39

Verna faltete die Hände locker vor dem Körper und stieß, als sie sah, wie Cara ihre Hände in die rotgewandeten Hüften stemmte, einen stillen Seufzer aus. Die Schar in weiße Gewänder gehüllter Männer und Frauen schob sich noch immer füßescharrend durch die Halle, inspizierte die weißen Marmorwände, tastete sie mit den Fingern ab, und blieb ab und an stehen, um eine Stelle genauer in Augenschein zu nehmen, so als suchten sie nach einer Botschaft aus dem Totenreich. »Nun?«, fragte Cara.

Dario Daraya, ein älterer Mann, legte sachte einen Finger an die Lippen. Eine Weile beobachtete er mit nachdenklich gerunzelter Stirn die Schar von Personen, deren Köpfe, wie Korken auf einem Fluss, sich in stetem Auf und Ab durch den Flur schoben, dann wandte er sich herum zu der Mord-Sith. Er strich mit den Fingern über den blauen Seidensaum an der Vorderseite seines frisch gestärkten, weißen Gewandes und sah Cara mit leicht schiefer Miene fragend an. Dabei kratzte er sich den weißen, seinen kahlen Schädel krönenden Haarkranz.

»Ich bin nicht sicher, Herrin.«

»Nicht sicher in Bezug auf was? Dass ich recht habe, oder wie sie darüber denken?«

»Nein, nein, Herrin Cara. Ich bin ganz Eurer Meinung. Irgendetwas stimmt hier unten nicht.«

Verna trat vor. »Du bist derselben Meinung wie sie?«

Er nickte ernst. »Nur bin ich nicht sicher, was es sein könnte.«

»So als wäre irgendetwas nicht an seinem Platz?«, schlug Cara vor. Er ließ den erhobenen Finger kreisen. »Ja, ich denke, etwas in der Art. Ganz so wie in einem dieser Träume, wo man sich in einem Gebäude verläuft, weil die Räume alle vertauscht sind und nicht da, wo sie hingehören.«

Mit gedankenverlorenem Nicken beobachtete Cara die Grabkammerbediensteten, die sich ganz nah an der gegenüberliegenden Wand entlangschoben. Schließlich zogen sie im Flur weiter. Immer wieder hoben sie die Köpfe, um an den Wänden nach oben zu blicken. Verna fühlte sich ein wenig an durch ein Dickicht stöbernde Jagdhunde erinnert.

»Du bist der Leiter des Personals hier unten«, meinte Verna zu ihm.

»Würde dir nicht auffallen, wenn etwas nicht an seinem Platz wäre? Wie war es früher hier?«

»Nun, letztendlich sind die Grabkammerbediensteten dem Lord Rahl unterstellt und nehmen sich seiner ganz speziellen Bedürfnisse an, sofern er welche hat. Schließlich handelt es sich bei den hier unten Beigesetzten um seine Ahnen.

Noch zu Darken Rahls Lebzeiten war es üblich, dass sich die Bediensteten in erster Linie um seine Wünsche, das Grab seines Vaters betreffend, kümmerten. Er war es auch, der das Herausschneiden ihrer Zungen angeordnet hat, weil er befürchtete, sie könnten, wenn sie hier unten unter sich sind, schlecht über seinen Vater sprechen.«

»Und wenn schon. Wem wäre dadurch schon geschadet?«

Der Mann zuckte die Achseln. »Tut mir leid, aber ich hatte nie die Absicht, ihn danach zu fragen. Zu seinen Lebzeiten ersetzte ein niemals abreißender Strom neuer Bediensteter diejenigen, die aus den unterschiedlichsten Gründen hingerichtet worden waren. Es war der Gesundheit überaus abträglich, auch nur in seine Nähe zu geraten, und nicht selten wurden die Grabkammerbediensteten zum Ziel seiner Wutausbrüche. Von Zeit zu Zeit wurden neue Bediensteten rekrutiert und in den Dienst gezwungen.

