richard fiel sofort auf, wie schmal die Mondsichel war. Helfer warteten mit Kleidungsstücken für die Ältesten, und einer von ihnen reichte Richard eine Fellhose sowie ein ebensolches Hemd zum Überstreifen.

Nachdem Richard sich angezogen hatte, geleitete ihn die Gruppe über die schmalen Fußwege zwischen den Gebäuden hindurch, die ihm alle noch bestens in Erinnerung waren. Er fühlte sich, als wäre er in einem längst vergangenen Leben wiedererwacht.

Er konnte es kaum erwarten, Nicci wiederzusehen und herauszufinden, was passiert war, wie sie ihm hatte zur Flucht verhelfen können. Vermutlich hatte der Prophet geahnt, welchen Schwierigkeiten er sich gegenübersehen würde, und hatte sich irgendeine Möglichkeit überlegt, wie er ihm helfen konnte, in die Welt des Lebens zurückzukehren. Er war voller Ungeduld, ihr von seinem Erfolg in der Unterwelt zu erzählen. Der Vogelmann legte ihm einen Arm um die Schultern und redete mit unverständlichen Worten auf ihn ein.

An seiner Stelle antwortete ihm Chandalen, der sich anschließend an Richard wandte. »Der Vogelmann sagt, du sollst wissen, dass er bei Versammlungen schon mit vielen Ahnen gesprochen hat, aber dass er sein ganzes Leben noch niemanden aus unserem Volk aus der Seelenwelt hat zurückkehren sehen.«

Richard warf dem lächelnden Vogelmann einen Blick zu.

»Für mich ist es auch das erste Mal«, versicherte er Chandalen. In der freien Dorfmitte brannten große Feuer, deren Schein die Teilnehmer eines Festmahls beleuchtete. Kinder sprangen zwischen den Beinen der Erwachsenen umher und genossen die Feierlichkeiten. Die Menschen hatten sich auf und rings um die erhöhten Podeste versammelt.

»Richard!«, rief ein kleines Mädchen.

Als er sich umdrehte, sah er Rachel von einem der Podeste herunterspringen und auf ihn zugelaufen kommen, bis sie ihm schließlich die Arme um die Hüften schlang. Sie schien einen Kopf größer zu sein als bei ihrer letzten Begegnung. Während er ihre Umarmung erwiderte, konnte er nicht anders, als vor Freude über das Wiedersehen mit ihr zu lachen. Als er aufblickte, stand da auch noch Chase. Chase, der die größten unter den Schlammmenschen klein wie Kinder wirken ließ.

»Chase, was tust du denn hier?«

Der verschränkte die Arme und wirkte unglücklich. »Es ist einfach unglaublich. Du wirst es nicht glauben, wenn ich es dir erzähle.«

Richard sah ihn an. »Ich bin gerade aus der Unterwelt zurückgekehrt. Ich denke, in Sachen Unglaublichkeit hast du gegen mich keine Chance.«

Chase dachte darüber nach. »Mag sein. Wie auch immer. Ich war auf der Suche nach Rachel und saß gerade in meinem Lager, als ich Besuch von meiner Mutter bekam.«

»Deiner Mutter? Aber die ist doch schon vor vielen Jahren verstorben.«

Chase machte ein Gesicht, wie um zu sagen, das wisse er ja wohl besser als Richard. »So etwas gibt einem zu denken.«

»Na ja«, sagte Richard, der zu begreifen versuchte, was hier vor sich ging. »Offensichtlich war es nicht deine Mutter. Hast du sie nicht gefragt, wer sie wirklich ist?«

Chase, die Arme noch immer verschränkt, zuckte mit den Schultern.

