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Aufwinde schlugen Richard entgegen, als er auf der schmalen, vom Palast des Volkes an der Seitenwand der Hochebene hinabführenden Straße stand. Nathan, links neben ihm, beugte sich über den Rand, um einen Blick in den jähen Abgrund zu werfen. Selbst in Augenblicken wie diesen war der Prophet noch von einer geradezu kindlichen Neugier besessen – auch wenn es die eines tausendjährigen Kindes war. Vermutlich, überlegte Richard, blieb so etwas nicht aus, wenn man sein ganzes Leben als Gefangener gehalten worden war.

Nicci, rechts von ihm, war eher schweigsam. Er konnte nicht sagen, dass er ihr einen Vorwurf daraus machte. Verna und Cara warteten hinter ihm, beide sichtlich in der Gemütsverfassung, irgendjemanden über den Klippenrand zu stoßen. Doch dem äußeren Anschein zum Trotz war es wohl eher Nathan, der in einer solchen Stimmung war. Seit er von der Ermordung Anns erfahren hatte, kochte er innerlich, ein stummer Zorn, den Richard nur zu gut verstehen konnte.

Zahnräder quietschten, und der schwere Widerhaken ratterte, als die Gardesoldaten an der schwergängigen Kurbel zum Herunterlassen der Brücke drehten. Während sich die schweren Balken und Planken allmählich senkten, konnte Richard endlich auch das Gesicht des einzelnen Soldaten erkennen, der auf der gegenüberliegenden Seite wartete. Als Erstes erblickte er seine dunklen Augen, die ihn über den Schlund hinweg anstarrten.

Der junge Mann, groß und kräftig, mit mächtiger Brust und Armen, hatte gerade erst das beste Mannesalter erreicht. Fettige Haarsträhnen hingen bis auf seine kräftigen Schultern. Er schien sein Leben lang noch kein Bad genommen zu haben. Richard konnte ihn über den Schlund hinweg riechen.

Uber das Reisebuch, das Verna noch immer mit sich führte, hatte der Kaiser Verbindung zu ihnen aufgenommen. Dessen Gegenstück hatte Ann viele Jahre lang bei sich getragen, doch nun befand es sich in Schwester Ulicias und somit in Jagangs Besitz.

Verna war von der Kontaktaufnahme vollkommen überrascht worden, Richard dagegen nicht im Mindesten. Er hatte damit gerechnet. Tatsächlich hatte er sie sogar aufgefordert, in ihrem Reisebuch nachzusehen.

Jagang hatte um eine Zusammenkunft gebeten und sie wissen lassen, er werde alleine kommen - seiner Sicherheit wegen allerdings im Verstand eines seiner Männer. Richard dagegen durfte mitbringen, wen immer er wollte und so viele er wollte, sogar eine ganze Armee. Das Leben des Soldaten scherte Jagang wenig, nach seinem Bekunden wäre es ihm sogar egal, wenn sie beschließen sollten, ihn zu töten.

Aus eigener Erfahrung wusste Richard, dass es unmöglich war, des Traumwandlers habhaft zu werden, wenn er sich im Verstand eines anderen befand. Selbst nach der Berührung durch Kahlans Konfessorinnenkraft hatte er sich der Gefahr noch mühelos entziehen können. Also gab er sich trotz all der mit der Gabe Gesegneten in seiner Begleitung keinen Illusionen hin, dass jemand von ihnen imstande wäre, ihn zu ergreifen.

Der Soldat selbst war selbstverständlich bereits tot. Doch soweit es Jagang betraf, war dies nichts weiter als das Opfer, das er für die Sache bringen musste.

Nein, die Personen in seiner Begleitung waren aus ganz anderen Gründen mitgekommen.

Zu guter Letzt senkte sich die Zugbrücke mit dumpfem Aufprall an ihren Platz. Richard hatte der Brückenbesatzung sowie den dortigen Gardisten bereits seine Instruktionen gegeben, so dass sie sich nach Herunterlassen der Brücke auf sein Handzeichen hin die Straße hinauf zurückzuziehen begannen.

Kaum waren sie außer Hörweite, betrat Richard die Zugbrücke. Seine Begleiter mussten sich beeilen, um dicht hinter ihm zu bleiben. Der Mann am anderen Ende wartete einen Moment, ehe er, die Daumen lässig in den Waffengurt gehakt, ganz gemächlich bis zur Brückenmitte vortrat und dort in arroganter Körperhaltung stehen blieb. Als sie einander gegenüberstanden, waren die dunklen Augen des Mannes - Jagangs finsterer Blick - auf Nicci gerichtet. Trotz der offenkundigen Verärgerung seines durch seine Augen blickenden Herrn, machte der junge Kerl kein Hehl aus seiner Lust auf das, was ihm geboten wurde. Ohne die anderen auch nur zu beachten, konzentrierte er sich ganz auf die vor ihm stehende blonde Frau in dem freizügigen schwarzen Kleid. Der Ausschnitt über dem Leibchen ge währte einen ausgiebigen Einblick, an dem sich der junge Bursche überaus interessiert zeigte.