Mir hat Darken Rahl meine Zunge nur deswegen gelassen, weil meine Aufgaben mich nicht oft nach hier unten führten. Ich hatte die Oberaufsicht über die Bediensteten, musste mich mit anderen Bediensteten des Palasts abstimmen, weshalb ich imstande sein musste, mit den Leuten zu sprechen. Die übrigen Bediensteten hatten in Darken Rahls Augen ohnehin nichts Lohnenswertes zu sagen, weshalb sie auf ihre Zunge verzichten konnten.«

»Wie verständigst du dich mit ihnen?«, fragte Cara. Wieder legte Dario den Finger an die Lippen, während er zu seinen Leuten hinübersah, die sich weiter durch die Halle arbeiteten. »Nun, genau so, wie man es sich vorstellen würde. Sie benutzen Zeichensprache, grunzen oder nicken, um ihr Anliegen verständlich zu machen. Ihr Gehör haben sie natürlich behalten, weshalb ich für die Verständigung mit ihnen keine Zeichensprache benötige.

Sie teilen sich dieselben Wohnquartiere und arbeiten auch zusammen, deswegen bleiben sie fast immer unter sich. Aus diesem Grund sind sie auch in der von ihnen selbst entwickelten Zeichensprache recht geübt. Mir ist sie nicht ganz so geläufig, trotzdem kann ich sie meist recht gut verstehen; gut genug, um zurechtzukommen, jedenfalls. Die meisten von ihnen sind recht intelligent, auch wenn viele sie wegen ihrer Stummheit für geistig minderbemittelt halten. In vieler Hinsicht sind sie über die Geschehnisse im Palast besser unterrichtet als die meisten anderen Bediensteten. Den meisten ist zwar bekannt, dass sie stumm sind, sie bedenken aber nicht, dass sie vollkommen normal hören können. Oft sind sie lange vor mir über die Geschehnisse im Palast unterrichtet.«

Verna fand die Entdeckung ihrer sehr beschränkten Welt hier unten in den Grabkammern bemerkenswert, wenn auch etwas befremdlich. »Und hier unten? Was glauben sie, spielt sich hier unten ab?«

Einen besorgten Ausdruck im Gesicht, schüttelte Dario den Kopf.

»Bislang haben sie mich noch auf nichts aufmerksam gemacht.«

»Und wieso nicht?«, wollte Cara wissen.

»Wahrscheinlich, weil sie sich fürchten. In der Vergangenheit wur den sie oft wegen der unbedeutendsten Kleinigkeiten hingerichtet. Diese Hinrichtungen entbehrten in der Regel jeglicher Begründung. Daher haben sie gelernt, dass man, wenn man überleben will, am besten vollkommen unauffällig bleibt und sich so unsichtbar wie möglich macht. Das Ansprechen von Problemen war jedenfalls alles andere als eine Garantie für ein langes Leben.

Bis heute scheuten sie sogar davor zurück, mich mit gewissen Dingen zu behelligen. Es gab hier mal eine undichte Stelle, wo sich ein Fleck an der Wand gebildet hatte. Es wurde nie ein Wort darüber verloren, wahrscheinlich, weil sie befürchteten, für diese Verschandelung der Grabstätten der Vorfahren des Lord Rahl hingerichtet zu werden. Ich kam erst dahinter, als ich sie eines Abends in ihren Unterkünften aufsuchen wollte und sie dort nicht antraf. Gefunden habe ich sie schließlich hier, wo sie alle fieberhaft am Beseitigen des Flecks arbeiteten, ehe jemand anderes ihn bemerkte.«

»Wie kann man nur ein solches Leben führen«, murmelte Cara.

»Was tun sie da eigentlich?«, fragte Verna, als sie mehrere Bedienstete mit der Hand über die Wand streichen sah, so als wollten sie etwas in dem makellos glatten weißen Marmor ertasten.