»Nein.« Sein Blick war in die Dunkelheit gerichtet. »Es war ein ziemlich verstörendes Erlebnis. Du hättest dabei sein sollen.«

»Kann ich mir vorstellen. Hat sie dir gesagt, warum sie dich besuchen kommt?«

»Sie erklärte mir, ich müsste so schnell wie möglich hierher kommen. Sie meinte, Rachel wäre hier, und dass du Hilfe brauchst.«

Richard war verblüfft. »Hat sie auch gesagt, was für eine Art Hilfe ich brauche?«

Chase nickte. »Pferde, schnelle Pferde.«

»Ich hatte auch Besuch von meiner Mutter«, sagte Rachel. Richard sah von dem Mädchen wieder hoch zu Chase. Der zuckte nur die Achseln, so als wollte er sagen, dafür habe er auch keine Erklärung.

»Deine Mutter? Du meinst Emma?«

»Nein, nicht meine neue Mutter. Meine richtige Mutter, die mich zur Welt gebracht hat.«

Er wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. »Und was wollte sie von dir?«

»Sie meinte, ich müsste dir helfen und hierher kommen. Sie meinte, ich müsste diesen Menschen hier erzählen, dass du in der Welt der Seelen bist, und dass sie eine Versammlung abhalten müssen, damit du eine Möglichkeit hättest, zurückzukehren.«

»Tatsächlich?« Mehr fiel Richard nicht dazu ein.

Rachel nickte. »Und dass die Zeit knapp ist und ich mich beeilen müsste. Deshalb hat sie mich von einem Gar herfliegen lassen. Sein Name war Gratch. Er war richtig nett und hat mir erzählt, wie sehr er dich liebt. Aber nachdem wir angekommen waren, meinte er, er müsse umgehend zurück nach Hause.«

Richard war sprachlos.

»Das ist jetzt ein paar Tage her«, warf Chase ein. »Seitdem haben wir auf dich gewartet. Die Schlammmenschen mussten die Versammlung vorbereiten. Ich habe dir drei schnelle Pferde mitgebracht, und etwas zu essen haben wir dir auch schon eingepackt. Es ist alles zum Aufbruch bereit.«

»Zum Aufbruch?«

Chase nickte. »So gern ich dich besuchen würde, und glaub mir, wir haben uns einiges zu erzählen ... aber ... meine Mutter meinte, du hättest es eilig, nach Tamarang zu kommen.«

»Tamarang«, wiederholte Richard. »Dorthin wollte Zedd auch.«

Aber er war nicht der einzige Grund, dorthin zu reiten. Jenes Buch, das Baraccus einst für Richard geschrieben und für ihn dort vor dreitausend Jahren versteckt hatte, befand sich ebenfalls dort. Richard hatte es gefunden, war dann aber von Sechs gefangen genommen worden. Das Buch, Die Geheimnisse der Kraft eines Kriegszauberers, lag verborgen in einer gemauerten Zelle in Tamarang.

Jetzt brauchte er dieses Buch dringender denn je, denn Baraccus hatte ihm damit bereits eine unschätzbare Hilfe in die Hand gegeben. Sollte er tatsächlich die Kästchen der Ordnung öffnen, könnte es ihm möglicherweise alle notwendigen Hinweise liefern.

»Tamarang«, wiederholte er nachdenklich. »Dort herrschte ein Bann, der mich von meiner Gabe abgeschnitten hat.«

Rachel nickte. »Das hab ich wieder in Ordnung gebracht.«

Richard starrte sie an. »Du hast was?«

Chase warf Richard einen Blick zu. »Wie ich schon sagte, es gibt einiges, worüber wir uns unterhalten müssen, aber jetzt ist kaum der rechte Augenblick dafür. Wie ich höre, hast du es sehr eilig, weil du nur bis zum Neumond Zeit hast.«

Als sein Blick kurz zur dünnen Mondsichel hinüberwanderte, beschlich ihn ein Gefühl, als zöge die Angst ihn in die Tiefe. »Bis zum Neumond werde ich es nicht zurück bis in den Palast des Volkes schaffen. Es ist zu weit.«

»Dahin wirst du auch gar nicht reiten, du reitest nach Tamarang.«

Richard packte Chase am Arm. »Bring mich zu den Pferden. Meine Zeit wird knapp.«

Chase nickte. »Das hat meine Mutter auch gemeint.«

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