»Was wollt Ihr?«, fragte Richard in absolut nüchternem Ton. Die Augen des jungen Kerls - Jagangs - richteten sich kurz auf Richard, ehe sie wieder zu Nicci hinüberschwenkten.

»Nun, Schätzchen«, sagte die tiefe Stimme, »wie ich sehe, ist es dir abermals gelungen, mich zu betrügen.«

Nicci betrachtete ihn lediglich mit vollkommen gleichgültiger Miene.

»Ihr habt gesagt, Ihr wolltet mich treffen.« Richard war bemüht, ruhig zu bleiben. »Was ist Euch so wichtig?«

Der herablassende Blick schwenkte zu Richard. »Nicht mir, Junge. Dir.«

Richard zuckte die Achseln. »Also gut, dann eben mir.« »Liegt dir eigentlich etwas an all den Menschen dort hinter deinem Rücken?«

»Das wisst Ihr nur zu gut.« Richard seufzte. »Worum geht es?«

»Nun, ich werde dir Gelegenheit geben, es zu beweisen. Hör genau zu, denn ich bin nicht in der Stimmung, Beleidigungen auszutauschen.«

Richard hätte den jungen Burschen - Jagang - am liebsten nach seinen Schlafstörungen gefragt, widerstand aber dem Drang nach einer sarkastischen Bemerkung. Sie hatten sich schließlich aus einem ganz bestimmten Grund hier getroffen.

»Nennt mir also Euer Angebot.«

Ein wenig stockend, hob der junge Soldat einen Arm, um, wie Richard dachte, auf den Palast hinter ihnen zu deuten. »Dort oben gibt es viele tausend Menschen, die ihres Schicksals harren. Und dieses Schicksal liegt nun ganz in deiner Hand.«

»Deswegen nennen sie mich Lord Rahl.«

»Also schön, Lord Rahl, während du ganz auf dich allein gestellt bist, stehe ich für die gesammelte Weisheit der Menschen des Ordens.«

»Die gesammelte Weisheit?« Richard musste sich abermals zusammenreißen, um keine bissige Bemerkung fallen zu lassen.

»Gesammelte Weisheit ist es, was unserem Volk Führung gibt. Weil wir so zahlreich sind, sind wir weiser als die Wenigen.«

Richard senkte den Blick, während er an einem Fingernagel pulte. »Nun, ich bin schon gegen die gesammelte Weisheit Eurer Ja’La-Mannschaft angetreten und habe sie nach Strich und Faden besiegt.«

Der Mann zögerte. »Das warst du?«

Richard nickte. »Wie lautet nun Euer Angebot?«

»Wenn wir dort hineingelangen - und das werden wir -, werden Männer wie mein junger Krieger, der Stolz der Alten Welt, die aufgebrochen sind, die Heiden aus der Neuen Welt zu vernichten, dort oben völlig freie Hand erhalten. Ich überlasse es deiner Phantasie, was sie mit den Menschen im Palast machen werden.«

»Mir ist längst bekannt, wie der Stolz des Ordens mit Unschuldigen verfährt. Ich habe die Folgen ihrer gesammelten Weisheit bereits zu Gesicht bekommen, dafür muss ich nicht meine Phantasie bemühen.«

»Nun, wenn du eine Wiederholung dessen wünschst, nur zehnmal schlimmer, weil dein starrköpfiger Trotz sie zwingt, sich selbst Einlass zu verschaffen und sie das wütend macht, brauchst du nur die Hände in den Schoß zu legen. Sie werden kommen, sie werden in den Palast eindringen und sich für all das rächen, was du den Menschen in ihrer Heimat angetan hast.«

»Das alles ist mir längst bekannt«, erwiderte Richard. »Schließlich ist es ziemlich offensichtlich.«

»Möchtest du deinem Volk dieses Leid nicht ersparen?«

»Das wisst Ihr doch.«

Der Mann straffte sich und setzte Jagangs Lächeln auf. »Weißt du auch, dass ich deine Schwester Jennsen in meiner Gewalt habe?«

Überrascht kniff Richard die Augen zusammen. »Was?«

»Jennsen befindet sich in meiner Gewalt. Eigentlich ist sie recht hübsch anzusehen. Man brachte sie, nachdem wir dem Verstorbenen mit einem Besuch auf einem Friedhof in Bandakar unsere Ehrerbietung erwiesen hatten.«

Richard konnte dem, was Jagang da redete, nicht mehr ganz folgen.

»Welchem Verstorbenen?«

»Nun, Nathan Rahl, selbstverständlich.«

Richard schloss die Augen, während er sich den Grabstein in Erinnerung rief. »Bei den Gütigen Seelen«, sagte er mit kaum hörbarer Stimme bei sich.

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