»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Dario. »Fragen wir sie doch.«

Ein Stück weiter hinten im Flur wartete ein Trupp der Ersten Rotte. Einige von ihnen hatten ihre Armbrüste mit den speziellen, rotbefiederten Pfeilen bestückt, die Nathan für sie gefunden hatte. Verna hielt sich nur äußerst ungern in der Nähe dieser scheußlichen Dinger auf, deren todbringende Magie ihr Schweißausbrüche bereitete. Die Gruppe der Grabkammerbediensteten, Männer wie Frauen, hatte sich zu einer Traube zusammengefunden, um die Wände sowie jede Einmündung auf der Strecke zu untersuchen. Sie befanden sich nun schon den größten Teil des Tages hier unten, auf den verschiedenen Ebenen der Grabkammergewölbe, und Verna wurde langsam müde. Unter normalen Umständen wäre sie um diese Zeit längst im Bett, und dort wäre sie auch jetzt am liebsten. Soweit es sie betraf, konnte diese ebenso übertrieben sorgfältige wie völlig gegenstandslose Untersuchung bis zum nächsten Tag warten.

Cara dagegen wirkte alles andere als müde, sie wirkte entschlossen. Sie hatte sich in dieses »Problem unten in den Grabkammern«

verbissen und war unter keinen Umständen bereit, davon abzulassen. Verna hätte ihr die Angelegenheit nur zu gerne überlassen, doch als sie Dario Daraya aufgesucht hatten, um ihn zu befragen, hatte er ihr Ansinnen nicht, wie Verna erwartet hatte, als unsinnig abgetan, sondern sich über die Frage durchaus beunruhigt gezeigt. Wie sich herausstellte, teilte er Caras beklemmenden Verdacht, hatte sich aber noch niemandem anvertraut. Den beiden erzählte er, er vermute stark, dass auch die Bediensteten sich gewisser Ungereimtheiten bewusst seien. In der gewaltigen Schar der Palastbedienten galten die Grabkammerbediensteten, wie Verna gehört hatte, als die Untersten der Unteren. Wer mit der Verantwortung für bestimmte wichtige Teile des Palasts betraut war, tat die Arbeit unten in den Kammern als primitiven, niederen Dienst für Stumme ab. Aber auch sonst wurden diese Leute gemieden, denn sie fristeten ihr Dasein mit einer Arbeit in Gegenwart von Toten, was ihnen den unsichtbaren Makel eingetragen hatte, abergläubisch zu sein.

Nach Darios Worten hatte sie das zu scheuen und zurückgezogenen Menschen gemacht, die es vermieden, in den Gemeinschaftsbereichen zusammen mit anderen Angehörigen des Palastpersonals zu essen. Sie blieben unter sich und vertrauten sich niemandem an. Verna schaute ihnen zu, wie sie sich ein Stück weiter hinten im Flur lautlos in ihrer seltsamen Zeichensprache unterhielten. Da es ihre eigene Entwicklung war, vermochte niemand sie zu verstehen, mit Ausnahme Dario Darayas vielleicht. Sie hatte Cara gewarnt. Wenn sie wirklich Antworten wollte, musste sie sich im Hintergrund halten und dies Dario überlassen.

Jetzt beobachtete sie, wie Dario mitten unter ihnen stand und mit ruhiger Stimme Fragen stellte. An bestimmten Stellen wurden die Leute um ihn herum sichtlich aufgeregt, zeigten mal hierhin mal dorthin und machten ihm Zeichen. Dario nickte gelegentlich und fuhr behutsam mit seiner Befragung fort, worauf einige der Grabkammerbediensteten ihn wieder mit ihrer stummen Sprache bestürmten.

Schließlich kam er zurück. »Sie sagen, in diesem Flur sei alles in Ordnung. Hier ist alles bestens.«

Mit zusammengebissenen Zähnen bemerkte Cara: »Also, wenn sie nich-«

»Aber«, fiel Dario ihr ins Wort, »in dem Gang dort drüben« - er wies nach rechts vorne - »stimmt angeblich etwas nicht.«

Einen Moment lang musterte Cara das Gesicht des Mannes. »Gut, gehen wir und sehen es uns an.«

Ehe Verna sie zurückhalten konnte, begab sich Cara entschlossenen Schritts zu der aus etwa anderthalb Dutzend Personen bestehenden Gruppe. Mehrere von ihnen schienen vor Angst fast in Ohnmacht zu fallen, als sie, ängstlich besorgt, was ihnen jetzt wohl blühte, erschrocken zurückwichen.

»Dario sagt, eurer Meinung nach stimmt in dem Gang dort vorne etwas nicht.« Sie wies auf die Einmündung weiter vorn. »Der Ansicht bin ich auch, deswegen habe ich euch alle hergebeten, damit ihr mir erklärt, wie ihr darüber denkt. Ich weiß, dass ihr euch hier besser auskennt als jeder andere.«

Ihre Bitte schien ihnen unangenehm zu sein.

Cara ließ den Blick über die ihr entgegenblickenden Gesichter schweifen.

»Als ich noch ein kleines Mädchen war, ist Darken Rahl zu mir nach Hause gekommen und hat meine Familie gefangen genommen. Er quälte meine Eltern zu Tode, sperrte mich für Jahre hinter Gitter und folterte mich, um mich zu einer Mord-Sith zu machen.«

Sie drehte sich ein Stück zur Seite und schob das rote Leder an ihrer Hüfte ein wenig nach oben, um ihnen ihre lange Narbe quer über Taille und Rücken zu zeigen. »Das hier hat er mir angetan. Seht ihr?«

Alle beugten sich vor, um die Narbe zu begutachten. Ein Mann streckte sogar die Hand aus, um sie zögernd zu berühren. Cara wandte sich zu ihm herum und ließ ihn gewähren, ergriff dann die Hand einer Frau und führte ihren Finger der Länge nach über die knotig verheilte Narbe.

»Seht her.« Sie schob ihren Ärmel hoch und zeigte ihnen ihre Handgelenke. »Die habe ich von den Handschellen zurückbehalten, nachdem er mich aufgehängt und mit Ketten an der Decke befestigt hatte.«

Interessiert beugten sich die Leute vor. Einige von ihnen berührten vorsichtig die Narben an ihren Handgelenken.

»Euch hat er ebenfalls sehr wehgetan, hab ich recht?« Die Antwort kannte Cara bereits, sie hatte die Frage aber trotzdem stellen wollen. Als alle nickten, forderte sie sie auf, es ihr zu zeigen. Alle öffneten den Mund - weit genug, so dass sie sehen konnte, dass man ihnen die Zunge herausgeschnitten hatte. Nickend blickte Cara jedem in den Mund. Einige verdrehten sogar leicht den Kopf und nahmen die Finger zu Hilfe, um sicherzugehen, dass sie ihre Narben auch wirklich sah. Sorgfältig nahm Cara jeden Einzelnen in Augenschein, bis sie sie von ihrem Interesse überzeugt hatte.

Schließlich erklärte sie: »Ich bin froh, dass Darken Rahl nicht mehr lebt. Es erfüllt mich mit Schmerz, was er euch angetan hat. Ihr alle habt sehr gelitten, das verstehe ich. Ich auch. Aber nun kann er uns nichts mehr tun.«

Schweigend hörten sie zu, während sie fortfuhr. »Sein Sohn, Richard Rahl, kommt überhaupt nicht nach seinem Vater. Er würde mir niemals etwas antun. Tatsächlich hat er, als ich schwer verletzt im Sterben lag, sein Leben riskiert, um mich mit seiner Magie zu retten. Könnt ihr euch das vorstellen?

Auch euch würde er niemals etwas antun. Er möchte, dass alle Menschen eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Mir hat er sogar angeboten, ich könnte jederzeit meinen Dienst für ihn aufkündigen, er wünsche mir alles Gute. Ich weiß, dass er die Wahrheit sagt. Ich bin nur geblieben, weil ich zur Abwechslung mal einem guten Mann helfen wollte, statt die Sklavin eines Widerlings zu sein. Ich habe ihn den Tod von Mord-Sith beweinen sehen.« Sie tippte sich über ihrem Herzen mit dem Finger an die Brust. »Begreift ihr, was das für mich hier drinnen bedeutet?

Meiner Meinung nach schwebt Richard Rahl in großer Gefahr. Ich möchte ihm und den an seiner Seite Kämpfenden gegen diese Leute helfen, die anderen nichts als Leid zufügen. Wir möchten euer Leben vor den Horden dort draußen in der Azrith-Ebene beschützen, die euch nur wiederum demütigen und versklaven wollen.«

Mit tränenfeuchten Augen lauschten die Leute ihrer Geschichte, einer Geschichte, die sie wie niemand sonst nachvollziehen konnten.

»Werdet ihr mir dabei helfen. Bitte?«

Verna konnte nur zu gut ermessen, wie tief empfunden Caras Worte waren. Sie schämte sich ein wenig, dass sie Cara niemals die Fähigkeit zu Freundlichkeit und Verständnis zugestanden, sie ihr unerschütterliches Eintreten für Richard stets nur dem aggressiven Wesen einer Mord-Sith zugeschrieben hatte. Dabei war es viel mehr. Es zollte von höchster Anerkennung. Richard hatte sehr viel mehr getan, als nur ihr Leben gerettet, er hatte ihr beigebracht, ihr Leben zu leben. Verna fragte sich, ob sie es als Prälatin jemals so weit bringen würde. Zwei der Frauen, an jeder Seite eine, nahmen Cara an die Hand und führten sie ein Stück weiter in den Flur hinein. Verna wechselte einen Blick mit Dario, der eine Braue hob, so als wollte er sagen, nun habe er alles gesehen.

Die beiden folgten der füßescharrenden Menschentraube, die Cara offenbar wie eine Gönnerin bei sich aufgenommen hatte. Nicht wenige streckten die Hand aus, um sie zu berühren, um über das rote Leder zu streichen oder ihr eine Hand auf den Rücken zu legen, so als wollten sie ihr sagen, sie verstünden, wie viele Schmerzen und Misshandlungen sie hatte erleiden müssen, und dass es ihnen leidtue, sie falsch eingeschätzt zu haben.

Kaum waren sie in den nächsten Flur eingebogen, stellte Verna plötzlich fest, dass sie die Orientierung verloren hatte. Das Grabkammergewölbe war ein verwirrendes, sich über mehrere Geschosse erstreckendes Labyrinth, außerdem sahen die meisten Flure vollkommen gleich aus. Alle wiesen die gleiche Höhe und Breite auf, waren mit dem gleichen weißen, grau geäderten Marmor ausgekleidet. Sie wusste nur, dass sie sich auf der untersten Ebene befanden, darüber hinaus jedoch verließ sie sich, was ihren genauen Standort anbetraf, vollkommen auf ihre Begleiter.

Hinter ihnen, immer auf Abstand, um nicht zu stören, folgten, stets auf der Hut und so geräuschlos wie irgend möglich, die Soldaten. Irgendwann machte die Gruppe der weiß gewandeten Bediensteten in einem Abschnitt des Flures Halt, wo es keinerlei Einmündung gab. Weiter vorn gingen ein paar Hallen zu beiden Seiten ab. Einige der Grabkammerbediensteten legten ihre Handflächen auf den weißen Marmor, strichen sachte über die Wand und sahen sich dabei zu Cara um.

»Hier?«, fragte sie.

Die Bediensteten, von denen sich die meisten um sie geschart hatten wie Küken um eine Glucke, nickten.

»Und was erscheint euch an dieser Stelle, in diesem Flur, nun so seltsam?«, wollte sie wissen.

Mehrere hielten die Hände im gleichen Abstand auseinander und machten eine Geste Richtung Wand.

Cara begriff nicht, ebenso wenig Verna. Dario kratzte sich seinen weißen Haarkranz. Selbst ihn stellte die seltsame Pantomime vor ein Rätsel. Die Bediensteten steckten einen Moment die Köpfe zusammen und diskutierten das Problem untereinander in ihrer Zeichensprache. Schließlich wandten sie sich alle wieder herum zu Cara. Drei von ihnen wiesen auf die Wand, schüttelten dann den Kopf. Anschließend wandten sich alle erneut herum, um Caras Reaktion zu sehen und ob sie verstanden hatte.

»Das Aussehen der Wand gefällt euch nicht?«, versuchte es Cara. Sie schüttelten den Kopf. Cara warf einen fragenden Blick zu Verna und Dario. Der verdrehte nur die Handflächen und zuckte die Achseln. Verna wusste ebenso wenig mit einer Erklärung aufzuwarten.

»Ich begreife noch immer nicht«, sagte Cara. »Ich weiß, eurer Ansicht nach stimmt mit dieser Wand etwas nicht« - Nicken -, »ich frage mich bloß, was.« Sie seufzte. »Tut mir leid. Es ist nicht eure Schuld, sondern mein Unvermögen. Ich kenne mich in diesen Dingen einfach nicht aus. Könntet ihr mir vielleicht auf die Sprünge helfen?«

Einer der Männer aus der Gruppe nahm Caras Hand und zog sie sachte näher zur Wand, berührte dann mit einem Finger seiner anderen Hand die Wand und sah wieder zu Cara.

»Fahr fort«, sagte sie. »Ich höre zu.«

Ihre Formulierung entlockte ihm ein Lächeln, ehe er sein Augenmerk erneut auf die Wand richtete und begann, einige der grauen Adern mit dem Finger nachzuzeichnen. Er schaute über seine Schulter. Als er ihre Stirn konzentriert in Falten gelegt sah, fuhr er fort, den grauen Wirbel nachzuzeichnen, was er mehrmals an derselben Stelle wiederholte, um sich ihrer Aufmerksamkeit zu vergewissern.

»Es sieht aus wie ein Gesicht«, stellte Cara in stillem Staunen fest. Heftiges Nicken. Alle freuten sich stumm. Eine Frau streckte die Hand vor und wiederholte die Geste, folgte mit dem Finger erst einem Schwung, dann einem Bogen, ehe sie, genau wie zuvor der Mann, an zwei Stellen in die Mitte tippte. Augen.

Jetzt zeichnete auch Cara das Gesicht in dem Gestein nach, erst den Mund, dann die Nase und schließlich die Augen.

Das weiß gewandete Grüppchen gab zufrieden klingende Grunzlaute von sich und klopfte ihr, begeistert, dass sie es geschafft hatten, ihr das Gesicht zu zeigen, auf den Rücken.

Verna hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie damit bezweckten. Dann eilte einer der Männer aus der Gruppe gestikulierend zu einer Stelle auf der gegenüberliegenden Seite etwas weiter hinten im Flur und zeichnete dort etwas in der grauen Äderung nach. Von ihrem Platz aus konnte Verna nichts erkennen, vermutete aber, dass es ein weiteres Gesicht war. Der Mann eilte zu einer anderen Stelle im Flur und zeichnete erneut mit den Fingern ein kleines, ihnen entgegenblickendes Gesicht nach, und schließlich woanders noch ein größeres. Allmählich begriff Verna. Diese Menschen hielten sich ständig hier unten auf, hatten sich die unterschiedlichen Markierungen in den zunächst völlig unterschiedslosen weißen Marmorplatten eingeprägt. Nur waren sie für sie eben nicht ununterscheidbar. Diese Zeichen waren für sie, die sie ihr ganzes Leben damit zugebracht hatten, diese Gewölbe zu hegen und zu pflegen, so etwas wie Wegmarkierungen. Sie hatten sich alle eingeprägt, ausnahmslos.

Auch Caras Gesicht war anzusehen, dass sie verstanden und ihre Besorgnis zugenommen hatte.

»Und jetzt zeigt mir noch einmal, was nicht stimmt«, forderte sie mit ernster, aber ruhiger Stimme auf.

Ganz aufgeregt, weil Cara ihnen endlich zu folgen vermochte, eilten die Bediensteten wieder zurück zu jener Stelle, wo sie ihr das erste Gesicht gezeigt hatten, und bewegten beide Hände vor und zurück, in Richtung Wand und von ihr fort.

Dann hielten sie inne, um zu sehen, ob sie verstand. Cara beobachtete sie. Einer der Männer wies auf die Wand und beschrieb einen weit dahinter liegenden Bogen, so als wollte er auf etwas weit jenseits eines in der Ferne liegenden Hügels hinweisen. Vernas Verwirrung nahm wieder zu. Cara starrte auf das sich in der Wand abzeichnende Gesicht und legte die Stirn in Falten. Auf einmal schien sie überaus besorgt. Verna tappte noch immer im Dunkeln, genau wie Dario, aber in Caras Augen blitzte so etwas wie ein erstes Verständnis auf.

Völlig unvermittelt ging sie dazu über, mehrere aus der Gruppe mit ausgebreiteten Armen zu der Stelle zurückzutreiben, wo Verna und Dario standen, andere schob sie, eine Hand in ihrem Rücken, sachte von der besorgniserregenden Wand fort und zurück durch den Flur. Unterwegs sammelte sie Verna und Dario ein und scheuchte sie vor sich her. Die übrigen stummen Grabkammerbediensteten folgten ihr dichtauf, einerseits sichtlich besorgt, dass irgendetwas Caras Besorgnis erregt hatte, aber auch ein wenig stolz auf sich selbst.

Nachdem sie am Ende des Flures um die Ecke gebogen waren, beugte sich Cara zu Verna und sagte in unmissverständlichem Befehlston: »Holt Nathan her!«

Ein kurzes Zucken ging über Vernas Stirn. »Doch nicht etwa noch heute Abend? Meint Ihr nicht, wir sollt-«

»Sofort«, fiel ihr Cara im tödlich ruhigen Tonfall absoluter Autorität ins Wort.

In ihren blauen Augen blitzte kaltes Feuer. So freundlich und verständnisvoll sie sich gegenüber dem Personal gezeigt hatte, jetzt, das wusste Verna, würde sie nicht mit sich diskutieren lassen. Sie hatte das Kommando über die Situation übernommen. Verna hatte keine Ahnung, welche Situation das sein sollte, aber sie vertraute ihr. Auf ein Fingerschnippen Caras eilte der Kommandant der ganz in der Nähe wartenden Soldaten sofort herbei und erkundigte sich nach ihren Wünschen.

»Ja, Herrin?«

»Holt General Trimack her. Sagt ihm, es sei dringend, und richtet ihm aus, er soll Soldaten mitbringen, und zwar viele. Und alarmiert die MordSith, ich möchte sie ebenfalls hier unten haben. Und bitte unverzüglich.«

Ohne eine Frage schlug sich der Mann die Faust aufs Herz und eilte von dannen.

Verna packte die Mord-Sith am Arm. »Cara, was ist denn los?« »Ich bin mir nicht sicher.«

»Wir sind im Begriff, den gesamten Palast in Alarmbereitschaft zu versetzen, Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Personen - darunter General Trimack, Nathan und die Erste Rotte - nach hier unten zu beordern, und Ihr wisst nicht einmal warum?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht wüsste warum, sondern dass ich mir nicht sicher bin. Ich glaube, wir werden hier von Gesichtern beobachtet, die uns nicht beobachten sollten.«

Cara wandte sich herum zu den ihr entgegenblickenden Mienen.

»Habe ich recht?«

Ein stummes, aufgeregtes Lächeln ging über die Gesichter der Grabkammerbediensteten, die hellauf begeistert waren, dass sie endlich jemand verstanden hatte und ihnen glaubte.

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